Noch in Erinnerung? – Im Herbst des Jahres 2005 startete Wolfgang Clement (Jahrgang 1940), seinerzeit mit den Ressort-Zuständigkeiten Wirtschafts und Arbeit sogenannter „Superminister“ im Kabinett Schröder, eine Diffamierungskampagne gegen die Arbeitslosen in der Bundesrepublik Deutschland – und zwar unter dem Titel „Vorrang für die Anständigen – gegen Missbrauch, Abzocke und Selbstbedienung im Sozialstaat“. Im einzelnen beschuldigte Clement 280.000 Hartz-IV-BezieherInnen in der Bundesrepublik, auf betrügerische Weise Hilfsgelder wegen ihrer Arbeitslosigkeit erschlichen zu haben. Dagegen erstatteten meine Frau und ich Strafanzeige bei der Berliner Staatsanwaltschaft – unter anderem wegen Volksverhetzung und Verleumdung der Betroffenen. Im Folgenden Dokumentation dieser Strafanzeige und zahlreiche Erläuterungen dazu.Um den folgenden Vorgang zutreffend einschätzen zu können, sollen an dieser Stelle erst mal noch einige weitere Informationen vorausgeschickt werden, Informationen, die auch in der Gestalt eines Rückblicks auf die Zeit nach dem dokumentierten Geschehen ein bezeichnendes Licht auf diesen Damals-noch-Sozialdemokraten Wolfgang Clement zu werfen imstande sind.
Wolfgang Clement begann seine politische Laufbahn als Journalist für Politik bei der Westfälischen Rundschau, im Jahre 1968. In dieser Eigenschaft war er auch häufiger Gast beim „Frühschoppen“ von Werner Höfer (einem Fernsehjournalisten, der später als ehemaliges NSDAP-Mitglied enttarnt worden ist). Nach dem Ende seiner Karriere als „Superminister“ im Kabinett Schröder Ende 2005 wandte sich Clement sehr bald anderen Aufgaben zu. Er warnte, immer noch SPD-Mitglied, im Jahre 2008, vor der Wahl der sozialdemokratischen Kandidatin Andrea Ypsilanti für den Posten der Ministerpräsidentin im Bundesland Hessen, er trat nach zahlreichen Ausschlußverfahren der SPD gegen ihn am 25. November 2008 aus ‚seiner‘ Partei aus und nahm dann anschließend zahlreiche Führungsposten in der bundesrepublikanischen Wirtschaft an, so als Vertreter der RWE und ab Juli 2012 sogar als Kuratoriumsvorsitzender der „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“ (INSM) – eindeutig eine Organisation, die in der Bundesrepublik für die Durchsetzung des Neoliberalismus eintrat und für weiteren Abbau des Sozialstaates Bundesrepublik.
Nach unseren Dokumentationen zur Rolle des DGB während der Propagandaphase für Hartz-IV im Jahre 2005 – siehe hier: https://hinter-den-schlagzeilen.de/selbst-der-dgb-war-fuer-hartz-iv! – und zu der abenteuerlichen Telefonbefragungsaktion der Bundesanstalt für Arbeit, ebenfalls im Jahre 2005 – siehe hier: https://hinter-den-schlagzeilen.de/auf-jede-toilette-eine-telefon-unser-beitrag-zur-vollbeschaeftigung! – nunmehr also eine dritte Dokumentation, die nachzuweisen vermag, wie sich Hartz-IV-Betroffene gegen diese Menschenverelendungspolitik im Namen der Bundesrepublik Deutschland zu wehren versuchten. In diesem Falle durch Strafanzeige gegen Wolfgang Clement im Herbst 2005, erstattet von meiner Ehefrau Sybille Marggraf und von mir, unterstützt aber auch von zahlreichen weiteren Menschen in Deutschland gegen diese Mischung aus objektiver Verelendungspolitik und propagandistischer Diffamierungspolitik unfreiwillig arbeitslos gewordener Menschen. Heute zu dieser Thematik der erste Teil unserer Dokumentation: der Text unserer Strafanzeige gegen Wolfgang Clement vom 20. Oktober 2005:
Sybille Marggraf/Holdger Platta * Füllegraben 3 * 37176 Sudershausen, den 20. 10.05
An die
Staatsanwaltschaft
Berliner Straße 8
37073 Göttingen
Sehr geehrte Damen und Herren,
wir erstatten hiermit
S t r a f a n z e i g e
gegen den Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit, Herrn Wolfgang Clement, Scharnhorstplatz 34-37, 10115 Berlin (Dienstadresse)
wegen
des Verdachts des Verstoßes gegen das Grundgesetz (Artikel 5, Abs. 2, „Schutz der persönlichen Ehre“) sowie der Volksverhetzung (§ 130 StGB)und wegen Beleidigung (§ 185 StGB), übler Nachrede (§ 186 StGB), Verleumdung (§ 187 StGB) sowie aller anderen hier ggf. in Frage kommenden Gesetzesverstöße.
Vorweg:
Die Tatsache, dass von uns ein Bundesminister wegen Verdachts auf Volksverhetzung und wegen anderer Delikte angezeigt wird, muss darauf hin überprüft werden, ob dies nicht selber im hohen Maße fragwürdig ist. Zwar ist wichtig, dass sich Bürgerinnen und Bürger sensibel und engagiert für unseren demokratischen Rechtsstaat einsetzen, und von eminenter Bedeutung ist selbstverständlich auch, dass führende Politiker eines demokratischen Rechtsstaates nicht im genannten Sinne straffällig werden, in dieser Hinsicht über jeden Zweifel erhaben sind und nicht durch eigene Entgleisungen den Rechtsfrieden und sozialen Frieden in der Bundesrepublik stören. Schließlich dürfte unstrittig sein: wenn ein Minister in Ausübung seines Amtes entgleist, entgleist nicht einfach nur eine Einzelperson, sondern eben auch ein hoher Repräsentant dieses Staates mit Macht und Einfluss.
Woraus folgt – nicht zuletzt unter Beachtung des Amtseides, den jeder Minister bei seiner Verpflichtung vor dem Bundestag abzulegen hat -, dass er wegen dieses Einflusses und wegen dieser Macht auch besondere Verantwortung dafür trägt, dass der soziale Friede und die öffentliche Ordnung in diesem Lande gewahrt bleiben. Er hat sich in besonderem Maße bewusst zu sein und bewußt zu bleiben, dass man gerade ihm in seiner herausgehobenen Position nicht durchgehen lassen kann, was noch jeden „einfachen“ Staatsbürger zur Recht vors Gericht bringen würde – auch dann, wenn dieser „einfache“ Staatsbürger sich möglicherweise sogar das entsprechend verwerfliche Verhalten eines Ministers zum Vorbild genommen hat. Trotzdem dürfen Vorwürfe der vorliegenden Art nicht leichtfertig erhoben werden, es müssen gravierende Anlässe für sie gegeben sein, Belege und ernstzunehmende Gründe für diese Besorgnisse. Sehr sorgfältig sind also in jedem Einzelfall die Dinge zu prüfen.
Freilich muss andererseits auch berücksichtigt werden, daß eine Anzeige, die den Verdacht auf die Möglichkeit erheblicher Straftaten bei einem hochrangigen Politiker untersucht wissen will, auch auf gewichtige Gegen-Vorurteile stoßen kann: dem Vor-Urteil etwa, „Volksverhetzung“ könne ein Bundesminister schon deshalb nicht begangen haben, weil er eben Bundesminister ist – hoher Repräsentant eines demokratischen Rechtsstaates mithin. Die Frage, die dahintersteckt und Abwehr ebenso wie Antwort gleich mitenthält, könnte man also wie folgt formulieren: wie kann allen Ernstes angenommen werden, daß eine derartig hochrangige Persönlichkeit eine solche Position habe erringen können, wenn sie zu dermaßen schlimmen Entgleisungen fähig ist?
Das bedeutet: auch Befangenheiten, die sich gegen Besorgnisse stellen, wie sie in dieser Strafanzeige formuliert worden sind, können das Urteil trüben – unbewusste Identifikation mit Machtpersonen also, allzu grenzenlos-blindes Vertrauen in die Kontrollmechanismen unserer Demokratie sowie politische Voreingenommenheit oder ein sehr menschliches Harmoniebedürfnis ganz generell. Insofern erfordert jede Strafanzeige nicht nur eine rechtlich einwandfreie objektive Überprüfung des angezeigten Sachverhalts, sondern auch Selbstüberprüfung der damit Befassten im Blick auf eigene subjektive Hindernisse oder Bedingungen. Übrigens schließt das nach unserer Auffassung auch uns selber mit ein. Zumindest mit subjektiver Berechtigung hoffen wir sagen zu können, daß wir alle Aspekte bei unserer Anzeige äußerst gründlich und umfassend überprüft haben. Dieses mehrfache Bedenken hat unsere Besorgnisse freilich nicht mindern können, ganz im Gegenteil. Doch damit zum Sachverhalt selbst.
Wir begründen unsere Strafanzeige wie folgt (zunächst der Sachverhalt):
Der genannte Herr Wolfgang Clement, Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit, hat mindestens zweimal
• einmal in einem Interview mit der „Bild am Sonntag“ für die Ausgabe vom 2. Oktober 2005 (siehe Anlage 1 !) und
• einmal in einem Interview mit der „Berliner Zeitung“ für die Ausgabe vom 8. Oktober 2005 (siehe Anlage 2 !)
öffentlich die folgenden Tatsachenbehauptungen aufgestellt:
1. „Die Hemmschwellen für die Abzocke bei Arbeitslosengeld II und weiteren Unterstützungsleistungen sind offenkundig gesunken“;
2. „Das zeige sich bei der Zunahme von Korruption, Schwarzarbeit und beim Sozialmissbrauch“;
3. Dieser Mißbrauch geschähe „im großen Stil“;
4. es gälte, dem mit einer „Kampagne“ zu „antworten“. Ihr Titel sei: „Vorrang für die Anständigen – gegen Missbrauch, Abzocke und Selbstbedienung im Sozialstaat.“
(Alle vorangegangenen Zitate: siehe Anlage 1 !)
5. Nach „Stichproben und Anrufaktionen der Bundesagentur für Arbeit kann vermutet werden, dass die Arbeitslosigkeit derzeit um mindestens zehn Prozent überschätzt wird.“;
6. „Wir wollen keine Gesellschaft sein, in der die Ehrlichen sich als Dumme fühlen.“;
7. „Jeder Euro, der am Arbeitsmarkt ‚abgezockt’ wird, steht für eine sinnvolle Unterstützung nicht mehr zur Verfügung“;
8. „Leistungsmissbrauch ist also kein Kavaliersdelikt, sondern ein Betrug an all denen, die Hilfe wirklich brauchen, und an Millionen Menschen, die ihre Steuern und Sozialabgaben ehrlich entrichten und die sich auf diesen Staat verlassen können müssen.“;
9. deshalb solle ein „Maßnahmenpaket“ mit „sieben Stufen“ realisiert werden, zu denen unter anderem „bei Verdacht auf Leistungsmissbrauch“ auch „Hausbesuche“ zählten: „Dabei soll vor allem kontrolliert werden, ob Leistungsbezieher in eheähnlichen Verhältnissen wohnen und daher von ihrem Partner unterstützt werden müssten.“;
10. dieses „Maßnahmenpaket“ sei „auch eine Reaktion auf die ausufernden Hartz-IV-Kosten. Statt eingeplanter 14,6 Milliarden Euro muss der Bund im laufenden Jahr 26 Milliarden Euro für das neue Arbeitslosengeld II (ALG II) zahlen.“
(Alle Zitate unter den Punkten 5 bis 11: siehe Anlage 2 !)
Wolfgang Clement hat damit in seiner amtlichen Eigenschaft als Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit – als sehr hoher Repräsentant und verantwortlicher Politiker dieses Staates also – zumindest bei zwei verschiedenen Gelegenheiten zehn Prozent der ALG-II-BezieherInnen – das sind rund 280.000 Bürgerinnen und Bürger der Bundesrepublik – öffentlich beschuldigt, durch Betrug, auf kriminelle Weise also (§ 85 StGB), ihren Anspruch auf Arbeitslosengeld erworben zu haben, zumindest in der von ihnen reklamierten Höhe, und/oder durch fortwährenden Betrug – auch hier: zumindest, was die Höhe des beanspruchten Arbeitslosengeldes betrifft – aufrechtzuerhalten. Öffentlich hat der Bundesminister mithin eine ganze Bevölkerungsgruppe als Kriminelle hingestellt. Allein dieses erfüllt unseres Erachtens den Tatbestand der Volksverhetzung und die anderen genannten Tatbestände der Beleidigung, üblen Nachrede und Verleumdung.
Wenn man diese Vorwürfe – zu Substantiven zusammenfasst – auflistet, hat der Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit die betreffenden ALG-II-BezieherInnen mit den folgenden Begriffen diffamiert:
Betrüger (mehrfach)
Abzocker (mehrfach)
Ungehemmte/Hemmungslose (Betrüger usw…)
Korrupte
Schwarzarbeiter
Sozialmissbraucher (auch: im großen Stil)
Missbraucher
Selbstbediener
Unehrliche (mehrfach)
Leistungsmissbraucher (mehrfach)
Dieser Beleidigungen usw. werden nicht relativiert oder gerechtfertigt dadurch, dass sich der Bundesminister zum Beleg seiner Bezichtigungen auf sogenannte „Stichproben“ und eine „telefonische Umfrageaktion der Bundesagentur für Arbeit“ beruft. Ganz im Gegenteil: dieser Begründungversuch belegt die ungeheure Leichtfertigkeit, mit der Wolfgang Clement mindestens diese 280.000 Bürgerinnen und Bürger der Bundesrepublik auf volksverhetzende Weise der Öffentlichkeit gegenüber als Kriminelle hingestellt hat:
1.„Stichproben“ lassen, bereits dem Wortsinn nach, höchstenfalls Vermutungen mit äusserst begrenztem Wahrscheinlichkeitscharakter und Aussagewert für die Gesamtheit der jeweils durch sie betroffenen Gruppe zu. Schon insofern hat der Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit auf bloße Spekulationen hin über 280.000 Bürgerinnen und Bürger der Bundesrepublik gegenüber der Öffentlichkeit als Kriminelle hingestellt. Allein dieses zeigt den im hohen Maße leichtfertigen und bösartigen Charakter dieser Beschuldigungen. Es zeigt außerdem, dass der Minister mit dieser Äußerung auf rechtswidrige Weise gegen die für unseren Rechtsstaat zentrale Unschuldsvermutung verstoßen hat. Die Härte seines Vorwurfs an die Adresse von 280.000 Arbeitslose in der Bundesrepublik – sie seien Verbrecher – und die ungeheuerliche Leichtfertigkeit, mit der diese Beschuldigung gleich zweimal von dem Minister öffentlich erhoben worden ist, zeigen, dass hier auf strafrechtsrelevante Weise der öffentliche Frieden in der Bundesrepublik gestört worden ist. Ohne tatsächlichen und seriösen Beleg hat der Minister damit – in seinen eigenen Worten gesagt – eine „Kampagne“ gestartet, die eine ganze Bevölkerungsgruppierung mit den ihr angehörigen Menschen beleidigt, verleumdet, ihnen die Ehre nimmt und ihre Würde mit Füßen tritt.
Kriminalisierungskampagnen wie die des Bundesministers Wolfgang Clement stacheln zum Hass der Gesamtbevölkerung gegen die Arbeitslosen auf, sie müssen, nach der sozialen Ausgrenzung, die für die meisten ALG-II-BezieherInnen eh schon aus materiellen Gründen eingetreten ist, als moralische Stigmatisierung wirken, deren Folgen für das Gemeinwohl in diesem Lande noch gar nicht abzusehen ist. Wer, wie der Minister es im Kern tut, 280.000 Menschen in diesem Land als „Sozialschmarotzer“ diffamiert, darf sich nicht wundern, wenn es womöglich zu tiefgehenden feindseligen Entfremdungserscheinungen zwischen den verschiedenen Bevölkerungsteilen kommt und nicht zuletzt sogar zu bedrohlichen aggressiven Entgleisungen tätlicher Art.
2. Zu rechtfertigen und zu belegen sind diese beleidigenden Unterstellungen des Bundesministers für Wirtschaft und Arbeit gegenüber 280.000 Arbeitslosen in diesem Lande aber
auch nicht durch die von ihm erwähnte „telefonische Umfrageaktion der Bundesagentur für Arbeit“.
Erstens war diese Umfrageaktion nach Aussage des Bundesbeauftragten für Datenschutz, Peter Schaar, illegal: die Aussagen der befragten ALG-II-BezieherInnen wurden zum Teil mit der Drohung erzwungen, sie verlören sonst ihren Anspruch auf das Arbeitslosengeld II. Außerdem wurde diese Umfrageaktion – die insgesamt völlig lückenhaft blieb (und sich insofern nicht von einer „Stichprobe“ unterschied, siehe oben, Punkt 1) – von einem privat-kommerziellen Call-Center durchgeführt, das nicht befugt war, diese Befragung durchzuführen (Verstoß gegen das Verbot der Weitergabe von Sozialdaten an Privatpersonen und kommerzielle Stellen). Illegal erhobene Daten können aber schon grundsätzlich nicht als Beleg und zur Rechtfertigung der hier inkriminierten Anschuldigungen dienen – sie sind von vornherein in rechtlicher Hinsicht irrelevant. Freilich wirft auch dieser Vorgang ein Licht auf den eigentlichen Charakter der Aktionen gegen die Arbeitslosen: sie sind von einer bestürzenden Gleichgültigkeit gegenüber den Grundprinzipien unseres Rechtsstaates geprägt – wofür an oberster Spitze der Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit, Herr Wolfgang Clement, verantwortlich ist.
Zweitens: Aber auch, was die sachliche Richtigkeit der auf diesem illegalen Wege erhobenen Auskünfte betrifft, können diese Daten nicht die beleidigenden, ehrabschneidenden, verleumderischen Behauptungen des Bundesministers belegen. Zahlreiche Sozialwissenschaftler haben dies bereits öffentlich festgestellt. Hier genügt der Hinweis, daß „ehe- oder nicht-eheliche Partnerschaftsverhältnisse“ (siehe Punkt 9 der Anschuldigungen des Ministers, S. 4 dieser Anzeige hier!) innerhalb einer Wohngemeinschaft nicht per Telefon gerichtsfest eruiert werden können – um so weniger, wenn die telefonischen Auskünfte zum Teil mithilfe der genannten haltlosen Androhungen erzwungen worden sind. Aber nur gerichtsfeste empirische Beweise hätten zumindest sachlich, wenn auch nicht juristisch, dem Bundesminister gegebenenfalls das „Recht“ geben können, 280.000 Menschen der Öffentlichkeit gegenüber als Kriminelle hinzustellen. Es ist dabei von besonderer Verwerflichkeit, dass sich ein hoher Amtsträger unseres Rechtsstaates zu derart schlimmen und fahrlässigen Verurteilungen hat hinreißen lassen, zu Verurteilungen, die jeder Unschuldsvermutung Hohn sprechen und geeignet sind, den öffentlichen Frieden – der auch ein Rechtsfrieden ist – aufs nachhaltigste zu stören.
Wie gefährlich diese Äußerungen des Bundesministers für den sozialen Frieden in der Bundesrepublik sind, geht aber nicht zuletzt aus dem folgenden Tatbestand hervor:
Diese Stigmatisierung einer ganzen Bevölkerungsgruppe als „Abzocker“ und „Betrüger“ betrifft nicht nur die – angeblich! – davon betroffenen 280.000 ALG-II-BezieherInnen, von denen der Minister spricht; weit mehr, diese Stigmatisierung betrifft, wenn man genauer hinsieht und auf die realen Auswirkungen im sozialen Alltag schaut, alle Erwerbslosen in der Bundesrepublik, die Arbeitslosengeld beziehen. Die volksverhetzenden Äußerungen des Bundesministers lassen nämlich in der Lebenswirklichkeit gar keine Unterscheidungsmöglichkeit zwischen den angeblichen BetrügerInnen und den NichtbetrügerInnen unter den ALG-II-Beziehern zu. Alle rund 2,8 Millionen Arbeitslosen in der Bundesrepublik, die ALG-II beziehen, haben unter diesen Verurteilungen zu leiden, nicht nur die angeblich 280.000 „Abzocker“ und „Betrüger“ unter ihnen! Die volksverhetzenden Tatsachenbehauptungen des Bundesministers sind also geeignet, das gesamte Klima in unserem Gemeinwesen, soweit es das Verhältnis von Erwerbstätigen und Erwerbslosen betrifft, zu vergiften und den Frieden und die öffentliche Ordnung zu stören. Noch jeden Arbeitslosen, der ALG-II bezieht, bringen diese bösartigen Unterstellungen also in eine rechtlich unzumutbare und zudem schier ausweglose Situation.
• Rechtlich unzumutbar ist diese Situation, weil die von Arbeitslosigkeit betroffenen Menschen bei Angriffen aus der Bevölkerung, die sich auf diese ministeriellen Äusserungen berufen, dazu genötigt sind, in Umkehrung der Beweislast und wegen der
• Aufhebung der Unschuldsvermutung – wie sie der Minister der Öffentlichkeit vorgemacht hat – jeweils in der Alltagssituation den Beweis antreten zu sollen, daß sie nicht zu den „Betrügern“ und „Abzockern“ zählen. Was noch vor jedem Gericht gilt und zu den zentralen Rechtsprinzipien unseres Rechtsstaats zählt, hat für diese Arbeitslosen aufgrund der Beschuldigungen des Ministers in ihrem Alltag zu existieren aufgehört.
• Schier ausweglos ist diese Situation, weil dies – den Unschuldsbeweis anzutreten – den betroffenen Arbeitslosen in der jeweiligen konkreten Alltagssituation schlichtweg unmöglich ist: selbst bei größter Anstrengung wird es ihnen praktisch immer verwehrt sein, die eigene Ehre durch Gegenbeweis zu den volksverhetzenden Äußerungen des Bundesministers wiederherzustellen. Zur Wiederherstellung des sozialen Friedens und der öffentlichen Ordnung in der Bundesrepublik sowie zur Wiederhestellung der individuellen Ehre eines jeden einzelnen Arbeitslosen in unserem Lande ist also zwingend erforderlich, dass dieser Bundesminister für seine haltlosen Unterstellungen rechtlich zur Rechenschaft gezogen wird. Einen anderen Weg, der den genannten Rechtsschutz – die Unschuldsvermutung – und die Befreiung von dem Zwang, die eigene Unschuld beweisen zu sollen, für die ALG-II-BezieherInnen wieder in Kraft setzt, als diese Rechtssicherheit über die §§ 130, 185, 186 und 187 StGB sowie Artikel 5, Abs. 2 des Grundgesetzes auf dem Gerichtsweg wiederherzustellen gibt es nicht.
Abschließend weisen wir noch auf die folgenden Fakten hin:
Der mehrfach vom Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit gebrauchte Begriff des „Abzockens“ wird vom DUDEN („Die deutsche Rechtschreibung“, Mannheim 2001, siehe Anlage 3 !) folgendermaßen definiert:
• „(ugs) jmdn (auf betrügerische Art) um sein Geld bringen“
Das bedeutet aber im Zusammenhang mit „Sozialmissbrauch“ – eine Verbindung, die der Bundesminister selber hergestellt hat, siehe oben, Punkt 2 seiner Behauptungen (hier auf Seite 3): der Bundesminister hat in der Substanz gegenüber den 280.000 ALG-II-BezieherInnen, die angeblich in dieser Hinsicht straffällig geworden sind, nicht ‚nur’ allgemein von „Betrug“ oder „Abzocke“ gesprochen, von kriminellen Delikten also, die es auch in anderen Zusammenhängen als im Zusammenhang von Sozialzahlungen gibt. Er hat damit vor allem in prononcierter Weise die Denkfigur des „Sozialschmarotzers“ oder des „Sozialparasiten“ wiederbelebt und gegen die betreffenden (in Wirklichkeit – siehe oben die Seiten 7ff.! – gegen alle) ALG-II-BezieherInnen gerichtet, er hat also eine Behauptung aufgestellt, wie sie bereits vom OLG Frankfurt am Main am 15. August 2000 in seinem Urteil 2 Ss 147/00 als Volksverhetzung rechtkräftig verurteilt worden ist. Und weiter:
Gemäß Urteil des Bundesverfassungsgerichtes 90/241 liegt damit eindeutig eine Störung des öffentlichen Friedens vor. Der Bundesminister hat dabei die Erwerbslosen zu einem Gutteil zu Sündenböcken seines eigenen Versagens gemacht – zum Beispiel bei der Fehleinschätzung des Kostenvolumens für Hartz IV -, genau so, wie bereits 1972 der renommierte Sozialpsychologe und Psychoanalytiker Professor Dr. Dr. Horst-Eberhard Richter in seiner Publikation „Die Gruppe“ (Reinbek) in einem ganzen Kapitel unter der Überschrift „Die Sündenbockrolle der ‚neuen Armen’“ auf den Seiten 197ff. diesen Sündenbockmechanismus detailliert erläutert hat. Zu den eigenen Fehleinschätzungen des Bundesministers siehe dabei Anlage 4!
Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass diese strafrechtsrelevanten Unterstellungen des Bundesministers offenkundig dazu dienen sollen, weitere schwerste Rechtsverstöße zu „rechtfertigen“, zum Beispiel, in der Gestalt sogenannter „Hausbesuche“ (siehe oben, Punkt 9 auf Seite 4!), das Recht auf „Unverletzlichkeit der Wohnung“ (Artikel 13 unseres Grundgesetzes) aufzuheben. Und zuallerletzt:
Wir weisen ausdrücklich darauf hin, dass der Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit nicht ‚nur’ bestimmte Verdächtigungen gegenüber den ALG-II-BezieherInnen ausgesprochen hat, dahingehend nämlich, dass ein Teil von ihnen – über 280.000 Bürgerinnen und Bürger – sich möglicherweise straffällig gemacht hätten. Verdächtigungen tragen negative Vermutungen vor – sie stellen sozusagen „Delikte im Konjunktiv“ dar (= „Es könnte sein, dass der und der das und das begangen hat.“). Der Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit hat seine Beschuldigungen ausnahmslos in der Form von Tatsachenbehauptungen vorgebracht: seinen Äußerungen zufolge ist nicht nur möglich, sondern gewiss, dass mindestens 280.000 ALG-II-BezieherInnen Kriminelle sind. Lediglich im Zusammenhang mit der Anzahl der Arbeitslosen insgesamt hat der Bundesminister einmal von „Vermutung“ gesprochen! Selbst wenn man also einräumte, dass ein verantwortlicher Minister befugt sein könnte, zur Warnung und zur Information der Bevölkerung öffentlich irgendwelche Befürchtungen mitzuteilen, die sich auch auf das möglicherweise kriminelle Verhalten von Bevölkerungsteilen erstreckt, so hat er diese Grenze in Form und Inhalt seiner tatsächlichen Äußerungen weit überschritten – von der fehlenden rechtlichen und sachlichen Grundlage für diese kriminalisierenden Beschuldigungen an dieser Stelle einmal ganz abgesehen (siehe Seite 6f. dieses Schriftsatzes!).
Dieser fatalen Entwicklung muss der Rechtsstaat Bundesrepublik Einhalt gebieten durch die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens gegen den Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit, Herrn Wolfgang Clement, zumindest wegen der in dieser Strafanzeige angesprochenen Delikte. Es darf nicht sein, dass nach der sozialen Ausgrenzung der Arbeitslosen in der Bundesrepublik, die eh schon aufgrund der für sie eingetretenen materiellen Auswirkungen
eingetreten ist, nunmehr auch noch die moralische Stigmatisierung der Arbeitslosen betrieben werden kann – nicht einmal durch höchste Amtsträger dieser Bundesrepublik!
Deshalb erstatten wir in unserer Eigenschaft als Staatsbürgerin und Staatsbürger unseres Landes Strafanzeige wegen des Verdachts der Volksverhetzung und als selber betroffene ALG-II-Bezieher Anzeige wegen Beleidigung, übler Nachrede und Verleumdung.
S y b i l l e M a r g g r a f H o l d g e r P l a t t a
(Literaturpädagogin) (Autor und Wissenschaftsjournalist)
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Quelle: https://hinter-den-schlagzeilen.de/zum-feldzug-des-spd-ministers-wolfgang-clement-gegen-die-hartz-iv-bezieher-im-jahre-2005#comment-79059 und http://www.scharf-links.de/ Bild: Lizenz Creative Commons