Vor 50 Jahren erreichte die Lehrlingsbewegung ihren Scheitelpunkt – und verlor dann ihre Anziehungskraft. Unter dem Motto „Ausbildung statt Ausbeutung“ hatte die heute nahezu vergessene Bewegung junge Menschen mobilisiert. Ein breites Bündnis, zu dem die Gewerkschaften erst zögerlich fanden.
Während die Studentenbewegung im öffentlichen Bewusstsein präsent blieb, ist das Aufbegehren der Lehrlinge und Jungarbeiter in Vergessenheit geraten.
„Lehrlinge, die vergessene Majorität“ überschrieb Wolfgang Dietrich Winterhager 1970 seine Kritik an der Berufsausbildungspolitik in der Bundesrepublik. Ohne grundlegende Reformen schadeten Qualifikationslücken Wirtschaft und Gesellschaft. Chancengleichheit und Mündigkeit für die Jugendlichen blieben Illusion. Das wussten auch die Lehrlinge. Selbst organisiert trug die Lehrlingsbewegung Missstände in die Öffentlichkeit.
Berufsausbildung: Schrubben statt Fertigkeitsvermittlung
Werkstatt fegen, Bier holen, Umkleideräume schrubben, wochenlanges Ablegen von Karteikarten statt Wissens- und Fertigkeitsvermittlung. Wer sich gegen ausbildungsfremde Aufgaben wehrt, erhielt zur Antwort „Lehrjahre sind keine Herrenjahre!“ Im Oktober 1968 formierten sich Lehrlinge verschiedener Hamburger Betriebe zu einer „Arbeitsgemeinschaft der Lehrlinge für eine bessere Berufsausbildung“, organisierten eine Demonstration, und rund 400 protestierten gegen ihre Lehrherren. Zeitgleich fanden sich Lehrlinge aus Essener Industriebetrieben zusammen, gründeten eine Arbeitsgemeinschaft und prangerten bei einer Pressekonferenz konkrete Ausbildungsmissstände in ihren Betrieben an. Aufmüpfigen Lehrlingen und ihren betrieblichen Jugendsprechern wurde gekündigt. Damals übliche Freisprechungsfeiern zum Lehrende gerieten zu Anklagen über Ausbildungsmängel. An vielen Orten entstanden selbst organisiert überbetriebliche Lehrlingsgruppen und Lehrlingszentren, bewusst abseits vom parlamentarischen Parkett und mit Skepsis gegenüber Parteien und Organisationen. Der Lehrlingsprotest traf die Gewerkschaften unvorbereitet, mit ihrer kooperativen Politikausrichtung waren sie auf gesetzgeberische Reformen fokussiert.
Die Zeit war tatsächlich reif. Die Berufsausbildung für rund 1,5 Mio. junge Menschen erfolgte nach der Gewerbeordnung aus dem Kaiserreich. Das von der Großen Koalition im Juni 1969 durch den Bundestag gebrachte Berufsbildungsgesetz (BBiG) war letztlich eine Festschreibung bisheriger Berufsbildungsstrukturen. Kein Wunder, dass die Lehrlingsbewegung dagegen Sturm lief. So sah sich SPD-Kanzlerkandidat Willy Brandt am 1. Mai 1969 in Hamburg einem Pfeifkonzert wütender Lehrlinge gegenüber.
Zögerliche Unterstützung durch die Gewerkschaften
Und beim DGB? Unstrittig war dort der Reformbedarf zur beruflichen Bildung. Die Gewerkschaftsjugend war es, die den Ball aufnahm und die Bewegung unterstützte – zumindest in den größeren Städten. In gewerkschaftlichen Führungsgremien wuchsen Bedenken wegen einiger Bündnispartner in der Lehrlingsbewegung, etwa zur DKP-nahen Sozialistischen Deutschen Arbeiterjugend (SDAJ), befürchtete man doch eine ideologische Überwölbung der Bewegung. Eine Politisierung der Lehrlinge und Jungarbeiter war angesichts der Lage der arbeitenden Jugend aber kaum vermeidbar. Auch in den Ausbildungsbetrieben selbst kam es zu internen Konflikten: Machten Jugendsprecher und Lehrlinge Missstände öffentlich, zumal wenn Akteure entlassen wurden, sahen sich Meister und Ausbilder desavouiert. Waren diese gar Betriebsräte, trugen sie den Konflikt in die Gewerkschaftsgremien.
Symptomatisch erscheint ein Konflikt zwischen DGB-Vorstand und DGB-Bundesjugendausschuss. Die Gewerkschaftsjugend wollte den Protest gegen das BBiG stärker in die Öffentlichkeit tragen als die Gewerkschaftsspitze und einen Protestmarsch nach Bonn mitorganisieren. Dagegen wandten sich die Führungsgremien, billigten aber eine Veranstaltung am 7. Juni 1969 in der Kölner Messe. Dort kam es zu Tumulten gegen das DGB-Vorstandsmitglied Maria Weber. Als CDU-Mitglied war sie mit dem Gesetzentwurf zum BBiG in Verbindung gebracht worden. Bundesjugendsekretär Franz Woschech bemühte sich um Schadensbegrenzung, doch die Distanz der Führungsgremien des DGB zur Lehrlingsbewegung blieb.
Unabhängig davon erfuhren die meisten Lehrlingsgruppen und Lehrlingszentren Unterstützung aus der Gewerkschaftsjugend. Tribunale gegen Ausbildungsmissstände, Theaterstücke über den betrieblichen Alltag, Demos und öffentlichkeitswirksame Aktionen wie das Fegen auf der Straße halten die Misere in der Berufsbildung auf der öffentlichen Agenda. Die neue sozialliberale Regierungskoalition erkannte Reformbedarf und beschloss im November 1970 ein „Aktionsprogramm Berufliche Bildung“, kündigte Modernisierungen an, aber ohne grundsätzliche Reform. Deshalb beanstandete der DGB es als unzureichend.
Lehrlingszentren: Orte praktischer Gewerkschaftsarbeit
Die Überwindung von Ausbildungsmissständen behielt der DGB im Blickfeld. Er räumte der DGB-Jugend einen höheren Stellenwert ein, gab das attraktive Jugendmagazin „ran“ heraus und organisierte 1971 das „Jahr des jungen Arbeitnehmers“. Tatsächlich bekam der DGB zwischen 1969 und 1974 einen beachtlichen Zuwachs an jungen Mitgliedern. Ein Handbuch für Lehrlinge, „Du gehörst dir und nicht den Bossen“, 1971 erschienen, zeigte Lehrlingen auf, wie sie sich gegen Missstände wehren können, sich für ihre Interessen selbst zu organisieren. Die Lehrlingszentren, eine Abkehr früherer theorielastiger Bildungsarbeitskreise, bewährten sich als Orte praktischer Gewerkschaftsarbeit.
Mit 120 Lehrlings- und Jungarbeiterzentren erreichte die Bewegung 1971/72 ihren Höhepunkt. Der selbstorganisierte Kampf gegen Ausbildungsmissstände hat in der Lehrlingsbewegung durch kollektives Lernen das politische Bewusstsein der Jugendlichen gefördert. So ist diese Bewegung in ihren fünf Jahren politisch ambitionierter geworden. Die Folgen traten auf der zweiten Bundesarbeitstagung der Lehrlingszentren im April 1972 in Frankfurt am Main zutage. Neben Kritik an Organisationsformen führte ideologisches Gezänk über Handlungsstrategien in eine Sackgasse. Noch im selben Jahr lösten sich die meisten Zentren auf. Deren Akteure wendeten sich der betrieblichen Arbeit und der gewerkschaftlichen Mitarbeit zu, wie DGB-Vorstandssekretär Klaus Mertsching in den „Quellen zur Gewerkschaftsgeschichte“ notiert.
Kleine Erfolge: Rechtliche Reformen und stärkerer Einfluss auf Betriebsräte
Verlief die Lehrlingsbewegung im Sande? Eindeutig Nein! Die Aktivitäten verlagerten sich. Das 1972 reformierte Betriebsverfassungsgesetz gab den Jugendvertretungen erstmals einen wirkungsvollen Handlungsspielraum, um Missstände aufzugreifen und zu beheben. Die Jugendvertretungen stießen die Gründung von Betriebsjugendgruppen an, stärkten ihren Einfluss auf Betriebsräte und gewerkschaftliche Vertrauensleute.
Die Berufsausbildung war zwischen 1969 und 1974 ein bildungspolitisches Schwergewicht geworden, Reformen zielten auf Modernisierung. Grundlegende Reformen wie die Überleitung der Berufsausbildung in öffentlich-rechtliche Trägerschaft, vergleichbar mit der Bundesanstalt für Arbeit, blieben aus. Hinzu kam: Die Demografie bescherte der Republik immer mehr Schulabsolventen, die auf schrumpfende Ausbildungsplatzangebote trafen. Die Jugendarbeitslosigkeit stieg stark an. Ein 1976 beschlossenes Ausbildungsplatzförderungsgesetz sollte den Mangel eingrenzen und wurde 1980 vom Bundesverfassungsgesetz wegen formaler Mängel gekippt. In den nachfolgenden Jahrzehnten blieb die Berufsbildung, abgesehen von Reformen im Detail, im bildungspolitischen Diskurs eher auf den hinteren Plätzen.
Quelle: https://gegenblende.dgb.de/ Bild: dgb.de