Seit über zwei Jahrzehnten geht die Tarifbindung zurück. Der Schutz der Arbeitnehmer*innen wird schwächer. Das zu ändern ist nicht nur Aufgabe von Gewerkschaften und Arbeitgebern. Auch die Politik ist gefordert. Was bieten die Parteien zur Stärkung an? Ein Check vor den Bundestagswahlen.
Die Ursachen dieser traurigen Entwicklung sind vielfältig. Die Zunahme des Dienstleistungssektors, die rückläufige Betriebsgröße und Fragmentierung von Produktions- und Dienstleistungszusammenhängen erschwerten die Tarifbindung. Die Privatisierung ehemals öffentlicher Dienstleistungen und die politisch gewollte Deregulierung des Arbeitsmarktes hatten negative Konsequenzen. Die Gewerkschaften verloren an Mitgliedern und damit an sozialer Mächtigkeit. Umgekehrt ließ auch die Verpflichtungsfähigkeit der Arbeitgeberverbände nach. Die Strategie der OT-Verbandsmitgliedschaft (Ohne Tarifbindung) führte zu einer faktischen Tarifflucht.
Die Stärkung der Tarifbindung ist zuvorderst eine Aufgabe der Tarifvertragsparteien. Aber auch die Politik kann und sollte ihren Beitrag leisten. Die Stärkung des Tarifsystems durch politische Maßnahmen sollte nach Auffassung der Gewerkschaften eine Reihe von Maßnahmen umfassen:
- Reform der Allgemeinverbindlicherklärung
Die Erleichterung der AVE durch das Tarifautonomiestärkungsgesetz (2014) blieb ohne Wirkung. - Tariftreue bei Wirtschaftsförderung und öffentlicher Auftragsvergabe
Bis heute fehlt ein Bundestariftreuegesetz und auch auf Länderebene klaffen große Lücken. - Bessere Nachwirkungsregelung zum Erschweren von Tarifflucht
- Fortgeltung von Tarifverträgen in ausgegliederten Unternehmenseinheiten
- Erschwerung OT-Mitgliedschaft – zum Beispiel im Hinblick auf Blitzaustritte
- Nutzung von tarifdispositivem Recht als Anreiz (mit Äquivalenzregelung)
- Steuerliche Anreize für tarifgebundene Unternehmen und Gewerkschaftsmitglieder
- Besseres betriebliches Zutrittsrecht für GewerkschafteEinführung eines Verbandsklagerechts
- Schutz und Stärkung der Betriebsräte
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Doch was wollen die Parteien? Werfen wir einen Blick in ihre Wahlprogramme:
SPD Das Zukunftsprogramm der Partei enthält einen Abschnitt „Arbeit wertschätzen“, der auch konkrete Aussagen zur Tarifpolitik und Mitbestimmung enthält. Die SPD will die Möglichkeit vereinfachen, Tarifverträge für allgemeinverbindlich zu erklären. Die Mitgliedschaft in Arbeitgeberverbänden ohne Tarifbindung ist „unanständig“. Die SPD beabsichtigt, „diese Praxis zurückzudrängen“. Ein öffentlicher Auftrag soll künftig nur an Unternehmen vergeben werden dürfen, die nach Tarif bezahlen. Dazu soll ein Bundestariftreuegesetz geschaffen werden. Tarifverträge müssen nach Auffassung der SPD auch weiter gelten, wenn Betriebe aufgespalten und ausgelagert werden. Speziell zur Deutschen Bahn fordert die SPD eine Verpflichtung zur Tariftreue. Die Tarifbindung im Handwerk soll gestärkt werden. Der Kündigungsschutz für Betriebsräte soll ausgebaut werden. Die Gewerkschaften sollen eine Verbandsklagerecht und ein digitales Zugangsrecht zum virtuellen Betrieb erhalten.
Die Grünen wollen die Sozialpartnerschaft stärken
Grüne Der Entwurf des Wahlprogramms enthält einen Abschnitt „Sozialpartnerschaft stärken, Tarifbindung erhöhen“. Tarifverträge und starke Mitbestimmung sollen wieder für mehr anstatt für immer weniger Beschäftigte und Betriebe gelten, heißt es darin. Bei der öffentlichen Vergabe sollen im Einklang mit europäischem Recht die Unternehmen zum Zug kommen, die tarifgebunden sind oder mindestens Tariflöhne zahlen. Dafür setzen die Grünen auf ein Bundestariftreuegesetz. Zudem wollen sie es leichter machen, Tarifverträge für allgemeinverbindlich zu erklären. Im Handwerk soll es branchenspezifische Mindestvergütungen geben. Betriebsräte und Betriebsratsgründungen sollen besser geschützt werden. Die Gewerkschaften sollen ein Verbandsklagerecht erhalten.
Die Linke Im Wahlprogramm der Partei geht es im Kapitel um „Gute Arbeit, gute Löhne – Demokratie gilt auch im Betrieb!“. Darin heißt es, dass Tarifbindung wieder für alle Unternehmen und Branchen gelten muss. Tarifverträge sollen leichter für allgemeinverbindlich erklärt werden können. Das öffentliche Interesse soll konkret definiert und auch regionale Tarifverträge per Arbeitnehmerentsendegesetz auf das gesamte Bundesgebiet erstreckt werden können. Ein Bundestariftreuegesetz soll die Einhaltung von Tarifverträgen zur zwingenden Voraussetzung für öffentliche Aufträge machen und auch von den beauftragten Firmen eingesetzte Subunternehmen einschließen. Bei Betriebsübergängen in nicht tarifgebundene Unternehmen und bei Auslagerungen sollen die bisherigen Tarifverträge in ihrer jeweils gültigen Fassung unbefristet geschützt bleiben und auch für neu Eingestellte gelten. Betriebsratswahlen sollen erleichtert, ein Verbandsklagerecht eingeführt und OT-Mitgliedschaften abgeschafft werden.
CDU/CSU Ein Wahlprogramm für die Bundestagswahl 2021 liegt bislang nicht vor. Es soll im Juli vorgestellt werden. Im Regierungsprogramm 2017-2021 hieß es in dem Abschnitt „Tarifpartnerschaft stärken“, CDU/CSU wollten angesichts der „guten Erfahrungen“ die Tarifautonomie, die Tarifpartnerschaft und die Tarifbindung stärken und ermutigen. Zu dem Zweck sollten gesetzliche Regelungen so ausgestaltet werden, dass zusätzliche Flexibilität, Spielräume und Experimentierräume für Unternehmen entstehen, für die ein Tarifvertrag gilt oder angewendet wird. Weitere Aussagen etwa zu Tariftreue oder Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen wurden im damaligen Programm nicht gemacht.
Es überrascht nicht, dass die FDP nur an „flexible“ Arbeitszeiten denkt
FDP Im Wahlprogramm der Partei gibt es einen Abschnitt „Moderne Arbeitswelt“. Fragen der Tarifbindung und Stärkung des Tarifsystems werden darin in keiner Weise thematisiert. Dasselbe gilt für alle Fragen der betrieblichen Interessenvertretung. Lediglich im Zusammenhang mit der geforderten Flexibilisierung des Arbeitszeitgesetzes (Abschaffung der täglichen Höchstarbeitszeit) heißt es, dass flexible (!) Regelungen in einem Tarifvertrag oder in einer Betriebsvereinbarung rechtssicher ermöglicht werden sollen.
Freie Wähler Im Bundestagswahlprogramm vom April dieses Jahres sprechen sich die Freien Wähler ausdrücklich für den Erhalt der Tarifautonomie aus. Tarifverträge sind geeignet, auf die spezifischen Bedürfnisse der Branchen und der Regionen einzugehen. Die Allgemeinverbindlichkeitserklärung Mindestlöhne, die über dem gesetzlichen Mindestlohn liegen, müsse deshalb weiter gefördert werden.
AfD Ein Wahlprogramm wurde von der Partei am 11. April 2021 beschlossen, aber bisher nicht veröffentlicht.
Fazit
Die Bedeutung der hier skizzierten Wahlaussagen hängt maßgeblich vom Wahlergebnis und der daraus resultierenden nächsten Regierungskoalition ab. Die weitestgehenden Übereinstimmungen und Anknüpfungspunkte zu gewerkschaftlichen Forderungen bestehen zweifellos bei einer grün-rot-roten Koalition. Ungünstiger ist die Ausgangssituation bei einer denkbaren schwarz-grünen oder grün-schwarzen Koalition. Zwar haben die Christlich-Demokratische Arbeitnehmerschaft (CDA) und ihre politischen Vertreter in der Vergangenheit immer wieder gewerkschaftliche Positionen in Programm und reale Regierungspraxis von CDU/CSU durchgesetzt, aber wieweit der Einfluss künftig reicht, ist schwer abzuschätzen. Koalitionen unter Beteiligung der FDP dürften die Chancen für eine politische Stützung des Tarifvertragssystems deutlich verringern.
Reinhard Bispinck war bis Mai 2017 Abteilungsleiter des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung und Leiter des WSI-Tarifarchivs.