„Wenn uns zugemutet werden soll, auf unsere französischen Brüder zu schießen, so sagen wir: Nein, das tun wir nicht!“ Diese Worte sprach Rosa Luxemburg im Herbst 1913 während einer Rede in Frankfurt am Main. Die Worte waren ein Verbrechen, für das sie ein Jahr ins Gefängnis musste.
Rosa Luxemburg wusste, dass die große Masse der arbeitenden Männer und Frauen die Folgen der Kriege zu tragen haben. Unter ihnen würde es keine Kriegs-Gewinner:innen geben. Unzählige tote und verletzte Soldaten und Zivilpersonen, zerstörte Städte, Dörfer, Landschaften und Industrieanlagen würden der Preis für die Konkurrenz zwischen den verschiedenen Ländern um Kolonien, Rohstoffe und Absatzmärkte sein. „Nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus“, schrieben sich Sozialistinnen nach den beiden Weltkriegen auf die Fahnen.
Flüchten oder Standhalten?
Als Russland die Ukraine am 24. Februar 2022 überfiel, war das für viele Menschen kaum zu fassen. Seit Februar tobt der Krieg, kostet Menschenleben und verwüstet Stadt und Land. Bis Ende Mai 2022 sind rund 6,8 Millionen Menschen aus der Ukraine geflohen. Weitere etwa 6,5 Millionen wurden zu Binnenvertriebenen, obwohl es weder in den Städten noch auf dem Land wirklich sichere Orte gibt. Nach einer Befragung im Auftrag des Bundes-Innenministeriums waren 84 Prozent der geflüchteten Frauen, von denen 58 Prozent mit ihren Kindern geflohen sind. Das Durchschnittsalter der Geflüchteten beträgt 38 Jahre. Einzelpersonen waren vor allem ältere Frauen. Die meisten „vorübergehend Vertriebenen“, wie sie sich selbst oft bezeichnen, sind Frauen und Familien, die aus Großmutter, Mutter und Kind oder Kindern bestehen. Viele haben die Hoffnung, so bald wie möglich wieder in die Ukraine zurückkehren zu können. Die Hilfsbereitschaft in der Bevölkerung ist groß. Viele Freiwillige helfen, sonst wäre es nicht möglich gewesen, so viele Menschen zu versorgen.
Zu bleiben oder das Land zu verlassen, ist eine schwere Entscheidung. Die Männer mussten bleiben, um die Ukraine zu „verteidigen“. Nicht nur Soldat:innen, auch die Zivilbevölkerung, darunter Kinder und Jugendliche, sind vielerorts in Lebensgefahr. Das UN-Hochkommissariat für Menschenrechte zählte bis zum 30. Mai 2022 mindestens 4074 Todesopfer in der ukrainischen Zivilbevölkerung, darunter 262 Kinder. Hinzu kamen mindestens 4.826 verletzte Zivilpersonen, darunter 415 Kinder. Die Dunkelziffer dürfte nach Angaben der Kommission wesentlich höher sein. Die Gewalt findet kein Ende. Zahlreiche Verhandlungsrunden zwischen russischen und ukrainischen Vertreter:innen sowie internationale Vermittlungsversuche liefen ins Leere. Hilfskonvois mit Lebensmitteln und Medikamenten wurde der Zugang erschwert oder verwehrt.
Der Entschluss der Bundesregierung, schwere Waffen in die Ukraine zu liefern, spaltete die Bevölkerung. Bundeskanzler Olaf Scholz sprach, nachdem er seine anfänglichen Bedenken zerstreut hatte, von einer „Zeitenwende“ in der Außen- und Sicherheitspolitik. Wer sich gegen Waffenlieferungen stellt, sei „aus der Zeit gefallen“, weil die Forderung „Nie wieder Krieg“ immer noch an „pazifistischen Illusionen“ hänge. Pazifistinnen müssen sich vorwerfen lassen, dass Krieg eben für „andere Völker“ ein Mittel der Politik sei, und dass „wir“ uns da nicht raushalten können. „Wir“ würden sie die Kohlen aus dem Feuer holen lassen, um uns selbst nicht zu verbrennen.
Militärische Verteidigungsfähigkeit ist wieder ein hohes Ziel der nationalen Politik. Patriarchale Machtstrukturen und aggressive Formen von Diskriminierung von marginalisierten Gruppen verfestigen sich, auch bei den Männern und Frauen der Partei Die Grünen, die von der Frauen- und Friedensbewegung zur stärksten Befürworterin der Kriegsunterstützung geworden sind. Sie wollen nicht nur die angegriffene Ukraine mit schweren Waffen versehen, sondern auch den eigenen Staat aufrüsten, damit im Konfliktfall auch dessen Territorium und Souveränität verteidigt werden können. Die 100 Milliarden „Sondervermögen“ für die Bundeswehr sollen nur der Anfang sein, um als Nato-Partner funktionieren zu können.
Frauen in den Friedensbewegungen haben schon vor vielen Jahren die Zusammenhänge zwischen Militarismus, Männlichkeitsnormen und Krieg aufgezeigt. Heute fordern sie „Abrüsten statt Aufrüsten! Und Geld für Pflege, für Bildung, Klimaschutz und Soziales!“ Die feministische Friedensforscherin Hanna Muehlenhoff wies darauf hin, dass die gelieferten Waffen mit Sicherheit russische Soldaten töten werden, bezweifelt aber, dass sie das Leben der ukrainischen Bevölkerung und vor allem der Frauen und Kinder schützen können. Der Nachschub an Waffen ist immens und die ukrainische Regierung drängt auf immer neue Lieferungen und moderne Systeme. Profiteure sind die Rüstungskonzerne.
Frauen sind während der Kriege Gefahren ausgesetzt
Es sind immer noch vor allem Männer, die den Krieg führen. Sind sie zwischen 18 und 60 Jahre alt, dürfen sie die Ukraine nicht verlassen. Das traditionelle Geschlechtermuster: Frauen und Kinder fliehen – Männer kämpfen an der Front, stimmt jedoch nicht mehr. In der Ukraine dienen seit 2014 auch Frauen in den Kampfeinheiten; in Russland seit 1992. Sie melden sich auf beiden Seiten freiwillig. Proteste gegen den Krieg kommen ebenfalls sowohl von Frauen und Männern aus der Ukraine und aus Russland. Sie verweisen darauf, dass man Konflikte nicht lösen kann, indem man Bomben auf ein Land wirft.
Frauen, die allein auf der Flucht sind, waren immer besonderen Gefahren ausgesetzt. Schon seit Kriegsbeginn in der Ukraine häufen sich Berichte von Ausbeutung und Menschenhandel, sexualisierter Gewalt sowie rassistischen Übergriffen und Diskriminierung von Frauen und Kindern an Grenzübergängen, in Zügen und in Aufnahmelagern. Mit zunehmender Fluchtbewegung verschlimmerte sich die Situation. Nach wie vor fehlt es an sicheren Fluchtrouten aus der Ukraine, aus Afghanistan und anderen Krisenregionen dieser Welt. Frauenorganisationen forderten die Bundesregierung, die Länder und die Kommunen auf, eine menschenwürdige Aufnahme sowie einen effektiven Gewaltschutz für alle Geflüchteten zu gewährleisten und dabei die besonderen Bedürfnisse geflüchteter Frauen nicht außer Acht zu lassen. Deutschland sei dazu durch die Istanbul-Konvention verpflichtet, deren vollumfängliche Umsetzung die Bundesregierung im aktuellen Koalitionsvertrag verankert hat. Das Asylbewerberleistungsgesetz verpflichtet die Länder zudem, menschenwürdige Unterkünfte bereitzustellen.
Feministinnen des Berliner Frauennetzwerks verweisen darauf, dass die Gleichbehandlung aller geflüchteten Frauen, egal aus welchen Ländern sie kommen und welche Hautfarbe sie haben, nicht gewährleistet sei. Das gilt auch im Hinblick auf die Arbeitsaufnahme, die oft zu besonderen Belastungen und zu geschlechts- und herkunftsbestimmter Ausbeutung führt.
Sie begrüßen die Erleichterungen und die größere Offenheit, die die Fluchtbewegung aus der Ukraine für viele bewirkte, verlangen aber, dass andere Geflüchtete auch die Vorteile genießen können und dass bestehende Ungleichheiten für immer abgebaut werden. Das gilt vor allem für die „Drittstaatler“, die Nicht-Ukrainer:innen, die aus der Ukraine geflohen sind. Schließlich seien sie vor dem gleichen Krieg mit den gleichen Bomben geflohen.
Sexualisierte Kriegsgewalt
Der bewaffnete Konflikt im Osten der Ukraine hat sich bereits seit 2014 massiv auf den Alltag der dort lebenden Menschen ausgewirkt. Aus den aktuellen Kriegsgebieten berichten Überlebende über traumatische Kriegserfahrungen, Folter, Vergewaltigung und andere Formen sexualisierter Gewalt. Viele Frauen reden nicht darüber, weil Vergewaltigung noch immer ein Tabu ist; eine Schande für sie, die Männer und für die ganze Familie darstellt. So wird das Verbrechen oft verharmlost und verschwiegen, obwohl es weltweit während bewaffneter Konflikte verbreitet ist und es sich um ein schweres Kriegsverbrechen handelt, das vor allem Frauen und Mädchen betrifft. Organisationen wie Human Rights Watch warnen davor, dass Russland sexuelle Gewalt als Waffe einsetze und dass „die russische Armee“ der schlimmen Tradition folge, Vergewaltigung als Mittel einzusetzen, das gezielt gegen die ukrainische Zivilbevölkerung gerichtet ist. Ziel sei die Unterdrückung des Feindes durch die Demütigung von Frauen.
Auch Berichte von Frauen, die nach einer Vergewaltigung schwanger geworden sind, kommen aus den Kriegsgebieten. Viele der betroffenen Ukrainerinnen sind nach Polen geflohen, denn die wichtigste Fluchtroute führt über Polen. Ein Schwangerschaftsabbruch in Polen ist jedoch schier unmöglich, weil Polen eines der härtesten Abtreibungsgesetze Europas hat. Abtreibungen sind nur legal bei unmittelbarer Gefahr für das Leben der Schwangeren. Vergewaltigungen gelten nur dann als Abtreibungsgrund, wenn sie strafrechtlich belegt sind. Das ist grundsätzlich schwer, in Kriegszeiten kaum möglich. „Zum Beispiel, weil die Opfer es vorziehen, nicht darüber zu sprechen. Vielleicht schämen sie sich, vielleicht wollen sie das Erlebnis nicht noch einmal durchleben,“ erklärt eine polnische Sozialarbeiterin. Zudem sei es unwahrscheinlich, dass Opfer jemandem begegnen, dem sie den Vorfall melden können: „Da muss man sich bei der Polizei melden und davor haben viele F rauen Angst“. Unter dem Gesetz leiden auch Frauen, die aus anderen Gründen als Vergewaltigung eine ungewollte Schwangerschaft abbrechen wollen. In der Ukraine sind Abbrüche bis zur 22. Schwangerschaftswoche gesetzlich erlaubt. Vor dem Krieg sind Polinnen in die Ukraine gefahren, um abzutreiben.
Eine sichere Beendigung der Schwangerschaft ist aber für viele Frauen, besonders nach einer Vergewaltigung, der erste Schritt, um wieder Mut zu fassen. Die Frauenrechtsgruppe „Ciocia Basia“ (Tante Barbara), ein feministisches Kollektiv von freiwillig oder ehrenamtlich arbeitenden Frauen, kümmert sich um ungewollt schwangere Frauen in Polen. Es steht nun auch für Frauen offen, die aus der Ukraine nach Polen geflüchtet sind. Sie bekommen Hilfe, um in Deutschland einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen zu können. Allerdings steht auch in Deutschland ein Schwangerschaftsabbruch unter Strafe. Er ist nur unter bestimmten Bedingungen, dazu gehört eine Zwangsberatung, während der ersten zwölf Wochen nach der Empfängnis straffrei.
Das EU-Parlament hat Aufnahme- und Transitländer aufgefordert, Schwangerschaftsabbrüche zu ermöglichen. „Es ist absolut nicht hinnehmbar, dass Frauen, die in Polen Zuflucht suchen, dazu gezwungen werden, ein Kind auszutragen, das das Ergebnis einer grausamen Vergewaltigung ist“, sagte Robert Biedro ` n, Vorsitzender des EU-Ausschusses für die Rechte von Frauen, der den Antrag eingebracht hat. Doch ein Einlenken der polnischen Regierung ist nicht abzusehen. Auch durch die kürzlich vom Uno-Sicherheitsrat verabschiedete Resolution gegen sexuelle Gewalt in Konfliktgebieten wurde nicht viel erreicht. Das Thema bleibt auf der Tagesordnung. Inzwischen hilft auch das Netzwerk „Abtreibung ohne Grenzen“, das aus sechs Organisationen, darunter auch Ciocia Basia, besteht, mit Medikamenten per Post oder vermittelt Abtreibungen in anderen Ländern. Seit dem 1. März haben sich dort 323 betroffene Ukrainerinnen gemeldet – wie viele von ihnen Vergewaltigungsopfer si nd, ist unbekannt. Mit steigenden Zahlen wird gerechnet.
Für die Zukunft geht es nicht nur um die Abwesenheit von Gewalt, sondern um das Bekämpfen struktureller Gewalt, das heißt jeglicher Form der Diskriminierung von Frauen und marginalisierten Gruppen. Die feministische Forschung hat gezeigt, dass Militarismus und Krieg diesen Zielen im Wege stehen.
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Die Autorin:
Gisela Notz ist Sozialwissenschaftlerin und Historikerin, Mitbegründerin des „Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung“, Redakteurin von Lunapark21.
Der Beitrag erschien auf https://www.lunapark21.net/ und wird mit freundlicher Genehmigung hier gespiegelt. Bildbearbeitung: L.N.