Das gab es auch schon vor Corona: der strafende Staat bekämpft die Armen

Vor dem Hintergrund eines globalen Kapitalismus mit seinen sozialen Desintegrationsprozessen gibt es mittlerweile kaum ein gesellschaftliches Problem mehr, auf das seitens der Politik mit der Verschärfung des Strafrechts reagiert wird.

Nicht nach den Ursachen fragen, sondern mit dem Strafgesetzbuch drohen, ist die neue Ausrichtung. Die Kriminalität wurde von der Politik für die Gunst bei den Wählern, der Machterhaltung und von den Medien für die Zustimmung der Konsumenten genutzt. Beide, Politik und Medien spielen sich die Bälle zu. Bei dem Spiel werden spektakuläre Einzelfälle aufgebauscht, die öffentliche Erregung führt zur Verschärfung der politischen Rhetorik, darauf  folgt dann der Ausbau der Überwachung, die strafrechtliche Kontrolle schon im Verdachtsfall und der strafende Staat als Bewahrer von Recht und Ordnung.

Um die Ruhe im Land zu wahren, werden die Überwachung noch umfassender, die Polizeigesetze verschärft und zur Durchsetzung des Gewaltmonopols die Sicherheitskräfte militärisch aufgerüstet.

Das Autoritäre ist der Versuch, die Kontrollverluste, die entstanden sind, wiederherzustellen.

Wer sich dem entgegenstellt, wird als Staatsfeind betrachtet, ihm der starke Staat vorgeführt und er unter die Knute von Staatsschutz, Ordnungskräften und Staatsanwaltschaft gestellt.

Die Folgen des Neoliberalismus zeigen sich zunehmend als Prozess der sozialen Zersplitterung der Gesellschaft, bei dem es immer mehr Verlierer gibt. Die Auswirkungen der Reformen der „Agenda 2010“ die von der rot-grünen Koalition Anfang des Jahrhunderts auf den Weg gebracht wurden, haben der politischen Kultur und dem sozialen Klima im Land dauerhaft geschadet. Der Arbeitsmarkt wurde dereguliert und der deutsche Niedriglohnsektor zum größten innerhalb der OECD aufgebaut.

Parallel dazu wurde der Sozialstaat demontiert und eine Steuerpolitik betrieben, die den Reichen mehr Reichtum und den Armen mehr Armut gebracht hat. Der Mittelschicht wurde deutlich gemacht, dass ihr Abstieg jederzeit möglich ist. So reagieren die Stärkeren ihre Abstiegsängste, Enttäuschung und ihre Ohnmacht an den Schwächeren ab. Begleitet wird die Zersplitterung der Gesellschaft von dem Misstrauen gegenüber den Mitmenschen. Der Staat selbst sieht überall ein Sicherheitsproblem, das mit martialischen Einsätzen der Sicherheitskräfte entschärft werden soll, die gefühlte Bedrohung wird dann real erlebt und nach einem noch stärkeren Staat gerufen.

Bei diesem Prozess ist es erforderlich, Sündenböcke zu kreieren, die als Ursache für die wachsende soziale Ungleichheit dienen müssen und denjenigen, die nichts mehr haben, als strafender und disziplinierender Staat entgegen zu treten.

Der Ruf nach der Strafverschärfung und damit nach der Individualisierung der gesellschaftlichen Probleme soll den Menschen mit Abstiegsängsten und denen mit großen Vermögen einen starken Staat demonstrieren, der es versteht, die Ängste in Kriminalitätsfurcht zu kanalisieren.

Es ist kein Zufall, dass Arme härter bestraft werden als Reiche und für Bagatelldelikte drakonische Bestrafungen erfahren. Wenn man staatliches Strafen in Zusammenhang mit sozialen Ungleichheiten setzt, wird schnell deutlich, dass die Gefangenenraten eines Staates umso höher liegen, je größer die Einkommensunterschiede in der Gesellschaft sind.

Wenn soziale Probleme auf individuelle Schuld und individuelle Abweichung von Regeln reduziert werden, dann kann der Prozess der Selbstaufwertung des Einzelnen nur durch die Abwertung, Stigmatisierung und Diskriminierung anderer ablaufen. Bei der Schaffung neuer Straftatbestände und Bestrafung des Einzelnen sieht niemand mehr, dass die strukturellen Bedingungen, die die Taten begründen, geändert werden müssen.

Die enorme Wucht, mit der der Staat straft, wird bespielhaft besonders bei den folgenden Delikten und Sühnemaßnahmen deutlich: Schwarzfahren und Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz sind klassische Armutsdelikte und müssen mit Ersatzfreiheitsstrafen gesühnt werden.

Drogendelikte

Die Strafen für Drogendelikte sind extrem hoch, es gilt das Prinzip der flächendeckenden Kriminalisierung und der Grundsatz des Strafrechts, die Opfer vor den Tätern zu schützen, ist hier aufgegeben worden. Kleinste Vorbereitungshandlungen werden zu eigenständigen Taten umgedeutet und es entfällt die Unterscheidung zwischen Helfern, Anstiftern und Tätern. So wundert es kaum, dass 80 Prozent der zu Gefängnisstrafen verurteilten Drogentäter suchtmittelabhängige Kleindealer sind, die meistens selbst zu Opfern der Verbrechersyndikate wurden.

Die praktische Handhabe des Betäubungsmittelgesetzes bietet den Strafverfolgern mittlerweile eine Vielzahl von erlaubten oder nicht erlaubten Mitteln, wie Funkzellen-Auswertungen, elektronische Auswertung von Datenströmen, Trojanereinschleusung, Zugriff auf ausländische Server, Handy-Überwachungen, Bewegungsbilder, Wanzeneinsatz, Positionsbestimmung per GPS, IMSI-Catcher (Geräte zum Auslesen von Handys), Observationen, Innenraum-Überwachungen, heimliche Durchsuchungen, Strukturermittlungsverfahren, Video-Überwachungen, Finanzermittlungen, Verfallsanordnungen von Geld und Wertsachen, Einsatz von V-Leuten, vorgefertigte Sperrerklärungen zur Aktenunterdrückung und vieles mehr.

Hierbei sind nicht mehr die Staatsanwälte und Richter die Herren des Verfahrens, sondern der Zoll und die Polizei. Bei ihren konspirativen Aktionen entziehen sie sich weitgehend der Kontrolle. Die „Bekämpfung der Drogenkriminalität“ rechtfertig für sie alles, was sie machen und wie sie es machen.

Das Betäubungsmittelgesetz (BtMG) hat in seiner jetzigen Form keine Berechtigung mehr

Nach dem Betäubungsmittelgesetz ist jeder Umgang mit Betäubungsmitteln (Rauschgiften) ohne behördliche Genehmigung strafbar. Der Besitz auch einer geringen Menge, beispielsweise von Cannabisprodukten, ist grundsätzlich strafbar. Bei einer geringen Menge kann die Staatsanwaltschaft aber von der Strafverfolgung absehen. Eine Gewähr für die Einstellung des Verfahrens gibt es nicht. In jedem Fall hat die Polizei immer Strafverfolgungspflicht und führt in der Regel folgende Maßnahmen durch: vorläufige Festnahme, körperliche Durchsuchung, Einleitung eines Ermittlungsverfahrens, Mitteilung an die Führerscheinstelle wegen Drogen im Straßenverkehr, Durchsuchung der Wohnung, bei Personen unter 18 Jahren die Durchsuchung der Wohnung der Eltern.

Eine Einstellung des Verfahrens ist beim Handel mit Betäubungsmitteln immer ausgeschlossen, wenn die Tat in Schulen, Jugendheimen, Kasernen etc. begangen wurde und die Tat Kindern und Jugendlichen Anlass zur Nachahmung geben könnte.

Ein Résumé nach 40 Jahren Betäubungsmittelgesetz:
  • Der Drogenkonsum ist unabhängig von strafrechtlicher Intervention. Die Konjunkturen des Drogenkonsums sind gänzlich unabhängig von gesetzlichen Regelungen.
  • Die Vorgängerregelung des BtMG (Opiumgesetze) sah als Höchststrafe drei Jahre Haft vor. Es gab zu Beginn der 1960er Jahre durchschnittlich drei Verurteilungen pro Woche in der ganzen Bundesrepublik Deutschland. Heute droht das Betäubungsmittelgesetz 15 Jahre Höchststrafe an und rund die Hälfte aller Untersuchungshäftlinge sind wegen Drogenvorwürfen in Haft.
  • Bezogen auf das geschützte Rechtsgut, die Gesundheit, hat sich das Gesetz als wirkungslos erwiesen.
  • Drogen hat es immer gegeben und die Lust darauf und die Genusssuche wird es immer geben. Im legalen Bereich z.B. bei Alkohol wird das nicht angezweifelt oder kritisiert. Es ist willkürlich bestimmt, dass einige Drogen davon illegal sind.
  • Mit nichts anderem ist die Justiz mehr beschäftigt, als mit der Drogenkriminalität. Dennoch ist kein erwünschter Effekt der Strafverfolgung, wie eine geringere Nachfrage nach illegalen Betäubungsmitteln oder ein geringeres Angebot erkennbar. Die Prohibition ist seit vier Jahrzehnten vollkommen unwirksam.
  • Die Drogenprohibition hat rechtsstaatliche Prinzipien verdrängt. Die Justiz und der Gesetzgeber verweigern die kritische Bestandsaufnahme. Die Gerichte lassen im Regelfall grenzwertige oder rechtswidrige Ermittlungsmethoden der Polizei regelmäßig durchlaufen. Die Vernachlässigung der Kontrollfunktion der Gerichte wird damit gerechtfertigt, dass, je größer der Verdacht auf einen Drogenhandel ist, desto geringer ist die Voraussetzung zur Einhaltung rechtsstaatlicher Standards und Beschuldigtenrechte. Die Gesetzgebung versagt hier ebenfalls als Korrektiv: Im Betäubungsmittelbereich folgt das Gesetz der polizeilichen Praxis, nicht die polizeiliche Praxis dem Gesetz.
  • Die Beschaffungskriminalität ist eine weitere Folge der Prohibition. Jeder Mensch kann zum Opfern von Einbrüchen, Raubüberfällen und Betrug werden. Diese Delikte dienen dazu, die durch den Schwarzmarkt maßlos erhöhten Preise auch bezahlen zu können. Darüber hinaus ist eine weltweite Schattenwirtschaft mit riesigen Profitraten entstanden, das Geld wird gewaschen und fließt in den Wirtschaftskreislauf zurück. Der wirtschaftliche Schaden ist immens.
  • Seit 40 Jahren werden die Menschen durch die Medien und die Politik falsch informiert. Einzelne Problemfälle, wie Drogentote, werden immer wieder massiv dramatisiert. Der Tod wurde immer der Droge zugeschrieben, er hätte aber vor allem dem Strafrecht als Ursache zugeschrieben werden müssen. Drogentote gibt es in der Regel durch Unkalkulierbarkeit der Dosis, durch Beimengungen und gesundheitliche Risiken der Lebensumstände. Bei sinnvoller Aufklärung und durch eine Verschreibungspflicht von Drogen hätte es auf jeden Fall weniger Tote gegeben.
  • Junge Menschen werden unnötig der Kriminalisierung ausgesetzt. Sie werden als Kriminelle geführt, weil ein Genuss verfolgt wird, ohne dass sie jemand geschadet haben. Sie begehen opferlose Delikte, bei denen kein Rechtsgut verletzt wird. Jeder darf Drogen konsumieren, das ist an sich nicht strafbar und von der Verfassung her gedeckt, aber man kann eben nicht konsumieren, ohne sich strafbar zu machen, z.B. wegen des Besitzes.
  • Seit 20 Jahren wird schon auf die gesetzliche Umsetzung der Vorgaben des Bundesverfassungsgerichtes zur Straflosigkeit des Besitzes geringer Mengen Cannabis gewartet. Im Gegenteil, die Strafbarkeit im Betäubungsmittelrecht wird immer weiter verschärft. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes reicht das ernsthafte Gespräch über ein Drogengeschäft zur Verwirklichung des Tatbestandes des vollendeten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge schon aus.
  • Das Strafrecht erzielt seine Wirkung nicht, vielmehr zeigt es unbeabsichtigte Nebenwirkungen, wie den Schwarzmarkt mit all seinen Folgen z.B.: dem Drogenkrieg in Süd- und Mittelamerika mit hunderttausenden Toten und die Finanzierung des Terrorismus weltweit durch den Opiumhandel.

 

Im Frühjahr 2014 haben 122 deutsche Strafrechtsprofessoren eine Resolution unterzeichnet, in der sie eine Entkriminalisierung der Drogen verlangten. Es war ein Versuch, die ursprüngliche Funktion des Parlaments wieder zu wecken, da verfassungsrechtlich die Gesetze eigentlich wissenschaftlich begründet und überprüfbar sein müssen. Die Zielsetzung  war, unabhängig von der Frage, ob Drogen gefährlich sind oder nicht, dass die Politik sich mit der derzeitigen unhaltbaren Situation, die sich aus dem Betäubungsmittelgesetz ergibt, auseinandersetzt. Die Wissenschaftler bezeichnen die strafrechtliche Verfolgung als gescheitert, sozial schädlich und unökonomisch.

Rechtsstaatlich wäre es erforderlich, ein solchermaßen nutzloses Gesetz wie das Betäubungsmittelgesetz abzuschaffen.

Bis auf einige Aktivitäten in den Landtagen, auf Initiative kleinerer Parteien, ist auch dieser Entkriminalisierungsversuch lautlos verpufft. Ebenso wie die Bemühungen, das Drogenproblem aus den strafrechtlich-polizeilichen Bereich in den sozial-gesundheitlichen Bereich zu verlagern.

Geblieben ist nur der Ruf nach mehr Repression.

Schwarzfahren

Schwarzfahren ist neben Ladendiebstählen, insbesondere von Lebensmitteln und dem sogenannten Containern ein klassisches Armutsdelikt. Die meisten Schwarzfahrer haben kein Geld für eine Fahrkarte und könnten ohne Nutzung der öffentlichen Verkehrsmittel nicht zur Arbeit, zur Schule, zum Jobcenter, zu Verwandten und Freunden kommen. Wer erwischt wird und nicht zahlen kann, wird irgendwann eingesperrt.

Schwarzfahren als Straftatbestand

Bereits im Jahre 1935 wurde Schwarzfahren als Straftatbestand normiert, weil man eine Strafbarkeitslücke schließen wollte. Schwarzfahren konnte nicht unter den Betrugstatbestand gefasst werden, weil kein Mensch da ist, den man betrügen kann. Wer in ein Verkehrsmittel einsteigt, trifft ja nicht auf Einlasskontrolleure, aus Fleisch und Blut, sondern zunächst nur auf andere Fahrgäste. Das Zauberwort für die juristische Auslegung des Tatbestandmerkmales beim Schwarzfahren ist der äußerst problematische Begriff „Erschleichen“. Der Begriff „Erschleichen“ beinhaltet immer das Element der Täuschung oder der Manipulation und unterstellt etwas mit List erringen zu wollen. Dies kann man annehmen, wenn jemand beispielsweise Kontroll- oder Zugangssperren umgeht, was beim Schwarzfahren aber gar nicht der Fall ist.

Der Bundesgerichtshof (BGH) weicht vom eigentlichen Wortsinn des „Erschleichens“ ab, der Tatbestand ist für ihn bereits dann erfüllt, wenn eine Person in ein Verkehrsmittel ohne gültigen Fahrschein einsteigt und sich wie ein normaler Fahrgast verhält. Diese Auslegung ist äußerst problematisch, obwohl sie vom Bundesverfassungsgericht (BVG) gebilligt wird. Denn bei allen Gesetzen, die in die Grundrechte eingreifen, ist auf die Bestimmtheit der Begriffe unbedingt zu achten.

Grundsätzlich sollte auch nicht jedes Verhalten, das man prinzipiell bestrafen könnte, auch bestraft werden. Sanktionen und die Strafe selbst sind dann legitim, wenn sie insgesamt positiven Nutzen für die Gesellschaft bringen. Diesen positiven Nutzen für die Gesellschaft kann man beim Strafen für das Schwarzfahren kaum konstruieren, da es sich um Bagatellfälle mit einem Wert von 2-4 Euro handelt, die Verfolgungskosten sich aber auf jährlich rund 15 Millionen Euro belaufen.

Dazu kommt noch, dass jemand, der schwarzfährt, meistens noch doppelt bestraft wird. Einmal bekommt er die Strafe fürs Schwarzfahren, das „erhöhte Beförderungsentgeld“ aufgebrummt, zum anderen bringt der Verkehrsbetrieb einen solchen Vorfall zur Anzeige und er bekommt zusätzlich noch ein Strafverfahren. Genau dass, darf es in einem Rechtsstaat nicht geben.

Der Deutsche Richterbund (DRB) hat neuerdings die Wertung des Schwarzfahrens als Straftatbestand infrage gestellt. Er geht davon aus, dass die Verkehrsbetriebe sich selbst durchaus besser gegen Schwarzfahrer wehren könnten. Doch um Geld zu sparen, setzen sie darauf, dass der Staat mit seiner unter Personalknappheit leidenden Strafjustiz dies für sie übernimmt. Die Forderung nach einer Streichung des entsprechenden Paragrafen geht dem Richterbund allerdings zu weit, er spricht sich lediglich dafür aus, das sogenannte Schwarzfahren als Tatbestand im Strafgesetzbuch zu überprüfen.

Die Verkehrsbetriebe wollen keine Gesetzesänderung, sie meinen, eine Entkriminalisierung sei der falsche Weg. Für sie ist Schwarzfahren „mit Sicherheit kein Kavaliersdelikt“, das nur durch die abschreckende Wirkung einer Gefängnisstrafe einzudämmen ist.

Doch der Hauptadressat für Änderungen ist und bleibt der Gesetzgeber, da er verfassungsrechtlich nach dem Sozialstaatsgebot verpflichtet ist, allen Bürgern Mobilität zu ermöglichen. Wer sich aufgrund von Versäumnissen des Gesetzgebers keine Teilnahme am öffentlichen Verkehr leisten kann, kann deshalb auch keine Straftat begehen.

Fahrscheinfreier Öffentlicher Personennahverkehr

Die ganze Debatte ums Schwarzfahren könnten wir uns sparen. Es ist keine utopische Zukunftsvision, den fahrscheinfreien Öffentlicher Personennahverkehr (ÖPNV) zu fordern. Es wäre leicht, in der Mobilität eine Gleichheit zu schaffen, die allen unabhängig von Einkommen und Vermögen eine Teilhabe ermöglicht. Doch auch hier kommt man über einige lokale Initiativen nicht hinaus.

Wie heftig aber derzeit noch reagiert wird, zeigt das Schicksal eines 75 Jahre alten Mannes, den kürzlich die Bundespolizei auf dem Bahnhof in Hamm festhielt. Acht Staatsanwaltschaften hatten ihn gesucht, drei hatten ihn zur Festnahme ausgeschrieben. 11-mal wurde er beim Schwarzfahren erwischt. Für das „Erschleichen von Dienstleistungen“ sollte er 1.700 Euro bezahlen. Das Geld hatte er nicht und musste dann 110 Tage Ersatzfreiheitsstrafe in der Justizvollzugsanstalt in Hamm absitzen.

Ersatzfreiheitsstrafe

Als Anfang des Jahres 2019 den neun Gefangenen die Flucht aus der Berliner Justizvollzugsanstalt Plötzensee gelang, kam auch das Thema der Ersatzfreiheitsstrafe in die Öffentlichkeit. In der Anstalt verbüßten damals 102 Männer eine Ersatzfreiheitsstrafe, davon 69 wegen Erschleichens von Leistungen, sie fuhren wiederholt mit öffentlichen Verkehrsmitteln ohne Ticket. Sie wurden dann zu einer Geldstrafe verurteilt, konnten oder wollten diese aber nicht zahlen und mussten daher die Freiheitsstrafe antreten.

Ende Oktober 2018 war ein 59-jähriger Gefangener in der Justizvollzugsanstalt Werl gestorben. Er hatte sich zuvor eine Auseinandersetzung mit Justizbeamten geliefert. In diesem Zusammenhang wurde bekannt, dass der Mann in Werl eine Ersatzfreiheitsstrafe von 100 Tagen absitzen musste und nach der körperlichen Auseinandersetzung mit Gefängnisbeamten einem plötzlichen Herztod erlegen ist.

Beide Fälle zeigen die Unangemessenheit dieser Bestrafung auf, bei der die Menschen in unglaubliche Stresssituationen versetzt werden, auch deshalb, weil bei den Bagatelldelikten wie das Schwarzfahren für gewöhnlich keine Pflichtverteidigung bestellt wird, sodass die angeklagten Personen auf sich allein gestellt sind.

Rechtlich fraglich

An die Stelle einer uneinbringlichen Geldstrafe tritt die Freiheitsstrafe. Einem Tagessatz entspricht ein Tag Freiheitsstrafe. Das Mindestmaß der Ersatzfreiheitsstrafe ist ein Tag. Konkret heißt das, wenn jemand zu 30 Tagessätzen à 15 Euro verurteilt wurde und diese nicht begleichen kann, muss er für 30 Tage ins Gefängnis.

Das ist aus verfassungsrechtlicher Sicht höchst problematisch. Denn die ursprünglich durch das Gericht (Judikative) verhängte Geldstrafe wird ohne richterliche Mitwirkung durch die Staatsanwaltschaft (Exekutive) in eine Freiheitsstrafe umgewandelt. Es wird hierbei keine Prüfung vorgenommen, ob die Person zahlungsunfähig oder zahlungsunwillig ist.

So eine Praxis steht in Konflikt mit der Gewaltenteilung nach Artikel 20 Absatz 2 des Grundgesetzes. Die in der Regel nicht juristisch vorgebildeten betroffenen Menschen, die vom Gericht zur Zahlung einer Geldstrafe verurteilt wurden und unter Umständen in der mündlichen Eröffnung der Urteilsgründe erfahren haben, weshalb das Gericht von einer Freiheitsstrafe absieht, können nicht verstehen, dass die Staatsanwaltschaft wegen der Nichtbezahlung dieser Geldstrafe trotzdem die Freiheitsentziehung anordnen kann. Denn die Ersatzfreiheitsstrafe wird in der Urteilsformel und den Urteilsgründen nicht erwähnt.

Diese Praxis trifft die Menschen, die sich keinen Anwalt leisten können und bei denen keine Pflichtverteidigung bestellt ist, besonders hart und das Rechtschutzbedürfnis der natürlichen Person gilt hier nicht mehr.

Belastung der Justizhaushalte

Im Herbst 2018 saßen 1.120 Menschen in NRW mit einer Ersatzfreiheitsstrafe ein, ein Großteil davon wegen Schwarzfahrens. Dabei entstanden für die Landeskasse rund 56 Millionen Euro im Jahr. Diese Kosten führen dazu, dass etwas Bewegung in die Diskussion um die Ersatzfreiheitsstrafen kommt. Aber auch die Blockade der Justiz durch die Bagatelldelikte ist ein Grund, denn mehr als jedes zehnte Strafurteil in Nordrhein-Westfalen betrifft derzeit diese Delikte.

Während die Opposition im Landtag diese Form des Erschleichens einer Dienstleistung künftig nicht mehr als Straftat, sondern als Ordnungswidrigkeit gewertet haben will, setzt der Justizminister darauf, dass Betroffene die Möglichkeiten bekommen sollen, ihre Strafe in kleinen Beträgen oder zeitverzögert abzuzahlen. Damit will er auch verhindern, dass es zu keinen weiteren Ersatzfreiheitsstrafen mehr kommt und die Justiz entlastet wird.

Wir brauchen kein besseres Strafrecht, sondern etwas Besseres als das Strafrecht

Wenn man staatliches Strafen in Zusammenhang mit sozialen Ungleichheiten setzt, wird schnell deutlich, dass die Gefangenenraten eines Staates umso höher liegen, je größer die Einkommensunterschiede in der Gesellschaft sind, Arme härter bestraft werden als Reiche und schon für Bagatelldelikte drakonische Bestrafungen erfahren.

Die Versuche des zunehmend autoritär auftretenden Staates, die entstandenen Kontrollverluste mittels verschärften Strafrechts wieder herzustellen, führen in die Sackgasse. Um die Ruhe im Land zu wahren, muss die Dosis immer wieder erhöht, die Überwachung noch umfassender, die Polizeigesetze verschärft und zur Durchsetzung des Gewaltmonopols, wie jetzt geschehen, die Sicherheitskräfte militärisch aufgerüstet werden.

Überlegt werden sollte, ob eine Lösung nicht in einem besseren Strafrecht, sondern in etwas Besserem als dem Strafrecht bestehen könnte.

Es könnte beispielsweise eine frühe Konfliktlösung im und durch das soziale Umfeld von Schädigern und Geschädigten gesucht werden, die sich an Wiedergutmachung und Entschuldigung orientiert.

Bekannt geworden ist das Konzept der „Restorativen Justice“ nach dem insbesondere das Opfer an der Suche nach alternativen Formen der Konfliktlösung beteiligt wird. Das Konzept könnte eine Alternative zu gängigen gerichtlichen Strafverfahren darstellen oder auch gesellschaftliche Initiativen außerhalb des Staatssystems entwickeln. Untersuchungen ergaben, dass dadurch der Rückfall reduziert und die Zufriedenheit der am Konflikt Beteiligten erhöht werden kann.

Ähnlich ausgerichtet waren die Gesellschaftlichen Gerichte in der DDR, die im Kern für eine Rückverlagerung der Konfliktregulierung auf vorjustizellen Institutionen bei Beibehaltung strafprozessualer Schutzrechte standen. Den Gesellschaftlichen Gerichten gehörten  nur Laienrichter an und die festgelegten Maßnahmen waren auf die Beseitigung materieller und ideeller Konflikte zwischen dem Täter und dem Geschädigten gerichtet, wobei in den Entscheidungen die konkreten Lebenssituation der Betroffenen berücksichtigt wurde. Etwa 25 Prozent aller Strafsachen wurden in der DDR durch dieses Gericht erledigt.

Bei der Alternative zum strafenden, autoritären Staat muss es um eine Politik gehen, die auf allen Gebieten gegen den sozialen Ausschluss gerichtet ist. So eine Politik umzusetzen kommt im weltweit expandierenden Neoliberalismus schon der Quadratur des Kreises gleich.

 

Was schrieb Friedrich Engels im Jahr 1845 noch: „Die Verbrecher konnten nur einzeln, nur als Individuen durch ihren Diebstahl gegen die bestehende Gesellschaftsordnung protestieren; Die ganze Macht der Gesellschaft warf sich auf jeden einzeln und erdrückte ihn mit ihrer ungeheuren Übermacht“

 

 

 

Quellen: WAZ, Lorenz Böllinger, Martin Lemke, VRR, zeit-online, monitor.de, Volkmar Schöneburg/marxistische blätter

Bild: pixabay cco