Linke Kritik(un)fähigkeit und patriarchaler Rollback

Von Elisabeth Voß

Ausgerechnet in der Corona-Krise, in der autoritäre Herrschaft und Profitwirtschaft deutlich sichtbar werden, scheint die gesellschaftliche Linke nichts Besseres zu tun zu haben, als sich in Grabenkämpfen genüsslich selbst zu zerlegen und die Kritik an Staat und Kapital der gesellschaftlichen Rechten zu überlassen. Die Parole „Wir impfen euch alle!“, voller Hass gegen demonstrierende Corona-Maßnahmekritiker:innen gebrüllt, ist für mich zum Symbol dieses Versagens geworden.

Im Folgenden versuche ich, zu verstehen und aus feministischer Perspektive einzuordnen, was in dieser Corona-Krise passiert ist und immer noch passiert. Nicht als umfassende Analyse, sondern mit einem subjektiven Blick, vor allem auf Aspekte der Kommunikation. Dabei spreche ich nur für mich und beanspruche keine allgemeingültige Definitionsmacht.

Wenn ich Begriffe wie „patriarchal“ oder „feministisch“ verwende, dann beziehe ich mich damit auf das Patriarchat als hierarchische Form sozialer Organisation. Es ist älter als der Kapitalismus, aber die Strukturen der historischen Männerherrschaft bestehen bis heute. Sie sind nicht unbedingt vom biologischen Geschlecht abhängig, Frauenbewegungen haben viele Rechte erkämpft, aber auch heute bekleiden überdurchschnittlich oft Männer machtvolle Positionen, und es sind meist Männer, die Gewalt- und Gräueltaten begehen, unter denen Frauen und Transpersonen leiden und gleichzeitig die Verantwortung aufgeladen bekommen, die Folgen auszuputzen. Eine Kanzlerin Merkel macht noch keinen Feminismus, relevanter finde ich den Ansatz der Stadtregierung in Barcelona, wo die Basisbewegung „Barcelona en Comú“ mit der Bürgermeisterin Ada Colau für eine Feminisierung von Politik angetreten ist.

Gewalt ist patriarchal

Die Gesellschaft ist nicht freundlicher geworden in diesen pandemischen Zeiten. Eine Mischung aus Angst und Empörung ist das Grundgefühl, Härte und Rücksichtslosigkeit lassen sich von allen Seiten beobachten. Zurecht fragten im Oktober 2020 Vertreterinnen des Kollektivs „Feministischer Lookdown“ im Züricher Radio LoRa: „Warum waren wir – Frauen aus der feministischen Bewegung und andere Menschen, die sich links oder kritisch oder feministisch verstehen – so rasch bereit, die Definition darüber, was uns heute geschieht, an männliche Expertengremien – und damit auch an den Staat – abzugeben? [1]

Das Schüren von Angst – der Angst vor dem Ersticken und der Angst davor, diesen qualvollen Tod Angehöriger verschuldet zu haben – war bereits im Frühjahr 2020 vom Innenministerium im Strategiepapier „Wie wir COVID-19 unter Kontrolle bekommen“ erwogen worden, das in Auftrag gegeben wurde, um „‚weitere Maßnahmen präventiver und repressiver Natur‘ planen zu können“, wie die WELT im Februar 2021 berichtete [2]. Eine Strategie des Ministeriums, dessen Minister Horst Seehofer sich an seinem 69. Geburtstag freute, dass 69 Menschen abgeschoben wurden.

Das Online-Spiel „Corona-World“ – öffentlich-rechtlich betrieben von ARD und ZDF – lädt ein: „Werde zum Helden der Coronakrise“. Zu „Helden“ assoziiere ich: männlich, kriegerisch und selbstgewiss, weil von höheren (eben heldenhaften) Motiven angetrieben. Einzelkämpfer (selten Kämpferinnen), die wissen wo es lang geht. Die nicht fragen, sondern anpacken. Das Spiel hetzt zu Gewalt (wenngleich nur am Computer) auf: „Schlüpfe in die Rolle einer Krankenschwester, die nach einem harten Arbeitstag einfach nur im Supermarkt einkaufen will. Aber Vorsicht! Überall lauern Infektionsgefahren. Nimm dich in Acht vor Joggern, Party People, Preppern und hochansteckenden Kindern. Schlage zurück, indem du deine Gegner desinfizierst. Hast du das Zeug, um Corona ein für alle Mal zu besiegen?“ [3] Während die Bundesregierung das Virus schnell zum Feind erklärt hatte, gegen den Krieg geführt werden müsse – was von links mit der Ausrottungsfantasie von Zero Covid aufgegriffen wurde – wird die Seuchenabwehr hier individualisiert.

Aber auch von maßnahmekritischer Seite gibt es Übergriffiges, wenn beispielsweise Captain Future und seine Leute von der Freedom Parade ohne Masken durch einen Supermarkt oder einen Zug tanzen. Unabhängig von der Einschätzung der Sinnhaftigkeit von Masken ist es rücksichtslos und gewalttätig, in der Corona-Situation andere in Angst und Schrecken zu versetzen und ihnen grenz­überschreitend die eigene Körperlichkeit und den eigenen Atem aufzudrängen.

All dies verstehe ich als Ausdruck patriarchaler Haltungen von Dominanz und Rechthaberei. Auch die vorgeblichen Schutzmaßnahmen verströmen nur zu oft den kalten Hauch von Autoritarismus und Ausgrenzung. Am meisten haben mich jedoch die verbalen Gewalttätigkeiten von Linken erschrocken.

Rechthaben genügt?

Hätte ich diesen Satz „Wir impfen euch alle!“ als Demobeobachterin nicht selbst mehrmals gehört, hätte ich nicht glauben wollen, dass Antifas eine solche Parole rufen. Sind das die gleichen Leute, die sonst so viel Wert auf Achtsamkeit legen, sich den Kopf zergrübeln über ihre Privilegien und sich akribisch um eine gewaltfreie und inklusive Sprache bemühen? Kann diese Konstruktion des „wir“ und „ihr“ nicht ebenso als Othering, als Konstruktion vom „Anderen“, verstanden werden, wie es oft zurecht menschenfeindlichen Ideologien vorgeworfen wird? Mit dieser verbalen Attacke wird anderen abgesprochen, überhaupt Gesprächspartner:innen, geschweige denn potenziell Verbündete zu sein. Da gelten auch keine minimalen Regeln höflicher Distanz mehr, wie sie zwischen politischen Gegnern üblich sein sollten, sondern die anderen werden zu Feinden gemacht, denen gegenüber keinerlei Respekt mehr erforderlich ist.

Dabei ist der Inhalt dieses Satzes keine Banalität. Egal wie mensch zum Impfen steht, stellt es doch in jedem Fall einen Eingriff dar, eine Überschreitung der körperlichen Grenze und das Einbringen einer körperfremden Substanz, deren Wirkungsweise zumindest langfristig noch nicht bekannt ist, nicht bekannt sein kann. Auch wenn es nur eine Parole ohne unmittelbare Wirkmächtigkeit ist (mittelbar kann sie durchaus auf Debatten um eine Impfpflicht einwirken), wirft sie doch alles, was in der Linken an Gewaltfreiheit und Respekt vor der Integrität einer jeden Person entwickelt wurde, über den Haufen. Es waren vor allem Impulse aus der Frauenbewegung, die linke Bewegungen für Grenzüberschreitungen verbaler und körperlicher Art sensibilisiert haben.

Die Parole „Wir impfen euch alle!“ scheint einen patriarchalen Rollback zu markieren, der sich in den Umgangsformen auf der linken reflect-Mailingliste [4] spiegelt, wo beispielsweise am 20. Januar 2021 ein:e User:in in autoritärem Befehlston schrieb: „Laber mich und andere nicht voll. Lockdown. Maske. Alle Impfen. Abwarten. Punkt.“ Solche Antworten fängt sich leicht ein, wer auf Widersprüche in den offiziellen Verlautbarungen zu Corona hinweist, gar abweichende wissenschaftliche Meinungen zitiert oder auch nur kritische Fragen stellt. Ganz schnell kommt dann auch der Vorwurf „Schwurbler“. Argumente scheinen nicht mehr nötig zu sein, es genügt zu behaupten, Recht zu haben, auch innerhalb linker Bewegungen, nicht nur im Umgang mit denen, die aus unterschiedlichsten Motiven auf Demos von Querdenken oder anderen Maßnahmekritiker:innen mitlaufen.

Wobei unter den Demonstrierenden auch Linke sind, aber auch Leute, die bisher nicht auf Demos gegangen sind. Da sind nicht alle so gut informiert, recherchieren nicht permanent, und ihnen vorzuwerfen, dass sie rechte Aussagen oder Nazis nicht gleich erkennen können, hat auch einen Beigeschmack von bildungsbürgerlicher Überheblichkeit, abgesehen davon, dass es nicht nur eindeutig rechts oder links einzusortierende Auffassungen gibt, sondern viele Zwischentöne.

Corona als das absolut Böse

Verbale Übergriffigkeiten sind nicht neu, haben aber mit Corona zugenommen. Beispielsweise versuchte jemand im April 2021 auf der öffentlichen, mittlerweile streng moderierten Attac-Diskussionsmailingliste inmitten erbitterter Streitigkeiten auch Gemeinsamkeiten zu formulieren und schlug vor: „Übereinstimmung: Leben schützen und anerkennen, dass Corona deutlich gefährlicher ist als eine normale Grippe.“ Sogleich bekam er die Antwort: „Es ist ist keine Übereinstimmung von uns, dass Corona deutlich gefährlicher ist als eine normale Grippe. Das rhetorische Mittel Corona in einem Satz mit normaler Grippe zu setzen, kennst Du und es verharmlost die Situation und zieht indirekt einen Vergleich.“

Diese Unterstellung einer Intention kann schon für sich als verbale Gewalt verstanden werden. Dass Corona nicht mit der Grippe verglichen werden dürfe, erinnert an das Argumentationsmuster, der Holocaust würde verharmlost, wenn er mit anderen Völkermorden verglichen würde. Schon der Begriff „Coronaleugner“ kann Assoziationen zu „Holocaustleugner“ wecken. Wer Corona zum absolut Furchtbaren, Unvergleichlichen stilisiert, beansprucht eine nicht kritisierbare Position, schon Nachfragen gelten als Sakrileg. Insofern spiegelt sich in diesem kleinen Beispiel die kommunikative Verhärtung, die nicht nur innerhalb linker Diskurse, sondern in der ganzen Gesellschaft prägend geworden ist. Hinzu kommt, dass der Vorschlagende ein einfaches Listenmitglied war, während der Antwortende kurz darauf in den KoKreis, das geschäftsführende Gremium von Attac, also in eine nicht ganz machtlose Position gewählt wurde.

Während Linke sich streiten, wissen die Rechten ihre Chance zu nutzen, geben sich mal wieder „nicht rechts, nicht links“ und bauen an ihren Netzwerken. Insofern sind akribische Antifa-Recherchen und aufklärende Öffentlichkeitsarbeit wichtig und notwendig, wenn sie überprüfbare Fakten zusammentragen. Mitunter ähneln jedoch die Vorwürfe, die von linker Seite gegenüber Maßnahmen-Skeptiker:innen geäußert werden, eher Verschwörungserzählungen als rationaler Kritik.

Verschwörungserzählungen und linke Kritik

Ingar Solty und Velten Schäfer haben Ende 2020 vier Eckpunkte zur Definition von Verschwörungserzählungen benannt [5], die ich im Folgenden kurz (ggf. verkürzend) benennen und an ihnen Vorwürfe von links gegen Maßnahmekritiker:innen spiegeln werde:

Erstens seien „Verschwörungstheorien radikal simplifiziert und personalisiert“. Das lässt sich über linke Kritik ebenso sagen, wenn auf Fragen oder Argumente nicht mehr eingegangen wird, sondern diese pauschal als „Geschwurbel“ abgetan werden, und wenn es ausreicht zu behaupten, jemand stünde beispielsweise den Querdenkern nahe oder sei bei denen aufgetreten, um sich mit so jemandem nicht mehr inhaltlich auseinanderzusetzen, egal was diese Person äußert, sei sie auch fachlich noch so kompetent.

Zweitens „denken (sie) in Schwarz und Weiß und kennen keine Schattierungen.“ Auch dies findet sich in Kritiken von links. Es deutete sich bereits früher bei anderen heiklen politischen Themen an, aber nun, wo die Corona-Diskussionen hoch aufgeladen um existenzielle Fragen von Tod oder Leben geführt werden, scheint die Kultur des vorsichtig fragenden Abwägens von Ambivalenzen und Widersprüchen gänzlich verloren gegangen zu sein. Simplifizierende Parolen suggerieren stattdessen, es gäbe nur noch gut oder böse, falsch oder richtig – vielleicht ein Reflex auf das zunehmende Leben in digitalen Welten, deren Null-Eins-Null-Eins-Struktur sich unbewusst auch ins Denken und Fühlen einschreibt?

Drittens steht in ihnen „das Ergebnis jedweder gesellschaftlichen Debatte a priori fest.“ Das ist die klassische Haltung patriarchaler Rechthaberei, die im Grunde aus dem oben bereits Ausgeführten folgt.

„Und viertens gelangen sie stets zu einem apodiktischen Fazit. Sie wehren die Annahme ab, der Missstand sei veränderbar, erst recht innerhalb des gegebenen politischen Systems.“ Hier ist die Parallele nicht ganz so einfach zu ziehen. Jedoch sehe ich eine ähnlich fatalistische Haltung in der Stilisierung von Corona als das absolut Böse, in der aggressiven Abwehr von Vorschlägen zur selbsttätigen Stärkung des Immunsystems und der hilflosen Hoffnung auf die Rettung durch die Impfstoffe der Pharmaindustrie.

Für Solty und Schäfer ist solches Verschwörungsdenken Ausdruck eines politischen Vakuums, „das durch die Schwäche einer antikapitalistischen Linken entsteht.“ Sie warnen: „Ganze soziale Felder schon bei Spuren ‚unreinen‘ Denkens abzuschreiben, ist aber nicht nur unpolitisch, sondern zeugt auch von geringem Selbstbewusstsein.“ Genau dies tun die Teile der Linken, die mit ihren feindlichen Attacken gegen Andersdenkende denen ähnlich werde, die sie kritisieren wollen. Wo jedoch Kritik notwendig wäre, gegenüber den Mächtigen in Wirtschaft und Politik, zeigen sie oft eine erstaunliche Unfähigkeit oder Unwilligkeit. So wird Antifaschismus zur leeren Selbstdarstellung in der neoliberalen Konkurrenz um Aufmerksamkeit, bleibt ideologisch ohne real etwas zu bewirken. Mit Erich Fried lässt sich feststellen: „Ein Faschist, der nichts ist als ein Faschist, ist ein Faschist. Aber ein Antifaschist, der nichts ist als ein Antifaschist, ist kein Antifaschist!“

Sicher gibt es viele, die sich eher zurückziehen, das Corona-Thema meiden, um sich nicht zu zerlegen, wie es in Familien, Freundeskreisen und selbstorganisierten politischen Initiativen und Projekten viel zu oft geschehen ist. So sind vor allem die Lauten zu hören, und vielleicht ist es gar keine Mehrheit der Linken, die sich so aggressiv aufführt. Bedachtere Stimmen, die abwägen und nach wie vor ein breites Meinungsspektrum respektieren, gibt es ja durchaus auch. Sie sind allerdings viel weniger wahrzunehmen und haben sich vor allem nicht organisiert, um der zunehmenden Feindseligkeit, die letztlich nur den Mächtigen und den Rechten nützt, etwas entgegenzusetzen.

Respektvoll und gewaltfrei kommunizieren?

Wo sind die kulturellen Errungenschaften respektvoller und gewaltfreier Kommunikation geblieben, die seit vielen Jahren alternative Bewegungen geprägt haben? Ist nicht einer der wichtigsten Grundsätze eines gedeihlichen Miteinander, nicht über andere, sondern über sich selbst zu sprechen – aus der Erkenntnis heraus, dass es gar nicht möglich ist, in andere hineinzuschauen und Aussagen über deren Beweggründe zu machen? Beobachtungen des Verhaltens oder der Äußerungen anderer können aus Sicht der Betrachter:in formuliert werden und ermöglichen ein Gespräch zwischen Subjektivitäten. Wer sich jedoch verobjektiviert und Aussagen über die Intention einer anderen Person macht, begeht eine Form verbaler Gewalt und Grenzüberschreitung, denn über das eigene Innenleben kann nur jede:r selbst Auskunft geben. Warum nicht einfach nachfragen?

Selbstverständlich können solche Selbstauskünfte angezweifelt werden, aber das wäre dann eine Aussage über den eigenen Zweifel, und keinesfalls eine Tatsachenfeststellung über eine andere Person. Behauptungen über andere oder Vorwürfe, die Gesprächspartner:innen in eine Verteidigungsrolle drängen, haben in solidarischen Zusammenhängen nichts zu suchen. Konstruktive Kritik stellt die eigene Auffassung neben die Auffassungen anderer, ohne sich über diese zu erheben und die eigene Meinung als die einzig richtige darzustellen. Eine kooperative, feministische Haltung äußert sich meines Erachtens im Sowohl-als-Auch, das die Möglichkeit des eigenen Irrtums mitdenkt, während das Entweder-Oder aus der Gefühls- und Gedankenwelt patriarchal geprägter Konkurrenz entspringt.

Die heilige Inquisition – Wissenschaft oder Religion?

Im Umgang mit Corona zeigt sich auch, wie wenig geblieben ist vom Aufbruch der alternativmedizinischen Bewegung der 1970/80er Jahre, als ausgehend von der Auseinandersetzung mit der Rolle von Ärzt:innen im Nationalsozialismus auch die einseitige Orientierung auf Pharmaindustrie und Medizintechnik kritisiert wurde. Ganzheitliche Erfahrungs- und Naturheilkunde ergänzte die Schulmedizin, und in Selbsthilfegruppen fanden viele zu einem neuen, weniger entfremdeten Umgang mit sich selbst. Solche Erfahrungen von Selbstwirksamkeit waren etwas vollkommen anderes als das, was von neoliberaler Seite als Eigenverantwortung gefordert wird und nur die Kehrseite von entwürdigenden Sparprogrammen darstellt.

Heute scheint der Begriff „alternativ“ fast zum Schimpfwort geworden zu sein. Alternative Medien gelten als Organe zur Verbreitung von Fake News, und wenn bei Berichten über Querdenken-Demos Esoterikerinnen, Homöopathen, Anthroposophinnen und Impfskeptiker als Teilnehmende aufgezählt werden, dann schwingt zumindest unausgesprochen mit, es sei doch klar, dass die alle irgendwie verschwörungstheoretisch oder rechts seien, mindestens rechtsoffen.

Die Art und Weise, wie manche Linke heute auf Wissenschaftlichkeit beharren, die vermeintlich Eindeutiges festgestellt hätte, hat fast schon einen religiösen Charakter, denn wissenschaftliche Erkenntnisse sind vielfältig und widersprüchlich, ebenso deren Interpretationen durch Expert:innen aus medizinischen und anderen Fachgebieten. Widersprüche und kontroverse Diskussionen sind ein Nährboden zur Gewinnung wissenschaftlicher Erkenntnisse, das unterscheidet Wissenschaft von Religion. Wissenschaft ist oft hilfreich, aber sie ist nicht die Wahrheit, sondern interpretierbar und auch manipulierbar, und ihre Erkenntnisse sind nicht unabhängig davon, wer sie finanziert. Wenn diejenigen, die Unbotmäßiges äußern, harsch zurechtgewiesen und belehrt werden, dann ist ein Hauch von heiliger Inquisition zu spüren. Dafür reicht es mitunter schon, auf die Bedeutung des Immunsystems für den Verlauf von Infektionskrankheiten hinzuweisen. Früher wurden naturheilkundige Hexen verbrannt.

Das Verbindende betonen

Einen Impuls zur Aussöhnung veröffentlichte im Juli 2021 eine Gruppe von 16 Expert:innen aus Deutschland und Österreich, darunter die Politikprofessorin Ulrike Guérot, der Begründer der Gemeinwohl-Ökonomie Christian Felber und der frühere Berliner Ärztekammerpräsident Ellis Huber, der in den 1970er Jahren den ersten Gesundheitsladen mitgegründet hatte und heute Vorstandsvorsitzender des Berufsverbandes der Präventologen ist. Sie möchten die Spaltung der Gesellschaft überwinden, indem sie die Corona-Krise analysieren und dazu beitragen, „die Ziele umfassende Gesundheit aller, Grundrechte und Demokratie, sozialer Zusammenhalt und nachhaltiges Wirtschaften besser in Einklang“ zu bringen [6].

Während ich schreibe, sind die Zapatistas aus dem mexikanischen Chiapas in Europa unterwegs auf einer „Reise für das Leben“, mit der sie Bewegungen „von links und unten“ vernetzen wollen, indem sie das Verbindende betonen und nicht das Trennende [7]. In der Selbstverwaltung und den Kämpfen der Zapatistas spielen Frauen und Transpersonen eine wichtige Rolle. Ihre Praxis ist eingebettet in eine Kosmologie des Lebens in der und mit der Natur. In ihrer Haltung des „fragend voran“ drückt sich das Bemühen um Resonanzbeziehungen aus, das sozialen Kämpfen einen gänzlich anderen Charakter verleiht als das hier beschriebene patriarchale Dominanzverhalten.

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Dieser Artikel erschien im Herbst 2021 im Buch: Gerhard Hanloser, Peter Nowak, Anne Seeck (Hg): Corona und linke Kritik(un)fähigkeit. Kritisch-solidarische Perspektiven „von unten“ gegen die Alternativlosigkeit „von oben“. AG SPAK Bücher, Neu-Ulm 2021, 240 Seiten, 19 Euro.

 

 

Anmerkungen (die Links aus dem Buch wurden für die Online-Veröffentlichung diesen Anmerkungen hinterlegt):

[1] Transkript einer Sendung des Kollektivs „Feministischer Lookdown“ vom 25.10.2020 auf Radio Lora.
[2] Anette Dowideit: „Dann schadet dies dem Ansehen einer faktenbasierten Bekämpfung“, Welt, 09.02.2021.
[3] ARD und ZDF: Corona World.
[4] Offener Infoverteiler von und für den Berliner Verein reflect! e.V.
[5] Ingar Solty und Velten Schäfer: Das verwilderte Denken. nd, 06.11.2020.
[6] Covid-19 ins Verhältnis setzen. Berlin/Wien, 7. Juli 2021.
[7] Ein Teil des Europas von unten und die EZLN: Eine Erklärung für das Leben. 01.01.2021.

 

 

 

 

 

 

 

Quelle: https://www.pressenza.com/ und http://www.elisabeth-voss.de/

Bild: Christoph Soeder/dpa/Symbolbild