Grundsätzlich wird den erwerbslosen Menschen von den Jobcentern unterstellt, dass sie an „individuellen Vermittlungshemmnissen“ – von „familiären Problemen über Fettleibigkeit bis hin zur Sucht“ leiden und die Sekundärtugenden wie frühes Aufstehen, Pünktlichkeit und regelmäßige Arbeitsabläufe einhalten, erst wieder trainieren müssen. Dafür hat die Arbeitsverwaltung immer schon eigene Maßnahmen entwickelt.
Bisher war es so, dass die langzeitarbeitslosen Menschen systematisch vom ersten Arbeitsmarkt strikt ferngehalten wurden, auch weil sie für den Maßnahmeträger bzw. das Sozialunternehmen gut eingearbeitete und vollwertige Beschäftigte sind und in den sogenannten Zweckbetrieben der Wohlfahrtsverbände und gemeinnützigen Unternehmen für Profit sorgten. Weil sie aber immer noch unter „Vermittlungshemmnissen“ litten, mussten sie immer wieder in eine neue Maßnahme mit sozialpädagogischer Begleitung. So gibt es Menschen, die in den vergangenen 15 Jahren des Hartz-IV-Systems nur in Maßnahmen beschäftigt waren, wegen ihrer „Vermittlungshemmnisse“.
In dieser langen Zeit haben sich naturgemäß Netzwerke aufseiten der Träger, wie Wohlfahrtsverbänden, Unternehmen und Initiativen gebildet, aber auch zwischen den Jobcentern als Mittelgeber und Maßnahmeträgern als Empfänger hat sich ein gegenseitiges Geben und Nehmen verfestigt, mit eigenen Kommunikationsstrukturen.Die Beschäftigung der Menschen in den Maßnahmen und Programmen der Arbeitsverwaltung gründet auf der Sozialgesetzgebung (SGB). Der „Arbeitnehmerstatus“ gilt für sie nicht und für die Beschäftigten in Maßnahmen und Programmen gelten ebenso wenig Arbeitsschutzrechte, geschweige denn Mitbestimmungsrechte. Sie können keine Vertretung wählen und das Grundrecht auf Koalitionsfreiheit ist ihnen verwehrt. Die Vorschrift des § 16 Abs. 3 SGB II stellt unmissverständlich klar, dass die zur Verfügung gestellten Arbeitsgelegenheiten kein Arbeitsverhältnis im Sinne des Arbeitsrechts begründen. Deshalb war in der Rechtsprechung bisher umstritten, welcher Rechtsnatur die Beziehung zwischen dem „Ein-Euro-Jobber“ und dem Dritten ist, der die Arbeitsgelegenheit anbietet.
Die Beschäftigten, die im Hartz-IV-Bezug sind, stehen permanent unter dem Druck möglicher Sanktionen, weil jeder Vermittlungsvorschlag des Jobcenters ein „nicht ablehnbares Angebot“ sein kann. Die Freiheit der Berufswahl gibt es für sie nicht.
Es wird hierbei die SGB II Vorschrift der § 10 Abs. 2 angewandt. Danach ist für einen erwerbslosen Menschen jede Arbeit zumutbar und er kann nur ausnahmsweise Arbeitsangebote ablehnen, z.B. nur, wegen besonderer körperlicher Anforderungen oder wegen der Gefährdung der Erziehung des Kindes. Die grundgesetzlich garantierte Berufsfreiheit wird ebenfalls berührt, wenn die Menschen gezwungen werden, jede Arbeit, Beschäftigung oder Maßnahme anzunehmen.
Ausdrücklich kein „wichtiger Grund“ zur Ablehnung eines Vermittlungsangebots sollte sein, dass die „Arbeitsbedingungen ungünstiger“ als die Bedingungen des bisherigen Beschäftigungsverhältnisses sind. Das ist der Hebel, mit dem man die Beschäftigten mit staatlichem Zwang in den Niedriglohnsektor drängt.
Damit das auch funktioniert, wird besonderer Wert auf eine reibungslose Zusammenarbeit von Jobcentern und Sozialunternehmen zur Förderung erwerbloser Menschen gelegt.
Diesem Klima des Gebens und Nehmens sollen auch die angeordneten Berichte über die Menschen in den Maßnahmen und Programmen dienen. Die Berichte, die zu einer umfassenden Psychiatrisierung der Menschen führen, haben den Zweck, die Beschäftigten möglichst lange in den Maßnahmen und vom ersten Arbeitsmarkt fern zu halten.
3 Berichte über Frauen für das Jobcenter zur Verlängerung der Maßnahmen für erwerbslose Menschen bei einem Sozialunternehmen
„Frau A. berichtet, dass sie sich bei der Erledigung ihrer Aufgaben sehr bemüht, aber bei der Umsetzung in konkreten Situationen Schwierigkeiten hat, wie
- Schwierigkeiten bei der Erledigung komplexer Arbeiten
- Konzentrationsprobleme bei zeitintensiven Aufgaben
- Unfähigkeit der Eigenregulation in emotional schwierigen Situationen
und Überforderung bei der Bewertung der anstehenden Aufgaben hinsichtlich der Prioritäten.
Frau A hat nach wie vor große Schwierigkeiten hinsichtlich ihrer Reflexionsfähigkeit von Arbeitssituationen – Beispielsweise ist sie nicht in der Lage, ihr Verhalten an sich verändernde Situationen anzupassen. Zu beobachten ist ebenfalls, dass sie im Umgang mit Kunden zwar stets um Freundlichkeit bemüht ist, jedoch in Stresssituationen ein unangemessenes Sozialverhalten zeigt. Frau A. ist meist mit Sonderaufgaben überfordert, was sich entweder in unangemessen extrovertiertem Verhalten oder in komplettem Rückzug äußert. Frau A. benötigt unmittelbare Hilfe durch die Fachanleitung oder eine Führungskraft. Es bedarf der Reflexion ihres Verhaltens, um Handlungsalternativen einzuüben und eine Eskalation zu vermeiden…
Für den Fall, dass eine Weiterbeschäftigung im Projekt JobPerspektive bis zur Überleitung in ein reguläres Beschäftigungsverhältnis auf dem ersten Arbeitsmarkt nicht möglich ist und damit die mühsam erarbeitete Stabilisierung und Integration von Frau A. in einem sicheren und engen Betreuungsrahmen entfällt, muss mit einer erneuten Destabilisierung und sozialem „Abrutsch“ gerechnet werden.
Darüber hinaus würde sie ein Einsatz auf dem freien Arbeitsmarkt zum jetzigen Zeitpunkt überfordern und es ist zu befürchten, dass sie durch eine berufliche Überforderung und mangels Unterstützung ihren Arbeitsplatz wieder verliert. Nach bisherigen biografischen Hintergründen muss auch in dem Fall davon ausgegangen werden, dass sie dann in alte Verhaltensmuster und vorherige soziale Strukturen zurückfällt. Aufgrund der geschilderten Sachlage und trotz Würdigung der bereits erfolgten Fortschritte ist eine Vermittlung in den 1. Arbeitsmarkt aus heutiger Sicht weder realistisch noch sinnvoll.
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Frau T. hat schwerste Migräneattacken. Im Durchschnitt hat sie im Abstand von 2 Monaten für ca. 1 Woche durchgehend Migräne. Üblich ist mindestens ein Migräneanfall pro Woche. Unabhängig von den Migräneattacken, ist Kopfschmerz oft latent vorhanden…
Der Schlaf- und Wachrhythmus ist durch die Migräne bestimmt. So berichtet Frau T. darf eine Schlafphase von 6 Stunden nicht überschreiten, weil eine längere Dauer den Kopfschmerz unmittelbar nach dem Aufwachen hervorruft.
Frau T. legt keine Gutachten über etwaige psychische Erkrankungen vor. Im persönlichen Gespräch wird jedoch deutlich, dass es ihr insbesondere in Zeiten der Arbeitslosigkeit seelisch sehr schlecht geht.
Auf Nachfrage gibt sie konkret an, in dieser Zeit antriebslos gewesen zu sein, die Hausarbeit zu vernachlässigen und nicht regelmäßig Nahrung zu sich zu nehmen. Ferner haben sie viel ferngesehen, sich nicht mit Menschen getroffen und fast permanent Kopfschmerzen (u.a. Migräne) gehabt.
Nach Würdigung aller geschilderten Sachverhalte ist eine Vermittlung von Frau T. in den ersten Arbeitsmarkt zum derzeitigen Zeitpunkt allerdings unrealistisch. Vielmehr scheint es sinnvoll, die bereits erzielten Erfolge weiter auszubauen bzw. die Grenzen ihrer Belastbarkeit im Hinblick auf die Vermittlung in den ersten Arbeitsmarkt zu berücksichtigen.
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Frau R. hat sehr oft Kopfschmerzen, bisweilen auch starke Migräneattacken. Die Eigenbehandlung erfolgt mit freiverkäuflichen Schmerzmitteln. Der Schlafrhythmus ist durch den Kopf- und Rückenschmerz bestimmt. So berichtet Frau R. dass sie oft nicht einschlafen kann und auf die Einnahme von Schlafmedikamenten angewiesen ist.Ihr geht es insbesondere in Zeiten der Arbeitslosigkeit seelisch sehr schlecht. Auf Nachfrage gibt sie konkret an, in dieser Zeit antriebslos zu sein, kaum zu schlafen und starke Nervosität bzw. Unruhe zu verspüren. Frau R. ist nicht in der Lage, die Anforderungen auf dem ersten Arbeitsmarkt zu erfüllen. Ihr sprachlicher Ausdruck ist zwar völlig ausreichend, um einfache Strukturen und Abläufe zu verdeutlichen bzw. sich im Alltag zu verständigen, das Schreibniveau erfüllt jedoch nicht den Anforderungen, da sie nur die Inhalte sehr einfacher Texte formulieren kann.
Eine Vermittlung auf dem ersten Arbeitsmarkt im kaufmännischen Bereich ist zudem wegen mangelnder PC Kenntnisse nicht vorstellbar. Darüber hinaus stellt eine Vermittlung sich wegen ihres Alters ebenfalls als schwierig dar. Jüngere Bewerber werden zumeist bevorzugt eingestellt.
Nach Würdigung aller geschilderten Sachverhalte ist eine Vermittlung von Frau R. in den ersten Arbeitsmarkt zum derzeitigen Zeitpunkt allerdings unrealistisch. Vielmehr scheint es sinnvoll, die bereits erzielten Erfolge weiter auszubauen bzw. die Grenzen ihrer Belastbarkeit im Hinblick auf die Vermittlung in den ersten Arbeitsmarkt zu berücksichtigen. Ein Verlust des Arbeitsplatzes und eine Konzentration auf ihre privaten Aufgaben, würden sie mit hoher Wahrscheinlichkeit in die oben dargestellte depressive Haltung zurückversetzen und die bereits erzielten Erfolge gefährden…“
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Die Berichte an das Jobcenter wurden ohne Wissen der betroffenen Menschen verfasst und weitergegeben, erst später wurden sie aufgefordert, die Berichte gegenzuzeichnen. Die Beurteilungen werden im Jobcenter für die persönlichen Gespräche genutzt, zu den Akten gefügt und können den Menschen ihr Leben lang negativ begleiten, ohne, dass sie sich dagegen wehren können.
Mehr noch, für die beurteilten Frauen waren die Berichte an die Jobcenter Teil ihrer Bemühungen der Mitwirkung, wie es gemäß dem SGB verlangt wird. Für die Sozialunternehmen die Garantie in ihren Betrieben die Menschen weiterhin ausbeuten zu können.
Beispiele für die Auswüchse der Förderungspraxis der Jobcenter für erwerbslose Menschen
- Es gibt Menschen, die seit Jahren immer noch unter besonderen „Vermittlungshemmnissen“ leiden. Sie haben seit 10 – 15 Jahren immer die gleiche Beschäftigung beim gleichen Maßnahme- bzw. Anstellungsträger inne. Sie haben auch alle Programme durchlaufen, wie z.B. die AGH/1Euro-Jobs, über AGH-Entgeltvariante, DOGELA und Jobperspektive und sind nun in der Öffentlich Geförderten Beschäftigung z.B. bei den FAV oder Teilhabechancengesetzt gelandet. Flankierend wurden sie über den § 16 SGB 2 entschuldet. Vom ersten Arbeitsmarkt werden sie immer noch strikt ferngehalten, auch weil sie für die Maßnahmeträger gut eingearbeitete vollwertige Beschäftigte sind.
- Der Einsatz der so genannten Programmkräfte hat dazu geführt, dass der Maßnahme- bzw. Anstellungsträger Dienstleistungen für sich selbst nicht mehr bei Fremdfirmen mit tarifgerechtem Entgelt einkaufen muss, sondern z.B. die Reinigung und hauswirtschaftliche Tätigkeiten durch die „Programmkräfte“ erledigen lässt.
- Die Menschen werden dann noch in privaten Haushalten eingesetzt, die dann für eine Stunde Reinigungsarbeit 20,00 Euro zuzüglich Fahrtkosten kosten, die Privathaushalte an den Maßnahme- bzw. Anstellungsträger zahlen müssen.
- Wenn es der Betriebsablauf notwendig macht, werden bei den Arbeitsgelegenheiten (AGH) auch mal Überstunden angeordnet, die dann großzügig mit 1,50 Euro in der Stunde vergütet werden.
- Bei einigen Maßnahmen werden monatlich pro Teilnehmer bis zu 500 Euro „Regiekosten“ an die Maßnahme- bzw. Anstellungsträger gezahlt. Wer diese Summe pro Träger und Teilnehmer zusammenrechnet und dann noch schaut, wie viele „Regisseure“ in Wirklichkeit tätig sind, sieht, wie lukrativ diese Förderketten sind.
- Da wundert es nicht, dass es, wie in anderen Städten schon geschehen, den Beschäftigten der Arbeitsverwaltung in den Fingern juckt, selbst Maßnahmeträger zu werden und ihre Kontakte und ihr know how nutzen zu können.
- Wenn die Zusätzlichkeit der Arbeit nach den etwas verschärften Kriterien nicht gegeben ist, müssen „Projektbezüge“ hergestellt werden.
- Dann kann auch z.B. eine „Unbedenklichkeitsbescheinigung“ für alle Gewerbe, die im Aktionsraum liegen, vom Einzelhandelsverband bereitgestellt und der Arbeitsverwaltung vorgelegt werden.
- Oft wird auch in Läden, in denen Ware verkauft wird, eine Erklärung abgegeben, dass nur an Bedürftige verkauft wird oder für eine Zeit lang Waren nicht mehr verkauft, sondern gegen eine Spende ausgegeben werden.
- Wenn einmal einige geförderte Maßnahmen nicht anlaufen, kann man immer noch auf die Förderung von Arbeitsverhältnissen (FAV) umschalten (Förderung durchschnittlich 65 Prozent) oder nach dem Teilhabechancengesetz einstellen.
- Wenn es eng wird und alles nicht mehr gegenüber der Arbeitsverwaltung beeinflussbar ist, kann die Rettung eine Umwandlung des Ganzen in einen „Integrationsbetrieb“ sein. Dass dieser Tipp nicht immer gut ist, wurde deutlich, als das Insolvenzverfahren über das Vermögen der Diakonischen Integrationsbetriebe Dortmund-Bochum-Lünen gGmbH eröffnet (AZ: 255 IN 45/14) wurde. 34 Menschen, davon über die Hälfte mit Beeinträchtigungen, die in den „CAP-Märkten“ gearbeitet hatten, mussten entlassen werden. Die Folge von Missmanagement und vor allem von mangelhafter Kontrolle der eigenen Aufsichtsgremien und öffentlichen Mittelgeber.
- Einer jungen Frau wurde zur Arbeitsaufnahme noch kurz vor ihrem Insolvenzverfahren ein Kredit für die Anschaffung eines KFZ durch das Jobcenter gewährt, der Arbeitsplatz selbst wurde mit 75 Prozent Lohnkostenzuschuss gesponsert und das Unternehmen bestand auf dem KFZ, weil die Frau als Vertreterin für Medizintechnik Arztpraxen anfahren musste – so etwas geben die Richtlinien für die freie Förderung her. Das Arbeitsverhältnis wurde nach 3 ½ Monaten beendet
und
das neue Teilhabechancengesetz macht die Träume der Branche wahr. Sie können ab sofort einen Menschen für 5 Jahre anstellen und sich die kompletten Lohnkosten vom Staat bezahlen lassen.
Wen wundert es da, dass niemand so recht an der bisherigen Förderpraxis etwas ändern möchte und froh ist, dass diese Beschäftigten nicht auf den 1. Arbeitsmarkt abwandern können, da dort schlicht die Arbeitsplätze fehlen.
Damit alles so weitergehen kann, haben sich in vielen Städten die Wohlfahrtsverbände bzw. Sozialunternehmen zu Interessenvereinen zusammengeschlossen. Die Mitglieder so einer Gemeinschaft haben vereinbart, dass sie sich der „Koop-kurrenz“, (bezeichnet die Dualität von Konkurrenz und Kooperation auf Märkten) in einer für alle Mitgliedsorganisationen zufriedenstellenden Weise widmen und sich schon in der Planungsphase bei neuen Maßnahmen der Arbeitsverwaltung abstimmen.
Die örtlichen institutionellen Hartz-IV-Beteiligten sind zu einem geschlossenen System geworden mit mafiaähnlichen Strukturen und beschäftigten Menschen die ausgebeutet und obendrein noch psychiatriert werden.
Quellen: tacheles, BA, SGB, Berichte von Betroffenen
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