Vortrag von Kerem Schamberger auf der Münchener Friedenskonferenz am 14. Februar 2025: Militarisierte Außengrenzen, Externalisierung und der Kampf gegen Bewegungsfreiheit – die tödliche Abschottung der Europäischen Union
Liebe FreundInnen, als Ver.di-Mitglied sind meine Gedanken bei den verletzten Kolleg:innen des gestrigen Anschlags – ich hoffe, dass alle schnell wieder gesund werden! Von rechts wird diese Tat sofort wieder instrumentalisiert. Wann lernen wir als Gesellschaft, dass die Herkunft eines Täters nichts mit der Tat zu tun hat? Die eigentliche Frage muss lauten, welche gesellschaftlichen und sozialen Bedingungen zu diesen furchtbaren Gewalttaten führen.
Meine Damen und Herren, Sie fragen sich vermutlich, warum die Frage der Abschottung vor Migration und Flucht als Thema der Münchener Friedenskonferenz behandelt wird. Eine Antwort, die auf der Hand liegt: Laut den UNHCR waren im Juni 2024 weltweit 122,6 Millionen Menschen auf der Flucht. So viele Menschen sind gewaltsam vertrieben, wie die Bevölkerungszahl von Deutschland, Österreich, Schweiz und den Niederlanden zusammen. Viele von ihnen aufgrund von Kriegen und gewaltsamen Auseinandersetzungen, aber auch aufgrund der bereits stattfindenden Klimakatastrophe – zu der übrigens Militär, Rüstung und Krieg ganz massiv beitragen.
Zur Klarstellung: 80-85 % der Fliehenden werden von Ländern des Globalen Südens aufgenommen und nicht von Europa oder den USA.
Eine weitere Antwort, warum das Thema Migration auf einer Friedenskonferenz thematisiert werden muss: Was wir gerade in der öffentlichen Debatte und der Politik erleben, ist die Ausrufung eines Krieges gegen die Migration. Die Frage des Umgangs mit der Migration ist zu einer der entscheidenden Menschenrechtsfragen des 21. Jahrhunderts geworden.
Und momentan wird sie so behandelt, als sei sie die Mutter aller Probleme in unserer Gesellschaft. Beim Kanzlerduell vergangenen Sonntag redeten die beiden aussichtsreichen Kandidaten ein Drittel der Zeit über Flucht und Migration als gäbe es kein Morgen. Als gäbe es keine Klimakrise, als gäbe es keine Probleme mit dem Gesundheitssystem, der Infrastruktur oder der himmelschreienden Schere von Arm und Reich in diesem Land. Als würde alles gut, wenn nur die Grenzen dicht sind. Was für eine Illusion, was für eine Ablenkung!
Was wir gerade erleben ist zugleich ein Krieg gegen die Realität der Migrationsgesellschaft in Deutschland, die unser Land in den letzten Jahren so positiv geprägt hat. Jeder vierte Mensch in diesem Land hat eine Migrationsgeschichte, in München ist es fast jeder zweite. Menschen, die seit Generationen hier leben, werden zur Disposition gestellt. Es wird verleugnet, welche reale und historische Bedeutung sie für dieses Land als Motor gesellschaftlicher Demokratisierung sowie wirtschaftlicher und kultureller Weiterentwicklung gespielt haben.
Die ständige Problematisierung von Migration ist zugleich eine Ablenkungsdebatte, um nicht über Umverteilung, Investitionen in die Infrastruktur jenseits der Schuldenbremse und die so dringend notwendige sozial-ökologische Transformation im globalen Maßstab reden zu müssen.
Der Rechtsrutsch in unserem Land, der sich im Erstarken der AfD zeigt, ist dabei nur die eine Hälfte des Problems. Die andere Hälfte besteht darin, dass er einhergeht mit einer Radikalisierung der sogenannten Mitte der Gesellschaft. Durch die Parteienlandschaft hinweg erleben wir eine massive Diskursverschiebung nach rechts, eine kaum für möglich gehaltene Enthemmung der Sprache und Entrechtung, die sich in konkreten Politiken niederschlägt, wie z.B. die ständigen Asylrechtsverschärfungen durch die Ampelkoalition deutlich machen
Wir haben es hier mit einem extrem gefährlichen Grundrechteabbau zu tun, der am Ende alle treffen wird. Es wird bereits diskutiert, die entmündigende Bezahlkarte für Geflüchtete auch auf Bürgergeldempfänger anzuwenden. Und die Drohung, die Staatsbürgerschaft wieder entziehen zu können, erinnert an ganz dunkle Zeiten dieses Landes. Es findet ein beispielloser rassistischer Überbietungswettbewerb statt, an dem sich fast alle politischen Akteure beteiligen. Merz bringt einen 5-Punkte Plan für ein „Ende der illegalen Migration“? Kein Problem, Habeck bringt einen 10-Punkte Plan gegen Geflüchtete. Und Nancy Faeser sagt diesen Mittwoch, dass sie in Fragen der Migrationsreduzierung völlig konform mit der CDU gehen. Eine nicht endende Abwärtsspirale.
Hunderttausende Menschen sind in den letzten Tagen zurecht auf die Straße gegangen, weil die Union das erste Mal im Bundestag zusammen mit der AfD abgestimmt hat. Diese Zusammenarbeit muss skandalisiert werden. Was jedoch noch viel mehr skandalisiert werden müsste, sind die Inhalte der Gesetzesvorschläge von CDU bis zu den Grünen. Denn eine Brandmauer sollte nicht nur in Abgrenzung zur AfD bestehen, sondern auch zu einer grundrechtsfeindlichen Politik. Doch genau eine solche Politik setzen andere Parteien nun schrittweise um. Forderungen, die die AfD vor wenigen Jahren stellte, finden sich heute in den Papieren fast aller anderen Parteien wieder.
Entschuldigt diese lange Vorrede. Aber ich denke, das ist nötig, um deutlich zu machen, mit was wir es zu tun haben: einem Krieg gegen Migrant:innen und Geflüchtete.
Und dieser Krieg findet vor allem an den Außengrenzen der EU statt, fernab der öffentlichen Aufmerksamkeit. Im Rahmen meiner Tätigkeit für medico international bin ich immer wieder an diese Zonen der Unsichtbarkeit gereist. Egal ob in den Urwäldern im polnisch-belarussischen Grenzgebiet, auf Lampedusa in Italien, auf Lesbos oder auch mitten in der Sahelzone im Niger.
Der Krieg gegen die Migration fordert seine Toten: Seit 2014 sind mehr als 31.000 Menschen im Mittelmeer gestorben (und das sind nur die, die dokumentiert werden konnten). Seit 1993 sind an Europas Außengrenzen 61.000 Menschen gestorben.
Drei aktuelle Tendenzen in der EU-Abschottungspolitik:
- Wir haben es in den letzten Jahren mit einer massiven Brutalisierung und zunehmenden Normalisierung brachialer Gewalt zu tun, die kein Halten mehr kennt.
- Externalisierung, also die Auslagerung von Außengrenzen – man will, das andere die Drecksarbeit für einen erledigen und Geflüchtete auf ihrem Weg aufhalten.
- Kriminalisierung. Vor allem von Geflüchteten, aber auch von solidarischen UnterstützerInnen, Organisationen.
Europaweit steht für all das die Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) im letzten Jahr, zu der auch die Ampelkoalition zugestimmt hat.
Europaweit steht für all das die Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) im letzten Jahr, zu der auch die Ampelkoalition zugestimmt hat.
Deutschland hat sich damit in den Kreis der migrationsfeindlichen EU-Staaten gesellt. Nach dem furchtbaren Anschlag von Solingen letzten August wurden zudem noch Grenzkontrollen eingeführt und so das Schengen-System der Freizügigkeit de facto aufgehoben. Viktor Orban twitterte nach der Ankündigung der Grenzkontrollen: „Bundeskanzler Scholz, willkommen im Klub.“ Der Beitritt Deutschlands zum rechten Antimigrationsklub Europas ist eine einschneidende politische Entwicklung – und könnte der Anfang vom Ende der Europäischen Union sein, wie wir sie kennen.
Die Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) bedeutet faktisch die Abschaffung des Rechts auf Asyl auf europäischer Ebene. Anstelle regulärer Asylverfahren sollen sogenannte Grenzverfahren eingeführt werden – insbesondere für Menschen aus Ländern mit geringen Anerkennungsquoten (unter 20%) und für jene, die aus vermeintlich „sicheren Drittstaaten“ kommen. Dabei liegt es im Ermessen der Ankunftsländer, wen sie in solche Grenzverfahren aufnehmen oder nicht.
Ein besonders perfides rechtliches Konstrukt dieser Reform ist die „Fiktion der Nichteinreise“: Menschen, die sich bereits an der Grenze befinden, gelten als nicht eingereist, sodass ihnen das Stellen eines Asylantrags verweigert werden kann. Während dieser Zeit werden sie in Lagern festgehalten, um ihre Weiterreise zu verhindern – eine faktische Inhaftierung zehntausender Menschen, darunter auch Kinder ab sechs Jahren. Die EU plant hierfür Kapazitäten für insgesamt 120.000 Plätze pro Jahr.
Ein drängendes Problem bleibt unbeantwortet: Wohin sollen die Menschen, denen kein Asylantrag gewährt wird? Wer wird sie aufnehmen? Die Folge wird eine noch längere Inhaftierung sein, weit über die angekündigten drei Monate hinaus.
Entsprechende Lager existieren teilweise bereits, beispielsweise auf den griechischen Inseln. Die EU hat 276 Millionen Euro in fünf sogenannte „Closed Controlled Access Centers“ (CCAC) investiert. Auf der Insel Samos steht bereits eine dieser Einrichtungen – abgeschottet auf einem Berg, weit entfernt von jeglicher Infrastruktur.
CCACs gleichen Hochsicherheitsgefängnissen: doppelte Zäune mit Stacheldraht, patrouillierende Wachfahrzeuge, bewaffnete Securities (beispielsweise die Firma G4S auf Samos), ständige Polizeipräsenz sowie Überwachungsdrohnen und Kameras. Die gesamte Überwachungstechnik soll in Athen zentral gesteuert werden – ein Szenario, das stark an Foucaults Konzept des Panoptikums erinnert. Künstliche Intelligenz soll künftig Menschenansammlungen und deren Stimmung analysieren, während Geflüchtete sich nur mit ID-Karten und zu bestimmten Zeiten frei bewegen dürfen. Auch auf Lesbos ist ein solches Lager fast fertiggestellt – unmittelbar neben einer riesigen Müllkippe. Es sind Orte der Isolation, Überwachung und Entrechtung, in denen Traumata nicht nur verstärkt, sondern oft erst erzeugt werden.
Ein weiterer zentraler Baustein dieser Abschottungspolitik ist das Konzept der „sicheren Drittstaaten“. Menschen, die über einen als solchen definierten Staat nach Europa gelangen, sollen kein Asyl beantragen dürfen, sondern direkt dorthin abgeschoben werden. Dazu zählen Balkanländer, nordafrikanische Staaten und Länder wie die Türkei, denen die EU-Milliarden zahlt, um Geflüchtete zurückzuhalten – über 11 Milliarden Euro flossen seit dem Beginn des EU-Türkei-Deals 2016.
Die Folgen sind verheerend: Massenabschiebungen von Afghan:innen und Syrer:innen aus der Türkei, menschenrechtswidrige Haftzentren, und Deals mit autoritären Regimen. Ein Beispiel ist Ägypten, das 7,4 Milliarden Euro an EU-Geldern erhält – davon 200 Millionen für Grenzkontrollen. Tunesien erhielt 900 Millionen Euro, auch um Geflüchtete aufzuhalten. Dabei ist Tunesien für schwarze Menschen extrem gefährlich: Pogromartige Angriffe, Misshandlungen und das Aussetzen von Menschen in der Wüste bei 40 Grad sind dokumentierte Realität – und Europa schaut weg.
Flucht und Migration werden zunehmend kriminalisiert – betroffen sind insbesondere Geflüchtete selbst, aber auch solidarische Unterstützer:innen. In Griechenland werden Schutzsuchende systematisch wegen „illegaler Einreise“ oder „Beihilfe zur illegalen Einreise“ angeklagt. Wer gezwungen wurde, ein Boot zu steuern, gilt automatisch als Schmuggler und wird verhaftet. Prozesse dauern oft nur wenige Minuten und enden mit drakonischen Strafen: durchschnittlich 46 Jahre Haft und Geldstrafen von etwa 330.000 Euro, wie eine Studie von Borderline Europe empirisch belegen konnte. In Griechenland saßen zum Zeitpunkt der Studienerstellung 2023 über 2.100 Migrant:innen deswegen im Gefängnis – das sind 20 % aller Gefängnisinsassen.
Gleichzeitig profitieren Sicherheits- und Rüstungsunternehmen von der Abschottung Europas. Der Markt für Grenzsicherung hatte 2024 ein Volumen von fast 30 Milliarden US-Dollar. Rüstungsfirmen wie Airbus, Leonardo oder Thales verdienen doppelt: zuerst an Waffenlieferungen in Konfliktregionen, dann an der Überwachung und Inhaftierung der Geflüchteten, die vor diesen Konflikten fliehen. Migration wird zum Geschäft gemacht – auf Kosten von Menschenleben.
Wenn man Migration ständig nur als Frage der Sicherheit betrachtet, sind es nicht nur rechte Parteien, die von diesem Diskurs profitieren, sondern auch eine Sicherheitsindustrie, die mit der Abschottung Europas Milliarden macht. Es gibt eine ganze „Politische Ökonomie der Migration“, von der vor allem die Rüstungsindustrie massiv profitiert. Es geht um dabei nicht nur um Mauern und Zäune, sondern um eine riesige Bandbreite an Technologie: von Radarsystemen, über Drohnen, Überwachungskameras bis hin zu biometrischen Fingerabdrucksystemen – alles, um die Bewegungen von Menschen auf der Flucht kontrollieren zu können. Und um sie zu stoppen.
Der globale Markt für Grenzsicherung hatte in 2024 eine Größe von knapp 30 Milliarden US-Dollar. Schlüsselsektoren der expandierenden Industrie: physische Grenzsicherheit, sogenannte „intelligente Grenzen“, also der Einsatz von Biometrie und Künstlicher Intelligenz (Überwachung von Smartphones und Auswertung von Social Media Profilen), den Bau von Gefängnissen und Lagern zur Inhaftierung von Migranten – alleine in Europa gibt es mehr als 400, weltweit sind es 1350 sogenannte „Migrant Detention Center“, zudem ist die ganze Abschiebeindustrie ein extrem lukratives Geschäft z.B. für private Fluggesellschaften, sowie Beratungs- und Auditdienste von Agenturen, die sich in Konzepten überlegen, wie man Migration verhindern kann.
Viele Nutznießer der Politischen Ökonomie der Migration sind zugleich die wichtigsten Waffenlieferanten in den Mittleren Osten und in Nordafrika. Von 2019 bis 2023 gingen 30% aller weltweit exportierten konventionellen Waffen in den Nahen und Mittleren Osten. Sie schüren so Konflikte, die so viele Menschen in die Flucht treiben und an denen sie dann noch einmal verdienen. Rüstungsfirmen wie Airbus, Leonardo oder Thales verdienen also doppelt: zuerst an Waffen- und Rüstungslieferungen in Konfliktregionen, dann an der Überwachung der Geflüchteten, die vor diesen Konflikten fliehen.
Der Krieg gegen die Migration wird von der Illusion genährt, man könne das alles in den Griff bekommen, ohne ein einziges Wort über unsere imperiale, koloniale Produktions- und Lebensweise zu verlieren.
Es findet derzeit ein massiver Grundrechteabbau, der uns alle Sorgen machen muss, weil er am Ende uns alle betrifft. Der Weg in den Autoritarismus führt über die rechte Migrationspolitik.
Fluchtursachen bekämpfen bedeutet – entgegen der herrschenden Perspektive – festzustellen, dass die Veränderung nicht im globalen Süden beginnen muss, sondern dass die europäischen Staaten ihre eigenen Gesellschaften grundlegend auf eine nachhaltige Grundlage stellen müssen, so dass sie nicht länger auf Kosten anderer leben. Denn die Aufrechterhaltung unserer Ordnung bedeutet anderswo Gewalt, Zerstörung und Ausbeutung – so deutlich muss man es sagen.
Es ist klar, dass sich durch die Abschottung auch die Migrationsrouten ändern werden, die Menschen werden jedoch trotzdem kommen, auch wenn die Wege gefährlicher und tödlicher werden.
Verrohung der Gesellschaft – man weiß, dass es außen nicht mehr funktioniert, und mauert sich ein. Ankommende Geflüchtete werden als das Außen, als Bedrohung, als Vorboten gesehen, die deutlich machen, dass unsere Lebensweise nicht mehr tragbar ist.
Eine Antwort von medico internationael: Solidarität und Verteidigung des Rechts auf Rechte. Deshalb haben wir den Fonds für Bewegungsfreiheit ins Leben gerufen, um kriminalisierte Geflüchtete an den Grenzen Europas zu unterstützen. Das Recht auf Bewegungsfreiheit zu verteidigen, sehen wir als eine zentrale Aufgabe im Kampf gegen den weltweiten Autoritarismus. Es geht im Kern auch darum, ein demokratisches Europa zu verteidigen, das auf dem Universalismus der Menschenrechte fußt.
Der Beitrag erschien auf https://isw-muenchen.de/ und wird mit freundlicher Genehmigung der Redaktion hier gespiegelt. Bild: