Immer wieder berichten Sozialberatungsstellen darüber, dass ihre Klienten von den Sozialleistungsträgern weggeschickt werden, dort Unterlagen angeblich nicht angekommen sind und Anträge auf Leistungen ohne Begründung mündlich abgelehnt werden.
Viele ratsuchende Menschen wissen gar nicht, dass fast alle Sozialleistungsträger mit ihren Verbänden und Beratungsstellen sowie die Anbieter von sozialen Leistungen auch eine Auskunfts- und Beratungspflicht haben. Wenn ihre Anfrage schroff abgewiesen wird, fühlen sie sich noch mehr als Bittsteller, entwickeln eine ohnmächtige Wut oder resignieren völlig. Sie werden dann leichte Beute von windigen „Sozialberatern“, die meistens die Problemlage noch verschärfen.
Die Auskunfts- und Beratungspflicht dient dazu, die Betroffenen auf ihre Rechte und Pflichten hinzuweisen, dabei sollen die Träger dem Gebot der Sachlichkeit Rechnung tragen und sachangemessen und zutreffend informieren. Die betroffenen Ratsuchenden müssen davon ausgehen können, dass die jeweiligen öffentlichen Stellen sie rechts- und sachkundig informieren und beraten und sie deren Ausführungen vertrauen können. Deshalb sind die jeweiligen Stellen verpflichtet, zutreffende Auskünfte zu geben und ausführlich zu beraten, ungeachtet eines ggf. anderen eigenen Standpunkts.
Bedeutsames Urteil des Bundesgerichtshofs
Der Bundesgerichtshof (BGH) hat in einem bedeutsamen Urteil deutlich auf die Beratungspflicht von Sozialleistungsträgern hingewiesen und festgelegt, welche Anforderungen an die Beratungspflicht des Trägers zu stellen sind. Der BGH hat klargestellt, dass Sozialleistungsträger umfassend über alle infrage kommenden Leistungsansprüche beraten müssen und wenn nicht, ihnen Amtshaftung droht. (Urteil vom 2. August 2018 – III ZR 466/16). Das Gericht stellte fest: „Im Sozialrecht bestehen für die Sozialleistungsträger besondere Beratungs- und Betreuungspflichten. Eine umfassende Beratung des Versicherten ist die Grundlage für das Funktionieren des immer komplizierter werdenden sozialen Leistungssystems. Im Vordergrund steht dabei nicht mehr nur die Beantwortung von Fragen oder Bitten um Beratung, sondern die verständnisvolle Förderung des Versicherten, das heißt die aufmerksame Prüfung durch den Sachbearbeiter, ob Anlass besteht, den Versicherten auch von Amts wegen auf Gestaltungsmöglichkeiten oder Nachteile hinzuweisen, die sich mit seinem Anliegen verbinden; denn schon gezielte Fragen setzen Sachkunde voraus, über die der Versicherte oft nicht verfügt. Die Kompliziertheit des Sozialrechts liegt gerade in der Verzahnung seiner Sicherungsformen bei den verschiedenen versicherten Risiken, aber auch in der Verknüpfung mit anderen Sicherungssystemen. Die Beratungspflicht ist deshalb nicht auf die Normen beschränkt, die der betreffende hat“(PM BGH vom 2.8.2018).
Die Auskunftspflicht bezieht sich insbesondere darauf, den für die Sozialleistung zuständigen Träger zu benennen sowie Sach- und Rechtsfragen im Einzelfall erschöpfend zu beantworten. Die Institutionen sind verpflichtet, über alle sozialen Angelegenheiten nach dem Sozialgesetzbuch Auskünfte zu erteilen, dabei müssen sie sogar untereinander zusammenarbeiten, um eine möglichst umfassende Auskunftserteilung durch eine Stelle sicherzustellen.
In der Praxis müssten diese Stellen von sich aus Vorgänge weiterleiten, als Lotse im System fungieren und den Rat- und Hilfesuchenden unterrichten, wo und von wem was derzeit bearbeitet wird und an wen die Vorgänge weitergegeben wurden.
In der alltäglichen Praxis gibt es die Auskunfts- und Beratungspflicht nicht mehr
Die zunehmende „Verbetriebswirtschaftlichung des Sozialen“ hat mit dazu beigetragen, dass bei den öffentlichen Stellen oftmals die Auskunft und der Rat in der Art gegeben werden, um die Menschen davon abzuhalten, ihre Sozialleistungen zu beantragen und beim Sparen der Behörden und Sozialversicherungen mitzuhelfen.
Die Auskünfte und Beratung gibt es in der alltäglichen Praxis für die Ratsuchenden gar nicht mehr. Die Rechte der Betroffenen werden verletzt, Unterlagen erreichen die Institutionen angeblich nicht und den Menschen wird mangelnde Mitwirkung unterstellt, wie die nachfolgenden Beispiele verdeutlichen.
Krankenkasse: Das Krankengeld wird häufig nicht ausgezahlt, da die Krankmeldung nicht bei den eingereichten Unterlagen dabei gewesen sein soll. Eine Frau war deshalb über 3 Wochen ohne Einkommen. Alle Unterlagen einschließlich der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (AU) wurden in einem Umschlag bei der Krankenkasse persönlich eingereicht. Dabei hat sie gar nicht dafür Sorge zu tragen, dass die AU vorliegt, da die Frau bei diesem sozialrechtlichen Vorgang keine Beteiligte ist, sondern der Arzt, der die AU ausstellt, müsste die Bescheinigung der Krankenkasse beibringen, bzw. die Krankenkasse bei ihm anfordern. Erst nachdem der Arzt die AU zur Krankenkasse gefaxt hatte, konnte die Auszahlung erfolgen.
Immer mehr Menschen sind gezwungen, als Solo-Selbständige zu arbeiten. Die Mehrheit von ihnen wählte früher nicht eine private Krankenversicherung, wie es im dualen Kassensystem vorgesehen ist, sondern favorisierte eine freiwillige Gesetzliche Krankenversicherung (GKV)-Mitgliedschaft. Mittlerweile sind etwa 71 Prozent der Selbständigen in der GKV und rund 51 Prozent der Selbständigen in der Private Krankenversicherung (PKV) Solo-Selbständige.
Weil sich das durchschnittliche Einkommen eines Solo-Selbständigen kaum vom Durchschnittseinkommen der abhängig Beschäftigten unterscheidet, in vielen Fällen sogar niedriger ist, wenden Selbständige mit den niedrigsten Einkommen rund 46,5 Prozent ihrer Einkünfte für eine Versicherung auf, unter den gering verdienenden Selbständigen, die in der PKV versichert sind, liegt dieser Wert sogar bei 58 Prozent. Um überhaupt ihre Existenz abzusichern, sind sie auf eine flankierende Unterstützung, oft durch Familienmitglieder, angewiesen.
Die Versicherten werden aber kaum über das neue GKV-Entlastungsgesetz informiert, das den Mindestbeitrag Selbstständiger für die Kranken- und Pflegeversicherung knapp unter 200 Euro senkt.
Wohngeldamt: Wohngeldberechtigte Menschen werden im Gespräch bewusst falsch darüber informiert, dass sie keinen Anspruch haben, weil sie z.B. Studierende sind oder berufstätige Menschen, die angeblich monatlich zu viel verdienen, obwohl die Einkommensberechnung für den Jahreszeitraum gilt. Der Antrag wird erst gar nicht angenommen, die Antragsteller weggeschickt und damit wird kein Verwaltungsvorgang begründet.
Wohnraumsicherung: Diese Stelle schickt vermehrt Rat- und Hilfesuchende weg, mit dem Hinweis, dass viele Angestellte krank und zu wenig Personal vorhanden sei. Der alleinerziehenden Mutter, der die Stromsperre droht, wird bedeutet, wenn sie die Energieschulden mit einem Darlehen der Stadt bezahlen möchte, was ihr Recht ist, dann sollte man doch mal das Jugendamt über ihr „unwirtschaftliches“ Verhalten informieren. Einer „Mutter, die nicht haushalten kann, kann man auch die Kinder wegnehmen“. Die Frau verzichtete auf das Darlehen, sie lieh sich das Geld im Bekanntenkreis.
Jobcenter: Für Menschen, die Sozialgeld nach SGB II beziehen ist es normal geworden, dass ihre Unterlagen angeblich nicht beim Jobcenter vorliegen und sie wochenlang kein Einkommen haben, weil die Leistung nicht berechnet werden kann. Alle Beteuerungen und Zeugen helfen nicht, ihnen wird dazu unterstellt, dass sie nicht „mitwirken“, was zu Sanktionen, d.h. weniger Geld führen kann. Obwohl die Bundesagentur (BA) vor vier Jahren „die Ausstellung von Eingangsbestätigungen“ befürwortete, wird diese wichtige Dokumentation im Verwaltungsverfahren nur in Ausnahmefällen und auf massive Beharrlichkeit hin ausgestellt. So musste der junge mittellose Mann persönlich zum Jobcenter fahren, um die Bearbeitung seines Antrags zu beschleunigen und nahm die öffentlichen Verkehrsmittel. Er wurde erwischt, ohne Fahrschein zu fahren und anschließend mit einer saftigen Geldbuße überzogen.
Kindertagesgebühren: Bei einer alleinerziehenden Frau hatten sich Kindertagesstättenbeiträge incl. Kosten und Säumniszuschläge in Höhe von insgesamt 18.472,55 Euro angesammelt. Während des Erhebungszeitraums war die Frau zunächst im HARTZ-IV-Bezug und dann befand sie sich in einer Ausbildung mit einer Vergütung von 760 Euro netto. Dabei hätten die Kitafachkräfte die Frau darüber informieren müssen, dass sie einen Antrag auf Befreiung von den Beiträgen stellen kann und ihr bei der Antragstellung helfen können. Im Gegenteil, die Stadt hat einen Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahren gestellt und so die Frau in den „Konkurs“ getrieben.
Kindergeldüberzahlung: Der Sohn eines als soloselbständig arbeitenden Mannes, der vor 30 Jahren aus Sri Lanka flüchtete, bricht sein Studium nach zwei Semestern ab, ohne sich bei der Arbeitsverwaltung arbeitsuchend zu melden, um damit auch weiter das Kindergeld beziehen zu können. Diese rechtliche Verknüpfung des Anspruchs war der Familie nicht bekannt und die Eltern bezogen weiter das Kindergeld.
Bei der Exmatrikulation hätte die Universitätsverwaltung darauf hinweisen können, dass der junge Mann sich arbeitsuchend zu melden hat, um weiterhin einen „Status“ zu haben. Spätestens die BAföG Behörde, die definitiv Träger einer Sozialleistung ist, hätte bei dem Ausstellen des Endbescheides der Ausbildungsförderung darüber umfassend informieren sollen, so nahm das Dilemma seinen Lauf.
Die Eltern erhielten Kindergeld und bis zur nächsten Überprüfung der Familienkasse lief eine Summe für den Sohn von 3.400 Euro auf, die die Familienkasse bzw. die Inkassoabteilung der Landes-Agentur für Arbeit nun als Zahlung in einer Summe zurückforderte. Verhandlungen über Ratenzahlung wurden vehement abgelehnt, sodass ein „zinsfreies gemeinnütziges Darlehen mit ratenweiser Zurückzahlung“ in Anspruch genommen werden musste und 3.400 Euro einmalig gezahlt wurden. Da das Kindergeld dem Rechtskreis Steuergesetzgebung zugehörig ist, bekam der Vater einen Strafbefehl wegen Steuerhinterziehung über 960 Euro von der Finanzverwaltung. Spätestens hier wurde die Einschaltung eines Rechtsbeistands erforderlich und es entstanden weitere erhebliche Kosten für die Familie.
Kommune als Gläubiger: Bei der Eintreibung von rückständigen Gebühren und „Überzahlungen von Sozialleistungen“ oder im Rahmen der Amtshilfe wird sofort das gesamte Marterpaket ausgerollt – die Lohnpfändung, die Kontopfändung und die Vermögensauskunft werden verhängt, mit dem Eintrag in das Schuldnerverzeichnis – und das auch bei Forderungen von unter 100 Euro. Spätestens ab diesem Zeitpunkt hat der Bürger ein massives Problem, egal ob er wegen geringem Einkommen, Schussellichkeit oder Protest die Gebühren oder zu Unrecht bezogenen Sozialleistungen nicht abgeführt hat, er kommt an sein Geld auf der Bank nicht mehr heran, riskiert seinen Arbeitsplatz durch die Lohnpfändung und seine Vermögenssituation kann beim Amtsgericht Hagen im Schuldnerverzeichnis eingesehen werden.
Seit einigen Jahren sind viele Kommunen dazu übergegangen, für zahlungsunfähige Menschen, gegen die sie eine Forderung haben, einen Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens zu stellen. Für die betroffenen Menschen bedeutet dies unglaublichen Stress und Verunsicherung, da das Insolvenzgericht sie dann auffordert, innerhalb von 4 Wochen einen eigenen Insolvenzantrag zu stellen. Das aber bei der Unterbesetzung der anerkannten Schuldnerberatungsstellen nicht möglich ist. Die verzweifelten Leute wenden sich an kommerzielle Berater und verschulden sich zusätzlich.
Lücken im System werden von Beratungsscharlatanen genutzt
Die Beispiele zeigen, dass dem einzelnen rat- und hilfesuchenden Menschen Rechte schlichtweg verwehrt werden, sie erst gar nicht in verwaltungsrechtliche Verfahren kommen, keine Rechtsmittel einlegen können, in der Regel unter dem Existenzminimum leben müssen, immer in der Gefahr leben, Wohnung und Arbeitsplatz zu verlieren und kaum noch Unterstützung finden, ihre Rechte einzufordern.
In dieser Lücke setzen die Beratungsscharlatane an, können faktisch aber nur eingeschränkt weiterhelfen.
In der Sozialberatung ist ein Vertrauensverhältnis zwischen ratsuchenden und beratenden Personen unerlässlich, das auch evtl. über Jahre hinweg belastbar sein und oft auch langwierig aufgebaut werden muss.
Die Beratung der Scharlatane aber findet meistens in Cafés, Vereinslokalen oder Parkbänken statt und wird fast ausschließlich von Männern angeboten. Die Höhe der Vergütung für die Beratung reicht von einer Tasse Kaffee ausgeben bis zum Briefumschlag mit 30 Euro, auch bei Hartz-IV-Bezug. Der Beratungsumfang endet meist mit der mündlichen bzw. übersetzten Erläuterung von Bescheiden, Gerichts- oder Anwaltspost und in der Regel bleibt es bei den Erläuterungen und dem wichtigsten Satz „da kann man nichts machen“ und so verfallen die Einspruchs- und Widerspruchsfristen.
„Schriftliches“ wird nicht aufgesetzt, auch um keine Spuren zu hinterlassen und Haftungsfragen aus dem Weg zu gehen. Doch fast alle Beantragungen von Leistungen und finanziellen Hilfen nach den Sozialgesetzbüchern bedürfen der schriftlichen Form mit schriftlichen Nachweisen.
Mangels Kenntnis des Hilfesystems ist keine Weiterleitung an andere Stellen möglich, die „Lotsenfunktion“ der Beratung entfällt. Außerdem würde die Weiterleitung an sachkundige Stellen ihnen den Kundenkreis verringern und es könnte auffallen und sich in der Community herumsprechen, dass es sich bei den Scharlatanberatungen um eine schlechte Beratung handelt.
Das Selbsthilfepotential der Ratsuchenden wird erst gar ergründet, geschweige denn gemeinsam ent- bzw. weiterentwickelt.
Es gibt keine gemeinsame Hilfeplanung, bei der die einzelnen Lebensbereiche wie die Bildungs-, Arbeits-, Finanz-, soziale-, Gesundheits- und Wohnsituation erfasst und nach Priorität reflektiert und verändert werden.
Es gibt kein „Fallmanagement“ bei dem alle bisherigen Hilfestellungen zusammenlaufen, überprüft und ggf. neu ausgerichtet werden.
So fehlen auch in der Regel z.B. Hinweise auf
- rechtlichen verbrieften Anspruch auf bestimmte öffentliche Leistungen
- Kündigungsmöglichkeiten
- Antragstellung in Schriftform und Anlagebelege
- Wechsel der Steuerklasse
- Berücksichtigung von Unterhaltspflichten
- Einhaltung von Fristen
- Einreichen von Belegen und Unterlagen
- Möglichkeit der Beratungs- und Prozesshilfe
- Ein- oder Widerspruchsmöglichkeiten
- Anhörungen mit Stellungnahme im Verwaltungsverfahren
- Pfändungsfreigrenzen und Pfändungsschutzmaßnahmen
und Möglichkeiten, ein Leben mit Schulden an der Pfändungsfreigrenze zu führen.
Anspruch auf Auskunft und Beratung sollte immer eingefordert werden
Das Urteil vom obersten Gericht zur Beratungspflicht von Sozialleistungsträgern ist sehr bedeutsam, auch weil es klar und eindeutig ist. Die betroffenen Menschen sollten es gegenüber den Sozialleistungsträgern immer wieder zitieren, darauf verweisen und Menschen hinter den Schreibtischen auf ihre Amtshaftung hinweisen, die auch durch einen Anwalt beim Landgericht einklagbar ist.
Quellen: SGB, BGH, Berichte von Betroffenen Bild: https://familienzentrum-ost.de/