Plattformkapitalismus und der neue Traum vom freien Markt

Von Dominik Piétron

Online-Plattformen, wie Amazon, Facebook, Uber oder AirBnB haben in den letzten zwei Jahrzehnten einen tiefgreifenden institutionellen Wandel und eine neue Phase des Kapitalismus eingeläutet. Sie stellen das Herzstück der neuen digitalen Ökonomie dar und bringen aus Sicht der Verbraucher enorme Annehmlichkeiten mit sich. Doch die hoffnungsvollen Versprechungen von der sozial-ökologischen Sharing Economy, von horizontalen und offenen Plattformen oder sogar  dem digital ermöglichten Post-Kapitalismus haben sich als voreiliger Trugschluss herausgestellt. Plattformen sind nicht etwa das Ende des krisenhaften Spätkapitalismus, sondern vielmehr der neue Treibstoff kapitalistischer Akkumulation, der hohe Renditen verspricht. Den berüchtigten GAFAM-Konzernen, Google, Amazon, Facebook, Apple und Microsoft – und zunehmend auch chinesischen IT-Giganten wie Alibaba, Badiu oder Tencent ist es gelungen, sich innerhalb von nur drei Jahrzehnten zu den wertvollsten Unternehmen der Welt aufzuschwingen. Sie haben sämtliche digitale Schlüsselmärkte besetzt: Microsoft, Google-Mutterkonzern Alphabet und Apple dominieren den Markt für Betriebssysteme, Amazon beherrscht den Onlinemarkt für Konsumgüter und Facebook und Alphabet vereinen in den USA 80 Prozent des gesamten Werbeumsatzes auf sich. Einem klassisch-kapitalistischen Wettbewerb zur Begrenzung von Marktmacht sind diese Konzerne kaum mehr ausgesetzt.

1. Die neuen digitalen Großkonzerne

Der Grund für diese schnelle Ausbreitung lässt sich in den besonderen Strukturen der Plattformen finden, die alle demselben Schema folgen: Plattformen sind private Marktplätze, die wie ein großes Kaufhaus funktionieren. Sie stellen einen (digitalen) Raum bereit, in dem jeweils zwei (oder mehr) Nutzergruppen aufeinandertreffen – Konsumenten und Produzenten, Dienstleister und Auftraggeber oder Social-Media-User und werbende Unternehmen. Im Unterschied zum herkömmlichen Kaufhaus sind Plattformen aber mit ihrer digitalen Infrastruktur räumlich und zeitlich entgrenzt, d.h. sie sind überall und jederzeit verfügbar und können sich mit neuen Serverkapazitäten in ungeahnter Geschwindigkeit ausbreiten.

Dies begünstigt die Monopolisierungstendenzen von Plattformunternehmen. So wirken auf digitalen Märkten starke positive Netzwerkeffekte, d.h. je mehr Nutzer auf einer Plattform sind, desto interessanter wird sie für weitere Nutzer. Plattformen versuchen diesen Trend noch zu verstärken, indem sie die Kosten für den Wechsel zu einer konkurrierenden Plattform erhöhen, um die Nutzer dauerhaft an ihr Angebot zu binden. Die Plattformunternehmen verfolgen mit Unterstützung ihrer Kapitalgeber das „growth before profit“-Modell und versuchen mit hohen Verlusten die eigenen Marktstrukturen aggressiv auszubauen. Die größten branchenübergreifenden Plattformkonzerne haben bereits weltweit eine marktbeherrschende Stellung eingenommen. Sie kontrollieren die Preismechanismen und schöpfen übermäßige Profite ab, sog. Renten, mit denen potentielle Wettbewerber frühzeitig aufgekauft und in rasanter Geschwindigkeit neue Märkte erobert werden können.

2. Neue Märkte, neue Deregulierung

Plattformen weiten das Prinzip des Marktes auf immer mehr Lebensbereiche aus. Ein gutes Beispiel dafür sind Gig-Working-Plattformen, wie Mechanical Turk, Uber, Deliveroo oder Upwork auf denen die Grenzen zwischen privater Freizeit und professioneller Arbeit verschwimmen. Bisher nicht handelbare, soziale Gefälligkeiten (ein gemeinsames Abendessen, Gassigehen mit dem Hund, ds Aufbauen von Möbeln etc.) werden kommerzialisiert und von einer wachsenden Schar an „digitalen Tagelöhnern“ als Broterwerb genutzt. Auch auf Plattformen wie Google oder Facebook „arbeiten“ die NutzerInnen in ihrer Freizeit, indem sie die Gratis-Dienste mit ihrer Aufmerksamkeit für personalisierte Werbung bezahlen. Ein weiterer Bereich, in dem die Plattformisierung voranschreitet, ist die industrielle Produktion. Hier entwickeln Unternehmen wie General Electric, Rolls Royce oder Siemens eigene Plattformen, auf denen Softwareprogramme zur Steuerung von Produktionsabläufen von Drittanbierten angeboten und an Industriefirmen vermietet werden können. Gleichzeitig dringen Plattformunternehmen zunehmend in Offline-Märkte ein. Amazon eröffnete Anfang 2018 seinen ersten Supermarkt in Seattle und plant demnächst eigene Girokonten anzubieten. Facebook und Google beteiligen sich verstärkt am Ausbau von Internet-Datenleitungen, in New York fahren inzwischen mehr Leute mit Uber als mit „Yellow Caps“ und immer mehr Hotels inserieren auf AirBnB, um ihre Zimmer zu vermieten. Diese Beispiele zeigen, dass Plattformen mehr als nur einfache Unternehmen sind. Sie stellen vielmehr in zunehmendem Maße die zentrale Infrastruktur unserer Gesellschaft im 21. Jahrhundert dar.

Anders als bei der herkömmlichen Infrastruktur (bspw. öffentliche Dienstleistungen) werden die Plattformen jedoch nicht demokratisch verhandelt, sondern von den Algorithmen der Plattformen bestimmt, die sich im Eigentum der Plattformunternehmen befinden. Auf diese Weise etabliert sich mit den Plattformen eine neue subtile Herrschaftsform, ein algorithmisches Management, das nur bestimmte programmierte Handlungsoptionen für Nutzer vorsieht und so die Bedingungen der sozialen Interaktion determiniert. Dies zeigt sich besonders im Arbeitsbereich, wo Plattformen die Aufträge ihrer Nutzer an formal selbstständige Dienstleister delegieren. Diese Dreiecks-Konstellation bedeutet die Auflösung der festen Kopplung zwischen Unternehmen und einem festen Stamm an Arbeitnehmern und stellt eine Intensivierung der Vermarktlichungvon Arbeitsbeziehungen dar, die in den 1970ern mit dem Outsourcing begann und zunehmend das gesamte Arbeitsrecht mit Sozialversicherungspflicht, Kündigungsschutz, Sozialpartnerschaft etc. unterläuft.

Doch nicht nur das Arbeitsrecht, sondern auch das Steuerrecht wirkt angesichts der technologischen Übermacht der Plattformen veraltet. Denn Plattformen können aufgrund ihres transnationalen, grenzüberschreitenden Charakters Produkte und Dienstleistungen anbieten, ohne im betreffenden Land eine physische Arbeitsstätte zu haben. Da letzteres aber nach wie vor Voraussetzung der Besteuerung ist, werden die Erträge von Plattformen im internationalen Steuerrecht teilweise gar nicht erfasst. Eine Digitalsteuer auf EU-Ebene, die dieses Problem verhindert, wird bisher u.a. von der deutschen Regierung blockiert. Zudem nutzen viele Pattformunternehmen klassische Steuervermeidungsmodelle, bsow. Die Verschiebung der Gewinne ihrer lokalen Tochterfirmen mithilfe übermäßiger Lizenzzahlungen zum Unternehmenssitz in Irland oder in andere Länder mit besonders günstigen Steuersätzen. Ein weiteres steuerrechtliches Problem von Online-Marktplätzen, wie Amazon oder Ebay, besteht in der Umgehung der Umsatzsteuer durch die externen Anbieter. Die Plattformbetreiber ziehen sich aus der Verantwortung und geben an, dass die Steuerpflicht auf Seiten der externen Anbieter liege, profitieren aber indirekt von den günstigeren Preisen auf ihren Plattformen.

3. Mit Freihandelsabkommen ins digitale Zeitalter

Die Ausbreitung der Plattformtechnologie stößt zunehmend auf gesellschaftlichen Widerstand. Berlin und Paris schaffen strenge Regeln für AirBnB, Uber wird gerichtlich verboten und Crowdworker verklagen die Plattform Crowdflower, weil sie unter Mindestlohn bezahlt werden. Demgegenüber versuchen sich Plattformunternehmen abzusichern, indem sie ihre Interessen in völkerrechtlich-bindenden Handelsabkommen festschreiben. Auf EU-Ebene haben sich Plattformunternehmen in der Lobbyorganisation „DIGITALEUROPE“ zusammengeschlossen, in den USA nennen sie sich „Coalition of Services Industries“ und in Deutschland sind sie dem Branchenverband „BITKOM“ beigetreten. In klassischer Freihandels-Manier rufen sie zum Kampf gegen den „digitalen Protektionismus“ auf und fordern den Abbau nicht-tarifärer Handelshemmnisse in der Digitalbranche[1]. Neben dem Abbau von Zöllen auf digitale Produkte und der Absicherung von ausländischen Investitionen liegt ihr Hauptinteresse auf der Umgehung von Datenschutzrichtlinien. Insbesondere Lokalisierungsbestimmungen, die Plattformen dazu verpflichten, die Daten ihrer Nutzer lokal zu speichern, würden zu Wachstumseinbußen und hohen Kosten führen, argumentieren die Plattformunternehmen. Dementsprechend hat sich die EU-Kommission in ihrer „Trade for all“-Strategie bereit erklärt, das Dienstleistungsabkommen TiSA und andere Handelsverträge zu nutzen, um die Ausbreitung des E-Commerce zu unterstützen und grenzüberschreitenden Datenverkehr zu liberalisieren[2]. Auch im EU-Kanada-Abkommen CETA sowie dem JEFTA-Vertrag mit Japan wurden explizite und implizite Zugeständnisse zum freien Datenverkehr sowie eine regulatorische Kooperation zum langfristigen Abbau von Regulierungen in der Informations- und Kommunikationsindustrie verankert. Trotz einiger Schutzklauseln, welche die staatliche Regulierung des Datenverkehrs formal erlauben sollen, entstehen auf diese Weise neue Interpretationsspielräume und Unsicherheiten, die das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung einschränken[3].

Die wirtschaftlichen Interessen an der Verwendung personenbezogener Daten sind immens, weshalb letztere auch als das „Rohmaterial des Plattformkapitalismus“ bezeichnet werden. Plattformen wie Google und Facebook betreiben das sog. Data-mining– die Sammlung und Analyse von großen Datenmengen, mit denen detaillierter Nutzerprofile erstellt werden. Diese Profile können für zielgerichtete Werbung aber auch für Wahlmanipulation und geheimdienstliche Überwachung eingesetzt werden[4]Auch für Amazon ist die Auswertung der riesigen Datenmengen über die Konsumgewohnheiten ihrer Nutzer ein elementarer Bestandteil ihrer Geschäftsstrategie geworden – Amazon identifiziert die profitabelsten Produktsparten, bietet dort eigene Produkte an und verweist konkurrierende Händler von der Plattform.

Es zeigt sich, dass ein moderner Datenschutz nicht in einem simplen Verbot des Datenhandels bestehen darf. Denn die Technologiekonzerne behüten ihren Datenschatz und wollen die Markteintrittsbarrieren für neue Unternehmen erhöhen, was die Monopolisierung der großen Plattformen noch anfeuert. In diesem Sinne sollte der Transfer von Daten, die sogenannte Interoperabilität zwischen Plattformen, geradezu erzwungen werden können, um die Macht der GAFA-Konzerne einzuschränken. Ausgangspunkt jeder staatlichen Regulierung muss jedoch das individuelle Recht auf informationelle Selbstbestimmung sein – die freie Entscheidung des Individuums, welches Unternehmen zu welchen Zwecken und wie lange auf die persönlichen Nutzerdaten zugreifen darf. Dazu bedarf es neuer Gesetze, welche die individuelle Verfügungsgewalt über die Heraus- und Weitergabe der eigenen Daten stärken, die Privatsphäre besser schützen und bestimmte Datenerhebungen aus Arbeitsschutzgründen gänzlich verbieten. Solange dies nicht gewährleistet ist, ist jedes Handelsabkommen inakzeptabel, das weitere Zugeständnisse an die Plattformkonzerne macht und das Grundrecht auf Datenschutz aufweicht.

4. „Die Plattformen denen, die darauf leben“ – eine andere digitale Ökonomie ist möglich

Der Hype um das Internet ist vorbei. Die Versprechen einer sozialer-ökologischeren Lebensweise durch die Sharing-Economy, von mehr Teilhabechancen mithilfe von Crowdworking-Plattformen und einer zusammenwachsenden Menschheit dank Social-Media wirken heute fad und überholt. Der Plattformkapitalismus droht heute die großen emanzipatorischen Potentiale der digitalen Technologie in ihr Gegenteil zu verkehren und auch noch das letzte Stück menschlicher Freiheit in den gesellschaftlichen Verwertungsapparat zu integrieren. Doch wie kann die digitale Plattformtechnologie für eine gerechtere Welt eingesetzt werden?

Eine viel diskutierte Alternative zu den großen Technologiekonzernen besteht in Plattform-Kooperativen, die das bewährte Genossenschafts-Modell mit der digitalen Ökonomie verschmelzen[5]. Beispiele wie die Amazon-Alternative FairMondo zeigen, dass sich die Plattformtechnologie gut eignet um Unternehmungen in kollektiver Eigentümerschaft aufzubauen, die auf einem sozial-ökologischem non-profit Wertefundament basieren und verantwortungsvoll mit den Daten ihrer Kunden umgehen. Gleiches könnte aber auch in öffentlicher Trägerschaft geschehen. Warum sollten sich nicht kommunale Plattformen für Taxifahrten, Handwerkertätigkeiten oder Zimmervermietungen als Gemeingüter etablieren, die als Teil der öffentlichen Daseinsvorsorge durch Städte und Gemeinden reguliert werden? Kommunen könnten so ihren Anspruch auf Selbstverwaltung zurückerlangen, die Nutzungsgebühren der Plattformen in sinnvolle öffentliche Projekte investieren und für gute Arbeitsbedingungen auf lokalen Gig-Working-Plattformen sorgen.

Es ist jedoch zu befürchten, dass bottom-up-Plattformprojekte in der Anfangsphase chancenlos gegen die Übermacht der Internetgiganten sind. Unerlässlich ist daher eine staatliche Regulierung, die die demokratische Kontrolle über die Plattformökonomie wiedererlangt und Freiräume für selbstverwaltete Plattformen schafft. Folgende Maßnahmen sind dafür zu diskutieren: Die Kartellbehörden müssen den Ausbau der Technologieimperien durch immer neue Firmenaufkäufe wirksam verhindern können. Es muss Plattformunternehmen verboten werden, eigene Produkte auf ihrem digitalen Marktplatz zu bevorzugen. Bei Konzernen wie Google und Facebook, die zentrale Schlüsseltechnologien in einer privaten Hand vereinen, muss konkreter über die Abspaltung oder Kollektivierung einzelner Unternehmenszweige diskutiert werden. Zudem sollten, wie oben erläutert, die Steuer- und Datenschutzgesetze für die Plattformökonomie angepasst werden. Um auch formal-selbstständige Plattformarbeiter wirksam vor den Kräften des Marktes zu schützen, braucht es Honorar-Untergrenzen ähnlich dem Mindestlohn und neue Sozialversicherungsmodelle wie z.B. Formen des bedingungslosen Grundeinkommens für alle.

Die Plattformrevolution birgt eine unglaubliche Veränderungskraft und verschiebt unsere mentalen Infrastrukturen. Was früher ein Verstoß gegen die Privatsphäre war, wird heute als soziale Vernetzung hochgelobt. Was früher als Sozialversicherungsbetrug geahndet wurde, wird heute von Millionen Plattformarbeiter*innen als Selbstverwirklichung gefeiert. Damit sich die Plattformtechnologie nicht in eine autoritär-kapitalistische Kontrollstruktur verwandelt, braucht es eine neue zivilgesellschaftliche Gegenbewegung, die die Potentiale der neuen Technologie für sich erkennt und und eine demokratische und soziale digitale Ökonomie einfordert.

[1]Schreiben von DIGITALEUROPA an Handelskommissarin Malmström; Link: https://www.asktheeu.org/de/request/4525/response/15558/attach/16/4.Ares%202014%204214815%2021.11.2014%20Redacted.pdf

[2]Europäische Union (2015): Trade for all, S. 12; Link: http://trade.ec.europa.eu/doclib/docs/2015/october/tradoc_153846.pdf

[3]European Digital Rights (2018): EU-Japan trade agreement not compatible with EU data protection; Link: https://edri.org/eu-japan-trade-agreement-eu-data-protection/

[4]Durch die Auswertung von Facebook-Likes lassen sich Merkmale wie Religionszugehörigkeit oder die politische Gesinnung mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit ermitteln. Das Unternehmen Cambridge Analytica brüstet sich damit, die US-Präsidentschaftswahl 2016 auf Basis von Facebook-Daten beeinflusst zu haben siehe:https://www.dasmagazin.ch/2016/12/03/ich-habe-nur-gezeigt-dass-es-die-bombe-gibt/?reduced=true

[5]Scholz, Trebor (2014): Platform Cooperativism vs. the Sharing Economy, in: Medium vom 5.12.2014; Link: https://medium.com/@trebors/platform-cooperativism-vs-the-sharing-economy-2ea737f1b5ad

 

 

 

Der Artikel erschien zuerst auf https://theorieblog.attac.de/?p=1106 /  info@attac.de  und wird hier mit freundlicher Genehmigung gespiegelt.

Bild: pixabay cco