Am 2. Oktober hatten sich die Staats- und Regierungschefs der EU in Kopenhagen getroffen. Es ging um die Abwehr vermeintlicher Drohnenangriffe aus Russland und um die Frage, wie das eingefrorene russische Vermögen vereinnahmt werden kann, ohne es offiziell zu enteignen.
Erbitterte Gegenwehr
Seit die USA sich aus der Unterstützung der Ukraine zurückgezogen haben, stehen die Europäer mit dem Rücken zur Wand. Zwar sah es vorher schon nicht rosig aus, weil trotz aller Waffenlieferungen und Zuschüsse an die Ukraine der Vormarsch Russlands nicht aufgehalten werden konnte, nun aber kommen noch Geldsorgen hinzu. Der Krieg und der ukrainische Staat sind aus den Mitteln der Europäer alleine nicht mehr lange zu finanzieren. Der Rest des politischen Westens scheint wie die USA auch das Interesse an dem Konflikt zu verlieren.
Alleine die Europäer halten verbissen durch, weil sie Opfer ihrer eigenen Hirngespinste sind: Wenn Russland gewinnt, dann bedeutet das den Untergang Europas, was immer darunter auch zu verstehen sein mag. Endzeitstimmung macht sich breit. Aber die Führungskräfte aus Medien, Wissenschaft und Politik glauben fest daran. Das ist keine Täuschung der Bürger, wie manche glauben. Die europäische Führungsriege ist fest davon überzeugt, dass „unsere“ Freiheit, „unsere“ Werte und das westliche Lebensgefühl bedroht sind, wenn Putin diesen Krieg gewinnt.
Deshalb die erbitterte Gegenwehr, und dafür müssen Opfer gebracht werden. Aber die Opferbereitschaft der Menschen hat Grenzen. Das Beispiel Frankreich zeigt, wohin es führen kann, wenn sie überschritten werden. Das ist die Zwickmühle, in der sich europäische Politik bewegt. Das Geld reicht nicht mehr, um den Krieg und den ukrainischen Staat zu finanzieren. Die Bürger sind gereizt, und die Finanzmärkte sind nervös. In dieser ausweglosen Lage scheint die einzige Rettung in der Enteignung des beschlagnahmten russischen Vermögens zu bestehen, will man den Krieg und die Ukraine nicht verloren geben.
Dass man mit der Enteignung nicht nur gegen das Völkerrecht, sondern auch gegen eigene Werte und wirtschaftliche Interessen verstößt, ist den Beteiligten bewusst. Aber der Druck ist inzwischen so groß, dass immer öfter Bedenken über Bord geworfen werden. Besonders von grüner Seite werden Einwände heruntergespielt, Investoren könnten der EU und dem Euro den Rücken kehren. Kaltschnäuzig kontert man, wo diese denn sonst ihr Geld anlegen wollen. Inzwischen ist der Zynismus schon so weit fortgeschritten, dass man es sogar als unmoralisch ansieht, sich an Gesetz und Moral zu halten. „Das Geld einfach unangetastet zu lassen, ist sowohl praktisch als auch moralisch unhaltbar geworden.“(1).
Juristische Eiertänze
Bei wachsendem finanziellen Druck und dem militärischem durch Russlands Vorrücken, der nachlassenden Wirtschaftskraft und dem Sinken der moralischen Schwellen bleibt nur noch die juristische Frage als letztes Hindernis. Wie kann die Enteignung als etwas anderes als eine Enteignung dargestellt werden? Dabei geht es weniger um rechtlich saubere Argumentation sondern darum, dass Investoren aus anderen sogenannten autokratischen Staaten sich vor ähnlichen Enteignungen sicher fühlen können.
Grüne wie Hofreiter sind der Meinung, dass es zu den westlichen Kapitalmärkten keine Alternative für Investoren gibt, weshalb man auch nicht so viel Aufhebens machen soll um deren Befindlichkeiten. Dass internationale Geldgeber das anders sehen könnten, auf diesen Gedanken scheint er nicht zu kommen. Vielleicht sind aber gerade solche Befürchtungen Gründe dafür, dass zunehmend Geld nach China und ins Gold fließt statt in europäische Anleihen.
Grüne Besserwisserei wird nur noch übertroffen von der naseweisen Außenbeauftragten der EU, Kaja Kallas. Sie scheint zu glauben, Investoren mit der Aussage beruhigen zu können: „Wenn sie keinen Krieg gegen Europa beginnen, dann gibt es für sie auch kein Risiko“(2). Offensichtlich ist der Realitätsverlust schon so weit fortgeschritten, dass sie gar nicht mehr merkt, dass Russland keinen Krieg gegen Europa führt, man aber trotzdem dessen Vermögen einziehen will.
Deutlich dagegen warnt die Europäischen Zentralbank (EZB) vor einem solchen Schritt, weil die Reaktionen der Finanzmärkte nicht absehbar seien. Aber unter dem Druck der Verhältnisse und der eigenen bockigen Haltung gegenüber Verhandlungen mit Russland schwinden die Bedenken in der Politik. Galt bisher als ausgemacht, dass das russische Vermögen nur stillgelegt und nicht angetastet werden soll, so war der erste finanztechnische Sündenfall bereits die Veruntreuung der Zinsen auf dieses Vermögen. Aus dessen vorenthaltenen Erträgen finanzierte man eine 50 Milliardenanleihe für die Ukraine, teilweise auch direkte Waffenkäufe (3).
Inzwischen scheint die EU an dem Punkt angekommen zu sein, der eine grundlegende Entscheidung zwingend erforderlich macht: Entweder man stellt die Finanzierung der Ukraine ein, wobei selbst bei einer Mittelkürzung die Ukraine allein nicht in der Lage wäre, den Krieg und ihre staatlichen Aufgaben zu stemmen. Oder aber man führt die Enteignung des russischen Staatsvermögen durch in welcher Form auch immer. In der EU scheint sich diese Lösung immer mehr durchzusetzen.
Neues Etikett
Nun aber ist dieser Schritt nicht so einfach, wie Kallas oder einige Grüne in ihrer Verblendung und Überheblichkeit glauben. Die Frage ist am Ende, wie die Finanzmärkte einen solchen Schritt bewerten und vor allem, wie Russland darauf reagieren wird. Anscheinend glauben führende Mitglieder der EU-Kommission tatsächlich ihren eigenen Wunschvorstellungen „man habe nun „einen soliden rechtlichen Weg“ dafür gefunden, indem man die Vermögen nicht einziehe, sondern sie als Sicherheit für einen Kredit verwende“(4).
Es wäre aber nicht das erste Mal, dass europäische Führungskräfte sich in Bezug auf Russland und die Realitäten in der Welt schwerwiegend geirrt haben. Sie scheinen überzeugt, dass der Rest der Welt nicht umhin kann, die Dinge so zu sehen wie sie selbst. Glauben sie allen Ernstes, dass die Verschleierung der tatsächlichen Enteignung nicht durchschaut wird und man sich von schönfärberischen Worten aus Brüssel übertölpeln lässt? Auch wenn man von Russlands Geld 140 Milliarden Euro umetikettiert in ein sogenanntes Reparationsdarlehen, bleibt es trotzdem eine Enteignung.
Das sieht auch Belgiens Ministerpräsidenten Bart De Wever so: „ Wenn ich Ihr Geld nehme und es verwende, würden Sie das wohl Konfiszierung nennen.“ (5). Denn dieses Darlehen ist mit Werten unterlegt, die dem Kreditnehmer gar nicht gehören. An wem also sollen sich Geldgeber schadlos halten, wenn das Darlehen nicht bedient wird? Wer haftet am Ende? Die ganze Konstruktion der Europäer baut auf der Annahme und Hoffnung auf, dass Russland den Krieg verliert und auf Grund dieser Niederlage Reparationszahlungen zustimmen muss, die es dann auch bedient.
Doch wer sollte Russland zwingen können, Reparationen zu zahlen, selbst bei einer Niederlage? Auch die USA haben ihre Zahlungsverpflichtungen gegenüber Vietnam nie eingehalten, denn Vietnam war nicht in der Lage, die zugesagten Gelder einzutreiben. Sie konnten zwar die Amerikaner aus ihrem Land vertreiben, aber sie konnten nicht in den USA einmarschieren, um ihre Ansprüche umzusetzen. Mit Russland wäre das ähnlich. Kein Land der Welt würde versuchen, sich an Werten auf russischem Boden schadlos zu halten, wie seinerzeit Frankreich nach dem ersten Weltkrieg sich an der Produktion im Ruhrgebiet für seine ausstehenden Reparationen gütlich hielt.
Dass dieses Kredit- und Tilgungskonzept auf Sand gebaut ist, weiß man in Brüssel. Denn selbst in der EU-Kommission glaubt kaum jemand daran, „dass Moskau jemals für die Schäden gerade steht, die es mit seinem Krieg angerichtet hat“(6). Das wissen aber auch eventuelle Geldgeber. Diese werden nur Geld geben, wenn der Kredit ausfallsicher hinterlegt ist. Aus diesem Grund „sollen die Mitgliedstaaten aus ihren Haushalten für die Kredite garantieren – bei einem Ausfallrisiko von praktisch 100 Prozent.“(7) Das ist der Trick, mit dem Geldgeber und Steuerzahler geblendet werden sollen. Ersteren kann es egal sein, wer die Zeche zahlt, letztere aber werden an anderer Stelle für diese Kreditgarantien bluten müssen.
Wer zahlt die Zeche?
Das Geld lagert zum größten Teil bei Euroclear in Belgien. Dessen Regierung will nicht alleine die Haftung übernehmen, wenn es nicht so läuft, wie es sich die superschlauen Planer um die Kommissionspräsidentin ausgedacht haben. Diese glauben offensichtlich, die Rechnung ohne den Wirt in Moskau machen zu können und scheinen nicht sehen zu wollen, wie oft sie sich damit seit 2022 schon verrechnet haben. Wie oft wurden sie Opfer ihrer eigenen Wunschvorstellungen? Aber bisher haben sie das nicht wahrhaben wollen oder sich dann doch irgendwie über ihre Fehleinschätzungen hinweg täuschen können.
Belgien jedenfalls hat erhebliche Bedenken gegen dieses Verfahren. „Putins Geld nehmen und die Risiken uns überlassen, das wird nicht passieren“(8), hatte Belgiens Regierungschef De Wever schon früh klargestellt. Den schönfärberischen Sichtweisen der Kommissionsvertreterinnen scheint er nicht so recht zu trauen. Von der Leyen und Kallas scheinen nicht wahrhaben zu wollen, dass man sich in vollkommen „unbekannte Gewässer [begibt]. Es gibt keinen Präzedenzfall“(9). De Wever befürchtet, dass man sich in jahrelange juristische Auseinandersetzungen verstricken wird mit ungewissem Ausgang. Denn noch fühlen sich Gerichte im politischen Westen den rechtsstaatlichen Grundsätzen verpflichtet, die im Ernstfall auch für Russlands Ansprüche gelten.
Aber auch Frankreich steht den Plänen kritisch gegenüber. Angesichts der inneren Probleme kann es sich keine Turbulenzen an den Finanzmärkten erlauben. Eine Flucht aus europäischen Anleihen mit einem entsprechenden Zinsanstieg ist genau das, was Frankreich im Moment am wenigsten gebrauchen kann. So beschwört denn Präsident Macron wie auch die EZB-Chefin Christine Lagarde die Furien des Hasses auf Russland: „Wir sollten darauf achten, dass wir ein attraktiver und zuverlässiger Ort bleiben“ (10).
Die großen europäischen Staaten wie Frankreich, Italien und Deutschland sind auf Anleihekäufer wie Saudi-Arabien und Qatar angewiesen, alles nicht gerade lupenreine Demokratien. Diese könnten ein ähnliches Schicksal befürchten wie Russland und deshalb nicht nur europäischen Anleihen meiden sondern vielleicht sogar abstoßen. Aber diese Bedenken scheinen bei den Damen in Brüssel nicht anzukommen. Mit gewagten Gedankengebäuden und weltfremden Argumenten versuchen sie, ihre antirussischen Pläne durchzusetzen.
Um die Belgier zu beruhigen, hat sich die EU-Kommission ausgedacht, dass das „Geld von Euroclear zwangsweise an die EU übertragen wird. Dann müsste Russland gegen die EU klagen, wenn es das
Geld zurückhaben will“ (11). Der Gedanke dahinter ist wie seinerzeit zwischen den USA und Vietnam: Wer wird schon gegen die EU klagen? Und selbst wenn Russland juristisch obsiegt, wie will es dann das Geld eintreiben? Doch wie rechtssicher sind solche Wunschgebilde? Kann Euroclear überhaupt gezwungen werden, das beschlagnahmte Geld an die EU zu übertragen?
Wenn aber wirklich alles nach den Wunschvorstellungen der Brüsselerinnen laufen sollte, stellt sich doch die für die Zukunft wesentlich wichtigere Frage: Wer will dann in der EU noch sein Geld anlegen, wenn mit solchen Tricks gearbeitet wird, die immer mehr auf die Täuschung der Anleger hinauslaufen, als Rechtssicherheit zu gewährleisten. Doch der eigene Schaden scheint von der Leyen und Kallas nicht so wichtig wie der Schaden, den man Russland glaubt zufügen zu können.
Anmerkungen:
(1) Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) 6.10.2025 Russlands: Geld zur Verteidigung der Ukraine (zitiert aus „Politiken“ Kopenhagen)
(2) FAZ 2.10.2025: Ein Kredit, keine Enteignung
(3) Siehe Rüdiger Rauls: Der russische Batzen
(4) FAZ 2.10.2025: Ein Kredit, keine Enteignung
(5) FAZ 4.10.2025: In alle Richtungen abwehrbereit
(6) FAZ 2.10.2025: Ein Kredit, keine Enteignung
(7) FAZ 4.10.2025: Ein neues EU-Schuldenvehikel
(8, 9, 10, 11) FAZ 2.10.2025: Ein Kredit, keine Enteignung
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Der Autor:
Rüdiger Rauls ist Reprofotograf und Buchautor. Er betreibt den Blog Politische Analyse.
Bild: service revolver CC BY-SA 3.0