Die disposable time, die zur freien Verfügung stehende Zeit, die nicht durch den Zwang eines äußeren Zwecks bestimmt ist, war für Marx das Maß des Reichtums. Seit Beginn der Arbeiterbewegung war das Ringen um mehr Freizeit – um kürzere Arbeitszeiten, mehr Urlaub, freie Wochenenden, aber auch um eine möglichst selbstbestimmte Gestaltung der freien Zeit – wesentlicher Gegenstand von Arbeitskämpfen. Dem Versprechen von weniger Arbeit und mehr Zeit für Erholung und Genuss wohnte immer ein utopisches Moment inne, das die Perspektive auf ein Leben ohne Mühsal und Plackerei eröffnete. Kein Wunder, dass es die Kämpfe um kürzere Arbeitszeiten waren, die die Massen besonders enthusiastisch auf die Straßen trieben.
In den vergangenen Jahrzehnten ist es allerdings ruhig geworden im Kampf um die freie Zeit. So ist es inzwischen mehr als 35 Jahre her, dass die IG Metall mit dem Slogan »Mehr Zeit zum Leben , Lieben, Lachen« und mit einer lachenden Sonne als Logo den Einstieg in die 35-StundenWoche erkämpfte.Im Mai 1984 legten zuerst Beschäftigte in Baden-Württemberg und kurz darauf auch in Hessen die Arbeit nieder, um die Verkürzung der Wochenarbeitszeit von 40 auf 35 Stunden bei vollem Lohnausgleich durchzusetzen. Schon bald streikten Zigtausende Metaller dafür. Beinahe zur gleichen Zeit eröffnete auch die Gewerkschaft IG Druck und Papier den Kampf um die 35-Stunden-Woche. Es war ein harter Arbeitskampf. So gelang es den streikenden Druckern mehrmals, die Herstellung von Zeitungen tageweise zu blockieren, die Verlage reagierten mit Notausgaben, deren Auslieferung die Streikenden wiederum zu verhindern versuchten. Auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzung musste die Notausgabe der »FAZ« per Hubschrauber aus der Druckerei gebracht werden.
Sowohl in der Druck- als auch in der Metallindustrie wurde der Arbeitskampf zum Politikum. »Keine Minute unter 40 Stunden«, hieß es vonseiten der Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände (BDA). Unterstützung erhielten sie von der damals frischgewählten schwarzgelben Bundesregierung – Bundeskanzler Helmut Kohl bezeichnete die Forderung nach der 35-Stunden-Woche als »dumm, dreist und töricht«.
Den Worten folgten Taten: Die Regierung unterstützte offen das Kapital. Als die Arbeitgeber im Zuge des Streiks 500.000 Beschäftigte aussperrten, verweigerte die Bundesanstalt für Arbeit die Auszahlung von Kurzarbeitergeld, um »den Arbeitskampf zu verkürzen«. Ersatzweise Streikgeld für eine halbe Million Ausgesperrte auszuzahlen, hätte die Gewerkschaft schnell an den Rand des Ruins gebracht. Die IG Metall ging juristisch gegen die Aussperrung vor und gewann.
Aus der größten sozialen Machtprobe der Nachkriegszeit ging die IG Metall nach sieben Wochen Streiks und Aussperrungen letztlich siegreich hervor. Nur einen Tag später konnte auch die IG Druck und Papier ihren Arbeitskampf erfolgreich beenden. Mit der Einigung auf eine Verkürzung der wöchentlichen Arbeitszeit auf 38,5 Stunden in der Metallindustrie war das Tabu der Arbeitszeitverkürzung gebrochen. Bis 1995 setzte die IG Metall dann schrittweise die 35-Stunden-Woche durch. Auch in anderen Branchen gelangen den Gewerkschaften bis in die neunziger Jahre hinein Erfolge im Kampf um die disposable time. Es folgten allerdings Jahre der Rückzugsgefechte in der Arbeitszeitfrage.
Die steigende Arbeitslosigkeit und eine umfassende neoliberale Deregulierung des Arbeitsmarkts drängten die Gewerkschaften in die Defensive. In zahlreichen Branchen kam es nicht nur zum Stillstand, sondern zu einem regelrechten Rollback. Zum ersten Mal seit Jahrzehnten stieg in manchen Bereichen Anfang der nuller Jahre die reale durchschnittliche Wochenarbeitszeit. Die mühsam erkämpften tariflichen Arbeitszeiten gelten meist nur noch auf dem Papier, und die Gewerkschaften müssen immer öfter tarifliche Öffnungsklauseln und betriebliche Ausnahmeregelungen akzeptieren. Eine 2017 von der IG Metall durchgeführte Befragung zur Arbeitszeit, an der sich 680.000 Beschäftigte der Metall- und Elektroindustrie beteiligten, zeigt, dass fast die Hälfte von ihnen einen Vertrag hat, der mehr als 35 Stunden vorsieht. Knapp ein Drittel arbeitet sogar 40 Stunden oder mehr.
Verheerend wirkte sich insbesondere die gescheiterte Angleichung der Arbeitszeiten in Ost- und Westdeutschland aus. So musste beispielsweise die IG Metall 2003 beim Versuch, auch im Osten die 35-Stunden-Woche durchzusetzen, ihren Streik nach vier Wochen ohne Ergebnis abbrechen – eine Niederlage, von der sich die ostdeutschen Gewerkschaften bis heute nicht erholt haben. Nicht nur in der größten DGB-Gewerkschaft spielte das Thema Arbeitszeitverkürzung seit dieser historischen Schlappe kaum noch eine Rolle. »Kein Thema zur betrieblichen Mobilisierung« und »nicht durchsetzbar« bekamen die Befürworter einer weiteren Arbeitszeitverkürzung auf gewerkschaftlichen Konferenzen lange Zeit zu hören.
Unter den Beschäftigten wuchs jedoch in den vergangenen Jahren der Wunsch nach kürzeren Arbeitszeiten. So ergab eine Studie der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin von 2018, dass es der Hälfte der Arbeitnehmer wichtig wäre, kürzer zu arbeiten. Zuletzt stand der Kampf um mehr Freizeit auch wieder auf der gewerkschaftlichen Tagesordnung. Es entstand eine regelrechte Tarifbewegung für eine neue Arbeitszeitpolitik. Im Mittelpunkt standen dabei nicht nur kürzere Arbeitszeiten, sondern vor allem mehr Selbstbestimmung. Statt weiterer Flexibilisierung zugunsten der Unternehmen wurde für flexible Arbeitszeitmodelle im Interesse der Beschäftigten gestritten.
Nachdem die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) bereits 2016 ein Wahlmodell erstreikte, bei dem die Beschäftigten zwischen einer Lohnerhöhung, sechs zusätzlichen Urlaubstagen oder einer Stunde weniger Wochenarbeitszeit wählen konnten, fand der neue gewerkschaftliche Kampf um mehr Freizeit in der Tarifrunde der Metall und Elektroindustrie 2018 seinen vorläufigen Höhepunkt. Schon der Verhandlungsauftakt wurde von Kundgebungen Tausender Metaller begleitet, von einer »regelrechten Aufbruchsstimmung« war in den Stellungnahmen von Betriebsräten die Rede. Das lag weniger an der sich im üblichen Tarifrahmen bewegenden Forderung nach sechs Prozent mehr Geh alt, sondern vielmehr daran, dass die IG Metall zum ersten Mal seit der Niederlage im Kampf um die 35-Stunden-Woche im Osten wieder die Verkürzung der Arbeitszeit forderte.
Letztlich legten im härtesten Tarifkonflikt der Metall- und Elektroindustrie seit Jahrzehnten mehr als 1,5 Millionen Beschäftigte die Arbeit nieder. Anders als in der Vergangenheit kam es nicht nur zu kurzzeitigen Arbeitsniederlegungen, sondern auch zu ganztägigen Streiks, die für einen Produktionsausfall im Umfang von fast einer Milliarde Euro sorgten. Kein Wunder, dass der Arbeitgeberverband Gesamtmetall unbefristete Arbeitsniederlegungen im Zuge eines Erzwingungsstreiks verhindern wollte. »Wir wollen nicht, dass die Betriebe lange stillstehen und die Straßen voller roter Fahnen sind«, erklärte der Gesamtmetall-Vorsitzen de Rainer Dulger.
Statt für eine kollektive und dauerhafte Reduzierung der Arbeitszeit wie noch in den achtziger Jahren streikten die Metaller allerdings diesmal – ähnlich dem Wahlmodell der EVG – für die tarifvertraglich geregelte Möglichkeit individueller und temporärer Arbeitszeitverkürzungen. Die Beschäftigten können nun ihre Arbeitszeit auf 28 Stunden reduzieren und später wieder zur 35-Stunden-Woche zurückkehren . Obwohl die Beschäftigten die Arbeitszeitverkürzung durch Gehaltsverluste teils selbst bezahlen, wird die Option massenhaft in Anspruch genommen – und das nicht nur in der Metallbranche. So entschieden sich im Zuge des Wahlmodells der EVG 60 Prozent der Eisenbahner für mehr Urlaub oder eine Reduzierung der Wochenarbeitszeit und nur 40 Prozent für mehr Gehalt.
Ursprünglich wollten die Gewerkschaften 2020 ihren Kampf um die disposable time fortsetzen. So plante die IG Metall, ihr Wahlmodell weiter auszubauen, und in der Tarifauseinandersetzung im öffentlichen Dienst sollte die Arbeitszeit im Mittelpunkt der gewerkschaftlichen Forderungen stehen. Dann kamen Corona-Pandemie, Wirtschaftseinbruch, Kurzarbeit und steigende Arbeitslosigkeit. Innerhalb von wenigen Tagen verabschiedeten sich die Gewerkschaften vom kurzen Aufleben einer offensiven Tarif- und Arbeitszeitpolitik. Bereits im Frühjahr wurden die ersten Tarifauseinandersetzungen auf geschoben oder mit Nullrunden beendet. Im Mittelpunkt gewerkschaftlicher Politik steht seitdem die Arbeitsplatzsicherung und die Frage, wie man die Krise zur langfristigen strukturellen Modernisierung der deutschen Wirtschaft nutzen kann, um deren europäische Vormachtstellung weiter auszubauen.
Vor diesem Hintergrund muss auch der vieldiskutierte Vorschlag der IG Metall nach einer Vier-Tage-Woche verstanden werden.
Bei der Ankündigung des IG-Metall-Vorsitzenden Jörg Hofmann , die Vier-Tage-Woche zum Thema bei der im Herbst anstehenden Tarifrunde in der Metall- und Elektroindustrie zu machen, war daher – im Gegensatz zu den Wahlmodellen der vergangenen Jahre – auch von einer Umverteilung der Milliardengewinne der Branche zugunsten der Beschäftigten nicht mehr die Rede. Statt dessen betonte Hofmann, das Ziel der kürzeren Wochenarbeitszeit sei es, »den durch Digitalisierung, Energiewende und Klimawandel getriebenen Strukturwandel zu meistern« – sprich: die deutsche Wirtschaft fit zu machen für den nach der Pandemie erwarteten Wirtschaftsaufschwung.
Anders als noch in den achtziger Jahren ist von einer Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich längst keine Rede mehr. Hofmann erwähnt zwar in einem Nebensatz, dass sich die IG Metall einen »gewissen Lohnausgleich « als Anreiz wünsche, bezahlen sollen die Modernisierung der Wirtschaft jedoch im Wesentlichen die Lohnabhängigen selbst.
Angesichts dieser gewerkschaftlichen Selbstaufgabe ist es kein Wunder, dass die SPD in Gestalt des Arbeitsministers Hubertus Heil der Gewerkschaft sogleich zur Seite sprang, um die noch skeptischen Arbeitgeberverbände davon zu überzeugen, dieses unschlagbare Angebot eines Strukturhilfeprogramms auf Kosten der Arbeiter anzunehmen.
Der Beitrag erschien im https://www.konkret-magazin.de/ 11/20 und wird mit freundlicher Genehmigung der Redaktion gespiegelt. Bild: ver.di-jugend