»Wir sind noch nie so naß geworden wie bei diesem Streik.«
(Ein Arbeiter von Kühler-Behr)
»Die IG Metall hat ideologisch gewonnen, wir ökonomisch.«
(Ein Unternehmer nach dem Abschluß)
Im »Kampf für die 35-Stunden-Woche« haben die Unternehmer ihre wesentlichen Ziele erreicht: Fortsetzung der Lohnsenkungen der letzten Jahre, diesmal sogar auf zwei Jahre festgeschrieben und damit auf zwei Jahre tarifpolitischer Friede in den Betrieben; der Normalarbeitstag von acht Stunden ist abgeschafft; die für alle geltenden Tarifverträge wurden in Richtung auf »betriebliche Bedürfnisse« durchlöchert, die Ausgestaltung des 35-40-Stunden-Rahmens wird weitgehend auf die Betriebe verschoben.
»Ideologisch« hat die IG Metall gewonnen, weil das »Unternehmer-Tabu der 40-Stunden-Woche aufgegeben wurde. Ein zweifelhafter Erfolg, denn für die Unternehmer bedeutet dies die Flexibilisierung des allzu starren Arbeitszeitrahmens; so heißt es im Abschluß ausdrücklich: »Die Spanne zwischen 37 und 40 Stunden soll angemessen ausgefüllt werden. Dabei sind die betrieblichen Bedürfnisse zu berücksichtigen«. Und selbst da wird nochmal eins draufgesetzt: »Aus Anlaß der Neufestlegung der Arbeitszeit wird die Auslastung der betrieblichen Anlagen und Einrichtungen nicht vermindert.«
Auf Kapitalseite herrscht feiste Zufriedenheit über diesen Abschluß, gleich nach Bekanntgabe des »Leber-Kompromisses« stiegen die Börsenkurse.
BDA-Präsident Esser erklärte, »das zufriedenstellende Ergebnis« sei vor allem »der Bereitschaft der Unternehmer zu verdanken, die Auseinandersetzung solidarisch mit der IG Metall durchzustehen.« Diese »Tarifeinigung« könne »zu einem neuen Anfang für die flexiblere Gestaltung der Arbeitsbedingungen insgesamt« werden. Blüm faßte die Bedeutung des neuen Tarifvertrags in einem längeren zeit-Interview so zusammen: »Hier ist ein neues Kapitel in der Tarifpolitik aufgeschlagen worden. Das Ergebnis führt in seiner Bedeutung weit über die Arbeitszeitfrage hinaus, weil sich die Gewerkschaften in eine Kooperation mit den Betrieben eingelassen haben. Und nur auf diese Weise läßt sich die unumgängliche Flexibilität ermöglichen. Wer glaubt, er könne alles von den Zentralen und mit Hilfe großflächiger Tarifvereinbarungen lösen, wird sich in die Sackgasse hineinmanövrieren. Andererseits können wir nicht die Tarifvereinbarungen so auflösen, daß jeder Betrieb macht, was er will, sondern es muß einen Hauptnenner geben. Diese Balance haben die Tarifparteien unter der sehr verdienstvollen Anleitung von Georg Leber versucht, nämlich, daß die Tarifpartner zwar den Rahmen festlegen, aber im Betrieb auf die besonderen Gegebenheiten Rücksicht genommen werden kann. Flexibilität braucht eine neue zeitliche Dimension: wir müssen raus aus dem engen Korsett Wochenarbeitszeit und brauchen längere Bemessungsspielräume. Zugleich aber verlangt Flexibilität eine neue räumliche Dimension: die Betriebe müssen die Vereinbarungen auf ihre Verhältnisse hin auslegen und anwenden können.« (in der ZEIT vom 6.7.84)
Blüm spricht damit in seiner salbungsvollen Art das Kunststück aus, das den Gewerkschaften gelungen ist: sie haben in einer Kampagne, die völlig vernarrt nur die »tarifliche Wochenarbeitszeit« thematisierte, einen Abschluß erzielt, der nicht nur zum ersten Mal den Normalarbeitstag abschafft, sondern auch die Wochenarbeitszeit nur noch im Mittel über zwei Monate hinweg festlegt. Sie sind außerdem unter einem Schleier von Propaganda gegen das »Flexi-Konzept« der Unternehmer genau diesen Flexibilisierungsstrategien entgegengekommen.
Im wesentlichen schafft der Abschluß die Voraussetzungen, die Lohnstückkosten weiter zu senken; die Unternehmer können pro Arbeitsstunden mehr aus den Malochern rausholen:
a) Zunächst mal der ganz simple Effekt, daß die Stundenleistung hochgedrückt werden kann, wenn die Stundenzahl pro Tag sinkt. Wie schon Lothar Späth in einer Wahlsendung im März sagte: Schauen Sie doch einmal die neuen Werke, das basf-Werk in Ettlangen usw. Die Arbeit ist dort so weit automatisiert, daß die dort Beschäftigten einfach keine 40 Stunden pro Woche mehr arbeiten können; hier wird die 36-Stunden-Woche, die 30-Stunden-Woche oder wenn Sie unbedingt wollen auch die 35-Stunden-Woche aktuell. (So hat ja Bosch als erster deutscher Unternehmer zu Beginn des Jahrhunderts den 8-Stunden-Tag eingeführt, weil er die Arbeiter dann intensiver ausbeuten konnte.)
b) Zum zweiten war mit der ansteigenden Massen-Arbeitslosigkeit in den letzten Jahren eine abnorm hohe Überstundenzahl verbunden (die bekannte Rechnung, nach der bei Wegfall sämtlicher Überstunden die zwei Millionen offiziellen Arbeitslosen verschwinden). Das hatte aber für die Unternehmer neben vielen Vorteilen den einen großen Nachteil, daß nach der achten Arbeitsstunde am Tag unweigerlich die hohen Überstundenzuschläge zu bezahlen waren (die »hohen Durchschnittslöhne« in manchen Branchen waren oft mit Überstunden verdient). Diese Zuschläge fallen nun, ausreichendes Planungsvermögen des Kapitalisten vorausgesetzt, weg – denn
c) die Abschlüsse sind auch ein weiterer Schritt in die Richtung, nur noch die tatsächlich geleistete Arbeit zu bezahlen. Früher war es ja einmal so, daß dich der Kapitalist für acht Stunden am Tag und fünf Tage in der Woche einstellte, und daß er dabei ständig einen gewissen »Personalüberhang« hatte, weil ja auch mal Leute krank waren, Urlaub hatten oder sonstwie fehlten – oder auch weil die Auftragslage schwankte, durch ausgefallene Maschinen entstandener Rückstand aufgeholt werden mußte usw. Dies wurde in den letzten Jahren massiv abgebaut: die Unternehmer »fuhren ihre Belegschaften an der untersten Linie«, Urlaub, Krankenscheine, Produktionsspitzen usw. wurden durch Sklavenhändler oder Zeitverträge aufgefüllt. Trotzdem gab es natürlich noch immer genügend Fälle: daß mal nicht genügend zu schaffen da war, daß die Abteilungen verschieden stark besetzt waren usw. Aber das kann nun in Zukunft geregelt werden: im Betrieb haben nicht mehr alle die gleiche Arbeitszeit, sondern die kann von Abteilung zu Abteilung variieren und muß nur im Durchschnitt des Betriebes 38,5 Stunden erreichen.
d) Die Abschlüsse sind auch ein weiterer Schritt in Richtung Maschinendurchlauf. Sie machen zum ersten Mal einen expliziten Unterschied zwischen betrieblicher und persönlicher Arbeitszeit. In einigen Fällen werden sie die Gelegenheit zu neuen Schichtplänen sein; bei Betrieben wie Nacanco oder Reifenwerke Fulda, die schon vorher betriebliche Arbeitszeitverkürzung vereinbart hatten, konnte man das ja auch sehen: der Preis für die Arbeitszeitverkürzung war die 4. Schicht, was für die Kapitalisten Maschinendurchlauf an 144 Stunden in der Woche und für die Arbeiter Dreier-Schicht und Sechs-Tage-Woche brachte. Dies ist besonders für Unternehmen mit sehr hohen Kapitalinvestitionen (hoher organischer Zusammensetzung) wichtig, wie eben die Dosenfabrik Nacanco oder das Reifenwerk Fulda. Textilbetriebe in Italien mit einer ähnlichen Kapitalzusammensetzung haben neulich sogar Abschlüsse mit 30-Stunden-Woche und 7-Tage-Woche vereinbart. Nach dem neuen Tarifvertrag braucht der Unternehmer nur noch im Vormonat mitzuteilen, wieviel man zu arbeiten hat, und er muß darauf achten, daß im Durchschnitt von zwei Monaten die für den Einzelnen oder eine Abteilung festgelegte Arbeitszeit (zwischen 37 und 40 Stunden) erreicht wird. Dann kann er durchaus festlegen, daß die eine Abteilung mal 50 Stunden in der Woche arbeiten muß, die andere nur 30, daß man montags vielleicht 10, dienstags 12, mittwochs 4 usw. Stunden arbeiten muß – und das alles ohne Überstundenzuschläge. Das Recht, zusätzlich noch Überstunden zu fordern, besteht weiterhin (die werden dann aber nur noch wöchentlich und auf zwei Monate berechnet!!), und zwar in weit höherem Maß, als Blüm das in seiner neuen Arbeitszeitordnung vorgesehen hatte!
Nachdem das Kapital die Klasse in den letzten Jahren in Millionen Prekäre und Kernbelegschaften aufgespalten hat, werden nun auch die Kernbelegschaften ein Stück weit »prekarisiert« und zudem stärker als bisher untereinander aufgespalten:
1.) Sie haben keinen Anspruch mehr auf Lohn für 40 Stunden pro Woche, in einer Art »geregelter kapovaz« hat der Unternehmer sehr viel mehr Verfügungsgewalt über die Zeiteinteilung der Proletarier, und er kann sie in der bezahlten Arbeitszeit intensiver ausbeuten, schließlich fallen viele Überstundenzuschläge weg, so daß der Durchschnittslohn auch in Anbetracht der miesen Lohnabschlüsse einiges absinken dürfte.
2.) In boomenden Branchen und für die Arbeiter mit gefragten Qualifikationen, die bisher schon die ganze Zeit wesentlich über 40 Stunden in der Woche gearbeitet haben, sieht die Rechnung anders aus: sie werden weiterhin ihre 50 und mehr Stunden runterreißen und haben dann einen Lohnzuwachs von nominal 5,9 Prozent – immerhin der höchste seit Jahren. Die schon bisher speziell in der baden-württembergischen Metallindustrie sehr starken Lohnunterschiede werden also weiter wachsen.
Das Ganze reiht sich nahtlos ein in kapitalistische und staatliche Strategien – Stichworte: Festschreibung der gesetzlichen Wochenarbeitszeit von 48 Stunden, das Ermöglichen der 84-Stunden-Woche, Abbau der Arbeitsschutzbestimmungen, weitere Prekarisierung durch Schleifung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes ….
Diesen Abschluß hat die Gewerkschaftsspitze von Anfang an angepeilt
Wie sagte Blüm: die 38½-Flexibilisierung ist ein Balanceakt. – Das war sie von Anfang an:
Auf dem Gewerkschaftskongreß 1977 hatte eine knappe Mehrheit der delegierten Funktionäre gegen den Widerstand des Vorstands die Forderung nach der 35-Stunden-Woche beschlossen. Zwei Jahre später schrieb die Gewerkschaftsspitze im Manteltarifvertrag für die Metallindustrie die 40-Stunden-Woche noch einmal fest und führte gleichsam probeweise erste Wochenarbeitszeitverkürzungen zusammen mit einem neuen Schichtplan für die Stahlarbeiter ein (was zu heftigen Fetzereien mit den Stahlarbeitern führte, die mitten im Winter einen erbitterten Kampf für die 35 Stunden geführt hatten). Erst 1982 beschloß die IG-Metall-Spitze auf einer Klausurtagung in Ludwigsburg, »den Kampf für die 35-Stunden-Woche« aufzunehmen.
Die Linie, auf der der Gewerkschaftsapparat für diese Forderung homogenisiert wurde, war von Anfang an und zu keinem Zeitpunkt eine »Arbeiterlinie«, also nicht die Forderung nach weniger Arbeit, sondern immer die »arbeitsmarktpolitische Vernunft»: die »vorhandene Arbeit« verteilen, ein Arbeitsloser koste die »Volkswirtschaft« mehr als die Aufteilung der Arbeit auf mehr Schultern usw.
Der Beweis dafür, daß niemals an eine effektive Verkürzung der Arbeitszeit gedacht war, liegt bereits darin, daß der Unterschied zwischen tariflicher und effektiver Arbeitszeit nicht thematisiert wurde, daß nichts unternommen wurde gegen die ständige Erhöhung der Arbeitszeit durch die Unternehmer (Terror gegen Krankenscheine, Überstunden), daß keine Arbeiterdiskussion darüber angefangen wurde, daß Überstunden in Zeiten von Massenarbeitslosigkeit Streikbrecherarbeit sind usw. Ein sehr verräterisches Indiz dafür, daß die Gewerkschaftsspitze nicht an effektive Arbeitszeitverkürzung dachte, ist auch, daß die Forderung nicht konkretisiert wurde, etwa indem man die 4-Tage-Woche oder den 7-Stunden-Tag propagiert hätte (bei der Forderung »7-Stunden-Tag« – rechnerisch das gleiche wie 35-Stunden-Woche – wäre ja als »Kompromiß« nur die bezahlte Pause, also der 7½-Stunden-Tag übriggeblieben, was den Malochern mehr Freizeit, den Unternehmern bestenfalls neue Schichtpläne – durchgehende Dreierschicht – gebracht hätte; die Beliebigkeit in der 35-Stunden-Forderung war die planvoll gelassene Bresche, durch die dann Leber mit seinem »Kompromiß« einmarschieren konnte).
Aber selbst das die ganze Kampagne tragende »Arbeitsmarkt-Argument« ist bloß Propaganda. Gerade wenn man so »volkswirtschaftlich« argumentiert wie die DGB-Gewerkschaften, dann erhöht pure Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich natürlich die Lohnkosten der Unternehmer – warum sollten die dann mehr Arbeitsplätze schaffen? Ein Schuh würde ja nur draus, wenn man den kapitalistischen Standpunkt verläßt, daß sich ein Unternehmen »rentieren« muß; vom Arbeiterstandpunkt aus ist Arbeitsplatzgarantie nur durchzusetzen, wenn man sagt: eure Rentabilität interessiert uns einen Scheißdreck, uns interessiert unser Einkommen, und deshalb wird hier niemand entlassen. Ein Standpunkt übrigens, den so ähnlich andere westeuropäische Gewerkschaften eingenommen haben, die DGB-Gewerkschaften aber nie. Aber nur von einem solchen Standpunkt aus würde sich eine Arbeitszeitverkürzung auf den Arbeitsmarkt auswirken.
Die DGB-Gewerkschaften haben hingegen immer auf die Produktivität des westdeutschen Kapitals, auf seine »Weltmarkt-Konkurrenzfähigkeit« gesetzt. In den 60er Jahren verstanden sie sich durchaus nach eigenem Bekunden als Institution, die über die »Rationalisierungspeitsche« Lohnforderungen die westdeutschen Unternehmer zu immer höherer Produktivität und so Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkt trieb. Und nur in dieser Konstellation läßt sich auch der »gesamtgesellschaftliche Interessenausgleich« in der diesjährigen »Tarifauseinandersetzung« verstehen. Durch die Prekarisierungsstrategie des Kapitals sind auch die Stammbelegschaften und ihre Vertretung, die Gewerkschaften, unter Druck geraten; andererseits schreit das westdeutsche Kapital seit einigen Jahren nach Maschinendurchlaufzeiten, Samstagsarbeit, weniger Lohnnebenkosten, mehr Flexibilität usw. Die »Kampagne für die 35-Stunden« war von Anfang an als Verknüpfung von beidem gedacht: die »Verkürzung der Wochenarbeitszeit« sollte den Stammbelegschaften Zucker geben, denen man ja seit Jahren immer wieder Reallohnsenkungen ausgehandelt hatte; das »arbeitsmarktpolitische Argument« bezog propagandistisch die Arbeitslosen mit ein, für die ja die DGB-Gewerkschaften real überhaupt nichts getan haben und auch nichts tun werden, denen gegenüber Steinkühler aber bereits sehr handfeste Kontroll- und Neutralisierungsabsichten angemeldet hat. [1]
In Wirklichkeit traute man einer Steigerung der »betrieblichen Rentabilität« durch Flexibilisierung die größte »arbeitsmarktpolitische Sogwirkung« zu. Man setzte also von Anfang an auf eine Kombination von Arbeitszeitverkürzung und Flexibilisierung.
Der Trick bestand darin, die Arbeiter für ihre eigene Flexibilisierung kämpfen zu lassen, denn ohne den Streik wäre dieser Abschluß nicht gegen die eigene Basis durchzusetzen gewesen, zu offensichtlich ist ja, daß er eine Verschlechterung gegenüber dem Vorhergehenden bringt. (Auch auf Kapitalseite war dieser Abschluß nicht ohne »Kampf« durchzusetzen, denn er kommt ja vor allen Dingen den Großunternehmen zugute. Für viele kleine und einige mittlere Unternehmen bringt der neue Tarifvertrag nicht besonders viel – dieses Konzept: Arbeitszeitverkürzung und Flexibilisierung zu koppeln, mußte auch auf Kapitalseite durchgesetzt werden. Hier spielte die Gewerkschaft wieder ihre liebste Rolle: als ideeller Gesamtkapitalist.
Und ganz auf dieser Linie lag dann auch die »Streik«-Taktik: im wesentlichen hat man Daimler Benz und Opel eingekreist. Und die haben den »Angriff« dringend gebraucht, um ihre Halden abzubauen bzw. konnten ihn benutzen, um die neuen Produktionslinien für den Kadett zu installieren. Für den Nutzfahrzeugbereich von Daimler war der Streik sogar zu kurz: in Wörth waren bei Streik-Ende die LKW-Halden nur zu drei Vierteln abgebaut. Betriebe, die ein Streik empfindlich getroffen hätte, wurden peinlichst ausgespart. (Bei uns im Betrieb sprachen sich 90 Prozent für Streik aus, die Auftragslage ist dermaßen gut und bei Nichteinhaltung der Termine winken so saftige Konventionalstrafen, daß der Unternehmer binnen Tagesfrist ins Rotieren gekommen wäre – Ergebnis: der Betrieb durfte zwar viermal warnstreiken, wurde danach aber nicht in die Streikkampagne einbezogen.)
Zum zweiten benutzte die Gewerkschaftsführung die Minimax-Strategie sehr erfolgreich, um ein Verhältnis von Streikenden zu Ausgesperrten von 1 zu 10 zu erreichen. Das Argument der Spitzenfunktionäre, man könne einen Flächenstreik nicht lange genug finanzieren, ist dabei völlig verlogen: es macht keinerlei finanziellen Unterschied, ob die Gewerkschaft einen Streikenden oder einen Ausgesperrten unterstützt – und daß die Unternehmer als Antwort auf den »Nadelstich«-Streik (wer sagt denn was von Nadelstreifen-Streik?) aussperren würden, war von vorneherein klar. Die Aussperrungen hatten aber eine wichtige Wirkung: das ganze bekam einen defensiven Charakter. Und die Gewerkschaftsfunktionäre achteten auch peinlichst darauf, daß dieser erhalten blieb bzw. politisch manifest nachvollzogen wurde: nach Bonn wurde nicht »für die 35 Stunden« mobilisiert, sondern »gegen die undemokratische Aussperrung«, also demobilisiert; genauso bei den örtlichen Demos, wo immer die Ausgesperrten vorneweg marschieren mußten mit schwarzen Trauerplakaten: »Wir sind ausgesperrt«, »Wir wollen arbeiten« usw. In den »Metall-Streiknachrichten« scheute man nicht vor Sprüchen zurück wie »Sehnsucht nach den Arbeitsplätzen« unter Bildern von Ausgesperrten. So konnten sich dann auch andere DGB-Gewerkschaften solidarisch in diese Trauerveranstaltung einreihen, die Gewerkschaft der Eisenbahner unter dem Motto: »Wir wollen Arbeit – JETZT!« usw.
Und zum dritten erreichte man durch die Begrenzung des Streikgebietes, daß die Zahl der außerhalb Ausgesperrten alles andere übertraf. Es war ebenfalls vorher klar gewesen, und die Bundesregierung sowie die Bundesanstalt für Arbeit hatten es des öfteren angekündigt, daß sie dieses Mal Schwierigkeiten machen würden, den kalt Ausgesperrten Kurzarbeitergeld zu zahlen. Durch die regionale Begrenzung erreichte man eine Verlagerung von der politischen auf die juristische Ebene, Gewerkschaftsfunktionäre brauchten der Basis nicht mehr Rede und Antwort zu stehen, sondern konnten alles auf die böse Klassenjustiz schieben (solche Wörter nimmt im »Kampf-Fall« sogar ein deutscher Gewerkschaftsfunktionär in den Mund). Die IGM führte mal wieder vor, wie sie es beherrscht, sämtliche Arbeitermanifestationen der letzten Jahre zu einer Besiegelung der eigenen Schwäche, zum defensiven hündischen Betteln für Arbeitsplätze um jeden Preis zu machen.
Insgesamt hat Blüm schon recht: mit Verlauf und vorläufigem Abschluß dieser Kampagne haben die Gewerkschaften den Anschluß an die kapitalistische Zukunft gesucht und gefunden. Der Prozeß der Durchsetzung selbst strafte alle Gewerkschaftsfunktionäre und -apologeten Lügen, die von einem drohenden Vernichtungskampf gegen die Gewerkschaften geschwafelt hatten (diese Lüge brauchte nur die Gewerkschaftsspitze, um den Abschluß nach unten durchzusetzen, so fielen uns trotz allem doch fast die Ohren ab, als der hiesige IGM-Boß, Vertreter in der Tarifkommission, seine große Rede zum Leber-Kompromiß damit anfing: »Diese Auseinandersetzung war von den Arbeitgebern gewollt, und wir alle wußten, welche Ziele sie damit verfolgten«, und deshalb sei der Abschluß doch ein großer historischer Erfolg). Gewerkschaften, die kapitalistische Innovationsstrategien durchsetzen helfen, den vielgerühmten Frieden in deutschen Betrieben garantieren und die Radikalisierung der Arbeiter so weitgehend verhindern können, werden nach wie vor und mehr denn je gebraucht. Und wenn sie jetzt noch einen Zahn zulegen und ihren selektiven Korporatismus gegen die Randbelegschaften, Prekären, Dauerarbeitslosen und Unproduktiven verstärken, andererseits die effektive Ausbeutung der Prekären und Sklavenmalocher in den Betrieben flankieren, so wird in Zukunft vielleicht noch einiges möglich sein, das wir uns jetzt noch gar nicht ausmalen können. Blüm hat schon recht, wenn er sagt, daß sich die Schwerpunkte gewerkschaftlicher Macht verlagern müssen: weg von den Bezirkszentralen und den (etwas radikaleren) unteren und mittleren Funktionären, hin auf die Betriebsratsebene (die »Friedenspflicht«, »betrieblichem Gesamtinteresse«, »Geheimhaltungspflicht« und ähnlichen schönen Dingen unterliegen, also zuerst der verlängerte Arm des Personalbüros und dann Gewerkschaftsfunktionäre sind) und auf die Spitzenebene (»Konzertierte Aktion« ist wieder angesagt!).
Genau diesen Weg haben die Gewerkschaften eingeschlagen – und auch hier spielte die diesjährige »Tarifauseinandersetzung« ihre Rolle: den mittleren und unteren Funktionären ihre Machtlosigkeit zu demonstrieren und sie an die zukünftige Rolle zu gewöhnen, »in den nächsten Monaten bis zum 1. April werden wir: schulen, schulen und nochmal schulen – die Betriebsräte auf ihre zukünftigen Aufgaben vorbereiten, sie bei der Ausgestaltung des 38½-Stunden-Rahmens beraten«.
Arbeiterautonomie?
Es war wichtig, daß wir uns aus diesem Schmierentheater politisch rausgehalten haben.
Wenn an dem Verlauf dieser »Tarif-Auseinandersetzung« etwas erstaunlich war, dann die tatsächliche Hilflosigkeit der linken Kräfte in bzw. außerhalb der Gewerkschaft. Sie haben alle nur für die Gewerkschaft funktioniert. Die DKP sowieso, deren Mitglieder ja auf Funktionärsebene die einzigen armen Irren waren, die wirklich an die 35 Stunden glaubten und sich dafür einsetzten – die DKP brachte es nachher nicht mal fertig, öffentlich dazu aufzurufen, bei der zweiten Urabstimmung (ob man den »Leber-Kompromiß« annimmt oder den Kampf fortsetzen will) mit »Nein« zu stimmen! – so sehr befinden sich die im Arsch der DGB-Gewerkschaften. Die GIM bewegte sich genauso zwischen den Fronten: mit dem Spruch von den »35 Stunden als Einstieg« (weit entfernt von jeder realen Situation) krittelte man ein bißchen an der Streiktaktik rum. Die autonomen Erwerbslosen-Inis haben sich zum Glück bis auf wenige Ausnahmen rausgehalten: hier hatte man zunächst geplant, vor die Tore zu ziehen und – praktisch sich selbst als abschreckendes Beispiel demonstrierend – den »Kampf« zu unterstützen.
Lernprozesse sind nach dem Abschluß bisher keine auszumachen. Die DKPisten hatten reflexartig drauf: »Jetzt ist das allerwichtigste, daß wir massenhafte Gewerkschaftsaustritte verhindern!« Bis hin zum BWK haben alle diesen Quatsch drauf, daß diese Tarifkampagne »gescheitert« sei. Die kapieren nicht, daß der IGM und ihren Schwestergewerkschaften ein schwieriger Drahtseilakt so gut wie nur möglich gelungen ist.
In dieser verfahrenen Situation – für die Klasse verfahren – war es nicht möglich, politisch einzugreifen. Es ist ja eine Tatsache, daß »fortschrittliche Betriebsräte« »ihre Belegschaften« erstmal für die 35-Stunden agitieren mußten. Und dabei hatten sie nicht vor allen Dingen mit so Argumenten zu kämpfen wie »das ist uns zu wenig, wir brauchen mehr Lohn« u.ä., sondern mit dem Hauptargument: »35 Stunden und Lohnausgleich – wer soll das bezahlen?« Das heißt, auf der Ebene von möglichen kollektiven Forderungen haben sehr viele Malocher erstmal die Opferideologie in den Knochen und den Köpfen (siehe ja auch den CDU-Wahlsieg). Das hat nichts mit dem Schwachsinn zu tun, die Arbeiter wären zufrieden oder ähnliches, das heißt nur, sie können sich momentan nicht vorstellen, wie sie sich kollektiv gegen das Kapital durchsetzen und wieder in die Offensive kommen können. Deshalb überlegt sich ne Mehrheit erst mal, wie sie den Arbeitsplatz behalten kann, igelt sich gegen alles ein, was den jetzigen Status quo bedrohen könnte.
In den Betrieben, wo »fortschrittliche Betriebsräte« sich wirklich eingesetzt haben für die 35 Stunden, waren große Teile der Belegschaft so weit »mobilisiert«, daß sie mehrere Warnstreiks runtergerissen haben und sich bei der Urabstimmung mit Zahlen um die 90 Prozent für den Streik ausgesprochen haben. Und hier lag dann auch die Zustimmung zum Abschluß meist nur knapp über den erforderlichen 25 Prozent! Das heißt, in einer Phase, wo die Arbeitshetze dermaßen gesteigert ist, die Löhne seit Jahren stagnieren oder sinken, wo der einzelne Arbeiter massiv unzufrieden ist – aber keine Möglichkeit sieht, diese Unzufriedenheit gemeinsam mit den anderen kollektiv und autonom in Kämpfe umzusetzen -, kann es passieren, daß die Malocher sich sogar an eine solche Kampagne klammern, obwohl sie in keinem Stadium die ihre war – und daß es für die Gewerkschaft schwierig werden kann, wieder aufzuhören.
Aber was nicht passieren kann: daß die Arbeiter im Rahmen einer solchen Kampagne Freiräume für sich selbst auftun, eigene Forderungen einbringen können. Dafür sorgen der supergeregelte bürokratische Ablauf eines solchen »Streiks« und die dahinterstehende jahrzehntelange Erfahrung der DGB-Gewerkschaften im Niederhalten von autonomen Arbeiterregungen. Die Kritik der aufgebrachten Stuttgarter Arbeiter, die ins Gewerkschaftshaus rein sind und die Sitzung der Tarifkommission gestört haben, war schon richtig: »1.) die Verkürzung der Wochenarbeitszeit ist nicht genug, wenigstens ein Stufenplan muß her; 2.) die Flexibilisierung spaltet die Belegschaft und halst den Betriebsräten eine zu große Verantwortung auf; 3.) die Nominallohnanhebungen von 2,7 Prozent und 2 Prozent im nächsten Jahr sind zu niedrig.« Diese Kritik hängt aber schon in der Schlinge, die IGM habe was anderes gewollt, der Abschluß sei ein »Scheitern«. Thematisiert werden eben nicht die eigene Situation und Bedürfnisse, die eigenen Kampfmöglichkeiten, -formen und -inhalte.
In dieser Situation wird es den Gewerkschaften immer wieder gelingen, solche Tarifvereinbarungen abzuschließen und gegenüber ihren Mitgliedern durchzusetzen. Denn sie repräsentieren durchaus große Teile der Stammbelegschaften mit ihrem vorherrschenden Wunsch, erstmal den Arbeitsplatz zu behalten, mit ihrer historischen Erfahrung, daß es früher schlechter war und daß es »den anderen« (Prekären, Arbeitslosen) noch viel schlechter als ihnen geht (insofern hat auch der Korporativismus der Gewerkschaften durchaus seine Basis).
Dabei kommt auf die Arbeiter jetzt einiges zu: der Reallohn wird in den nächsten zwei Jahren nochmal sinken. Die Möglichkeiten zu Zweit- und Drittjobs sind weitgehend ausgeschöpft – und nicht nur das: da der Betrieb jetzt viel mehr in die Zeitplanung des einzelnen Arbeiters eingreifen kann, sind Zweitjobs vielleicht gar nicht mehr im bisherigen Ausmaß möglich (kein Fuhrunternehmer läßt sich darauf ein, daß du seine verderblichen Waren montags so wie bisher, dienstags zwei Stunden später und mittwochs gar nicht und die nächste Woche nochmal ganz wann anders fährst).
Angesichts dieser Tatsachen könnten doch vielleicht die Arbeiter die Dezentralisierung der Produktion, die Aufblähung des Transportsektors und die ungeheuer gesteigerte Arbeitsteilung für sich entdecken, könnten sie die Tatsache benutzen, daß zwei Kolbenfabriken mit insgesamt 7500 Beschäftigten, also vielleicht 4000 produktiven Arbeitern fast 100 Prozent des Bedarfs der westdeutschen Automobilindustrie an Kolben herstellen, und daß inzwischen eine riesige LKW-Flotte den Auto-Multis die Lagerhallen ersetzt. Wie würden die Kapitalisten heulen, wenn diese Arbeiter autonom streiken und dies nicht anderthalb Jahre vorher ankündigen, wenn also die Läger diesmal wirklich nach ein paar Tagen leer wären…? Oder die zwei, drei Dutzend LKW-Fahrer, die das Zeug transportieren?
Die im Tarifabschluß zum Tragen kommenden Flexibilisierungsstrategien sind ein Balanceakt gegen die Klasse: zum einen spalten sie die Belegschaften weiter auf, zum anderen treiben sie die Prekarisierung voran, homogenisieren die Bedingungen also nach unten. Wie dieser Balanceakt ausgeht, ob er zur weiteren korporativen Einigelung der Stammarbeiter führt, oder ob sich von unten her eine neue Klassenzusammensetzung herausbildet … hängt ja auch ein Stück weit von uns ab.
Fußnoten:
[1] Siehe hierzu seine Äußerungen zur selbständigen Organisierung von Arbeitslosen: »Nicht nur in Baden-Württemberg, sondern insgesamt bemühen wir uns seit vier Jahren, Arbeitsloseninitiativen zu gründen. Ich bin bereit hier einzugestehen: aus anderen Motiven, als allgemein erwartet wird, nicht aus humanitären Gründen, sondern aus politischen Gründen. Und zwar deshalb, weil ich die Gefahr sehe, daß der Zeitpunkt nicht mehr weit weg ist, wo diese Arbeitsloseninitiativen bundesweit instrumentalisiert werden gegen die Gewerkschaften… Aber ich sage deutlich: Um die Arbeitsloseninitiativen – ein böses Funktionärswort, das ich jetzt sage – politisch in den Griff kriegen zu können, und um zu verhindern, daß sie gegen die Interessenvertretungspolitik der Arbeitsplatzinhaber eingesetzt werden können.« (FR 16.3.84) Im selben Artikel sagt Steinkühler auch: »Verkürzt dargestellt heißt das für uns, der Kampf um die 35-Stunden-Woche …[ist] für uns ein Kampf von höchster gesamtgesellschaftlicher Bedeutung, weil er letztenendes geführt wird um den Bestand des heutigen Rechtsstaats in seiner heutigen Ausprägung, die uns nicht gefällt und die wir weiter verändern wollen.«
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