Am 30. Juli 2020 hat Bundesarbeitsminister Hubertus Heil den Gesetzentwurf zur Neuregelung der Arbeitsverhältnisse in der Fleischindustrie vorgelegt. Nicht nur die bisherigen Werkverträge der osteuropäischen Fleischarbeiter sollen abgeschafft werden, auch Leiharbeit soll verboten sein. Alle Arbeitsstunden sollen dokumentiert, die behördliche Kontrolle soll verbessert werden. Für die Unterkünfte sollen „Mindeststandards“ gelten. Heil versprach lautstark: „Wir werden in der Fleischindustrie aufräumen!“
Der Gesetzentwurf reagiert auf einen „Skandal“: Nach drei Monaten „Corona-Krise“ wurden wie aus heiterem Himmel, in deutschen Fleischfabriken zahlreiche Infektionen von Fleischarbeitern bekannt, bei Westfleisch, Müller Fleisch, Vion, Danish Crown und anderen Schlachthöfen, am meisten, nämlich 1.500, im größten Schweineschlachthaus Deutschlands, bei Tönnies in Rheda-Wiedenbrück. Die Zustände waren seit zwei Jahrzehnten bekannt, wurden aber von Bundes- und Landesregierungen und den Aufsichtsbehörden gedeckt – auch während der Pandemie.
Erst die hohe, „überraschende“ Infektion machte die Zustände zum Skandal – und so verengt und vordergründig sind auch die Gegenmaßnahmen im Gesetzentwurf angelegt.
Die Werkverträge – in Wirklichkeit betrügerische Leiharbeit
Der Kern der Ausbeutung der osteuropäischen Fleischarbeiter ist der Werkvertrag. Aber nicht die rechtliche Konstruktion ist das Problem. Denn es handelt sich in der Fleischindustrie in der Regel gar nicht um Werkverträge, sondern um betrügerische Leiharbeit. Denn die Werkvertragsfirmen, die die Arbeiter anwerben und anstellen, haben gar nicht die für einen Werkvertrag erforderlichen Werkzeuge, Vorrichtungen, auch nicht das für heutiges Schlachten, Zerlegen und Weiterverarbeiten erforderliche know how, geben deshalb auch gar nicht die notwendigen Arbeitsanweisungen – all das liegt im Wesentlichen beim Auftraggeber, bei den Schlachtkonzernen wie Tönnies und Danish Crown.
Der Bundesarbeitsminister umgeht diese Feststellung vollständig. Sie würde nämlich zur Folge haben, dass etwa das gute Dutzend Werkvertragsfirmen, die für Tönnies die Arbeiter beschafft haben, bestraft werden müssen, ebenso Tönnies & Co wegen Beihilfe. Wer diesen Missbrauch heutiger Vertragsformen nicht benennt, ist auch nicht gegen den Missbrauch zukünftiger, anderer Vertragsformen gewappnet.
Die Mehrfach-Ausbeutung: Ihre Akteure, ihre Komplizen
Nicht die juristische Konstruktion ist das Problem. Dass die Fleischzerleger bei Bedarf schon mal mehr als 16 Stunden arbeiten mussten, dass ihnen Dutzende monatliche Überstunden nicht bezahlt wurden, dass sie gegen diese Rechtsbrüche sich nicht vor das Arbeitsgericht gewagt haben – das hängt nicht am Werkvertrag als solchem, sondern an einem zusätzlichen Angst- und Zwangsregime.
Dieses Regime wird von den Vermittlern, die meist aus den Herkunftsländern der Arbeiter kommen und die ethnische Zugehörigkeit ausnutzen, in Komplizenschaft mit Tönnies&Co organisiert. Beide Seiten nützen die Abhängigkeit der in der Heimat Arbeitslosen, ihre Sprach- und Rechtsunkundigkeit aus. Vermittlungsgebühren und Transportkosten nach Deutschland müssen abbezahlt werden. Die Werkvertragsfirmen treten gleichzeitig, meist durch eine Immobilien-Tochter, als Vermieter der Massenunterkünfte auf. Sie übernehmen die ganze Lebensgestaltung bis hin zum täglichen Transport von der Unterkunft zum Arbeitsplatz und zurück – wofür auch noch überhöhte Kosten vom Lohn abgezogen werden. Wer aufmuckt, ist sofort den Arbeitsplatz los und wird zurückgeschickt.
Wenn die Bundesregierung das erpresserische Angst- und Zwangsregime jetzt nicht offenlegt, dann wird sie auch in zukünftiger neuer rechtlicher Gestalt diese außerrechtlichen Begleitstrukturen nicht verhindern. Zu diesem Regime gehören als Komplizen nicht nur die Auftraggeber Tönnies&Co, sondern auch die die Landesregierungen, der Landrat, der Regierungspräsident, die Gewerbeaufsicht, die Gesundheitsämter, der Zoll, die Stadtverwaltungen, die Bürgermeister – und auch z.B. die von Tönnies wie in Gütersloh jahrelang bespendete CDU ( 9 mal von 2002 – 2017 insgesamt 158.000 Euro) und die von anderen Parteien herangeholten und mit monatlich 10.000 Euro bezahlten Einflussagenten wie der ehemalige SPD-Parteivorsitzende und Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel.
Werkvertrag und Leiharbeit – warum nur in der Fleischindustrie verbieten?
Die skandalabhängige Vordergründigkeit des Heil’schen Gesetzentwurfs zeigt sich auch in der Forderung: Werkvertrag und Leiharbeit nur in der Fleischindustrie verbieten! Und zudem eben nicht nur die Werkverträge, sondern auch noch die Leiharbeit!
Für beide Forderungen gibt es in der Tat gute Gründe. Zunächst zu den Werkverträgen: Sie wurden in der heutigen Form entwickelt, als für die Leiharbeit das Prinzip des equal pay eingeführt wurde: Leiharbeiter müssen genau so bezahlt werden wie die Stammbelegschaft.
Da griff das von der Bayerischen Metall- und Elektroindustrie finanzierte private Institut ZAAR ein. Dieses Zentrum für Arbeitsrecht und Arbeitsbeziehungen, von der Landesregierung Bayerns als Institut der Münchener Universität geadelt, brachte den Werkvertrag zu neuer, aufwendig verrechtlichter Blüte (1). Die Werkvertragsarbeiter müssen nicht gleich bezahlt werden wie die Stammbelegschaft, sondern nur nach Mindestlohn. Sie bilden auch sonst die arbeitsrechtlich unterste Stufe, noch unter der Leiharbeit.
Deshalb sind Werkverträge immer beliebter auch in den Auto- und Pharmakonzernen, in der Getränke-, Zucker-, Stahl- und Werftenindustrie (z.B. beim Bau der Kreuzfahrtschiffe bei Papenburg), in der Logistik und bei der Gebäudereinigung. So werden in der Autoproduktion immer mehr Bereiche auf Werkvertragsfirmen abgespalten: Bereitstellung, Fahrzeugaufbereitung, Sitztechnik, Logistik (Transporte mit Gabelstaplern u.ä.). VW hat z.B. die eigenen Werkvertragstöchter Autovision und Sitech. ThyssenKrupp Automotive und WISAG bieten im großen Stil Werkvertragler anderen Unternehmen an. Bei BMW, Daimler, Porsche, VW macht das inzwischen bis zu 50 Prozent der Arbeitsplätze aus.
So arbeiten die Beschäftigten eng zusammen, haben aber ganz unterschiedlichen Status: unterschiedlich bezahlt, mit und ohne betriebliche Zusatzleistungen bis hin zum doppelt so teuren Pausenkaffee für die Schlechterbezahlten, mit und ohne Recht auf die Wahl eines Betriebsrats. Und geheimnisvoller Weise sind bei den Schlechtergestellten mehr Menschen aus armen Staaten, aus Rumänien und von den Philippinen. So werden Belegschaften rechtlich und ethnisch aufgespalten und in einem Angst- und Erpressungssystem ruhig gehalten. Dazwischen noch die Leiharbeiter: Drei- und Zwei-Klassen-System. Zerstörung der Gemeinsamkeit, der Kollektivität. Schwächung aller. Gleiches Recht vor dem Gesetz – nichts davon.
Warum also Werkvertragsarbeit nur in der Fleischindustrie verbieten?
Genauso: Warum Leiharbeit nur in der Fleischindustrie verbieten?
Dasselbe gilt für die Leiharbeit. Mit ihrer Hilfe geht es längst nicht mehr darum, Auftragsspitzen und saisonale Schwankungen aufzufangen. Leiharbeit wurde zum Dauer-Instrument, zur Verbilligung und Entrechtung von Arbeit. Leiharbeiter haben ein paar mehr Rechte als die Werkvertragler, aber weniger als die Stammbelegschaft, auch wenn sie dasselbe arbeiten.
Gerade der EU-Vorbildstaat Deutschland hat die EU-Richtlinie ausgehebelt, die equal pay verlangt, gleiche Bezahlung wie für die Normalbeschäftigten. Die unternehmenshörigen Regierungsparteien haben das unterlaufen. Im Arbeitnehmer-Überlassungsgesetz (AÜG) haben sie Schlupflöcher eingebaut: Erst nach 9 Monaten gilt equal pay, und durch Tarifvertrag mit einer gefälligen (un-christlichen) Gewerkschaft kann diese Ausnahme endlos verlängert werden.
Die eine Million an Leiharbeitern heute sind die jeweils nächste Verfügungsmasse bei Krisen: Sie werden als erste schnell entlassen. Nötig ist also: Leiharbeit auf den nötigen Kern zurückführen! Die Schlupflöcher schließen! Die Leiharbeit in ihrer jetzigen Form muss überall abgeschafft werden!
Tönnies: 15 neue Tochterfirmen angemeldet
Tönnies hat Mitte Juli 2020 beim Amtsgericht Gütersloh 15 neue Tochterfirmen angemeldet, auf Vorrat, für die Fleischproduktion. Tönnies hat auch noch Wohnungsgesellschaften angemeldet, für die Unterkünfte der zukünftigen Beschäftigten. (2)
Tönnies will also das, was bisher die Werkvertragsfirmen geleistet haben und die oft gleichzeitig auch als Vermieter auftreten, nun selbst übernehmen. Damit können Tönnies&Co die Forderungen im Gesetzentwurf erfüllen und die Fleischarbeiter „direkt“ anstellen. Es ist aber nicht anzunehmen, dass Tönnies seine auch auf Mehrfach-Ausbeutung der Beschäftigten beruhende Marktführerschaft aufgeben möchte.
Das Gesetz gilt zudem nur für Unternehmen ab 50 Beschäftigte. Heutzutage ist es üblich, dass große Unternehmen hunderte von rechtlich selbständigen, kleinen Tochterfirmen gründen.
Tönnies&Co begründen die Bevorzugung von osteuropäischen Niedriglöhnern mit dem Mangel an deutschen Facharbeitern. Diese „Facharbeiterlücke“ wurde aber durch die gezielt organisierte Niedriglöhnerei, nicht zuletzt mithilfe der EU, erst hergestellt. Was also nötig wäre: Die Beschäftigten auch der Fleischindustrie wenigstens „normal“ bezahlen und mit den sonst üblichen Rechten ausstatten!
Die Mehrfach-Ausbeutung funktionierte ja auch nur deshalb, weil die Ausgebeuteten sich nicht wehren können, sich nicht wehren dürfen. Weil sie noch weniger Rechte als deutsche Beschäftigte haben. Warum will Tönnies weiter patriarchalisch auch für die Unterbringung sorgen?
Also: Der Gesetzgeber muss darauf achten, dass die zukünftigen Beschäftigten sich einen Betriebsrat wählen können, frei einer Gewerkschaft beitreten können, frei eine Wohnung mieten können wie andere Beschäftigte auch – kurz dass sie aus den Fängen der mafiotischen Vermittler befreit werden.
Bessere Kontrollen erst ab 2026?
Damit die Mehrfach-Ausbeutung, auch in ihrer modernisierten Form, nicht durchkommt, müssen die Aufsichtsbehörden erstens personell wesentlich aufgestockt und zweitens aus ihrer bisherigen Komplizenschaft herausgelöst werden.
Die Besetzung und Beauftragung der Aufsichtsbehörden unterliegt aber nur beim Zoll der Bundeskompetenz. Gewerbeaufsicht, Gesundheitsbehörden, Bezirksregierungen, Landratsämter, Stadtverwaltungen unterstehen den Landesregierungen.
Laut Gesetzentwurf soll die Kontrolldichte erhöht werden: Pro Jahr sollen 5 Prozent der Fleischbetriebe kontrolliert werden, ab dem Jahr 2026. Das ist angesichts der bisherigen jahrzehntelangen Praxis weitaus zu wenig und zu spät. Und die Bundesregierung sagt nichts, wie sie die Landesregierungen zur Aufrüstung der Aufsichtsbehörden bringen will. Die Übergangsfrist bis 2026 ermöglicht neue Umgehungspraktiken.
Gleichzeitig: Bundesregierung verringert Lebensmittel-Kontrollen
Und kein gutes Zeichen: Drei Tage vor dem Gesetzentwurf hat das Bundeskabinett einen Beschluss gefasst, der in die Gegenrichtung zeigt: Künftig werden in Deutschland noch weniger Lebensmittel-Kontrollen durchgeführt.
Künftig soll die Mindesthäufigkeit der Regelkontrollen für Betriebe der höchsten Risikoklasse von bisher arbeitstäglich auf wöchentlich abgesenkt werden, in der zweithöchsten Risikoklasse von wöchentlich auf monatlich und in der dritthöchsten Risikoklasse von monatlich auf vierteljährlich. (3)
Das ist die Reaktion der Bundesregierung auf das skandalöse Versagen der Aufsicht bei den Produkten des Wurstherstellers Wilke in Nordhessen, wo Dutzende Menschen erkrankten und mehrere gestorben sind.
Elektronische Erfassung der Arbeitszeit?
Der Gesetzentwurf sieht die vollständige elektronische Erfassung der Arbeitszeit vor. Damit soll verhindert werden, dass geleistete Überstunden auch bezahlt werden. Das klingt gut.
Aber: Am 14.5.2019 hatte der Europäische Gerichtshof EUGH auf die Klage einer spanischen Gewerkschaft geurteilt (C-55/2018): Die gesamte Arbeitszeit muss elektronisch erfasst werden! Damit auch Überstunden bezahlt werden. Dagegen protestierte die Unternehmerlobby BDA. Folgsam erklärte Wirtschaftsminister Altmaier: Wir werden das Urteil nicht einfach hinnehmen! Arbeitsminister Heil erklärte: Wir werden wegen des Urteils „nicht alles auf den Kopf stellen“. Deshalb beauftragte die Bundesregierung die beiden Professoren Volker Rieble und Gregor Thüsing mit einem Gutachten, wie das Urteil umgangen werden kann. (4)
Rieble ist übrigens der Direktor des ZAAR, das die heutige Werkvertragskonstruktion zur vollen Blüte gebracht hatte. Thüsing von der Universität Bonn, zugleich Chef der Arbeits-Sondergerichtsbarkeit der beiden christlichen Großkirchen, lehnt zugleich schon öffentlich die Abschaffung der Leiharbeit in der Fleischindustrie ab: „Leiharbeit ist nötig. Die Fleischindustrie muss sich umstellen, muss aber flexibel bleiben.“ (5)
Übrigens reicht es nicht, auch die Überstunden „zu erfassen“. Das hat auch Tönnies gemacht und sie trotzdem vielfach nicht bezahlt. Zur Erfassung gehört: Die erfassten Stunden müssen auch den Beschäftigten gerichtsfest dokumentiert werden. Dazu steht im Heil’schen Gesetzentwurf nichts.
Nur „Mindeststandards“ bei der Unterbringung?
Schließlich sollen laut Gesetzentwurf für die Gemeinschaftsunterkünfte der Fleischarbeiter „Mindeststandards“ gelten. Das betrifft etwa die Hygiene und die Miethöhe. Festgelegt ist im Gesetzentwurf dazu nichts.
„Mindeststandards“ – das ist in der EU die übliche Formel für einen Standard, der niedriger ist als der Normalstandard. Für osteuropäische Arbeiter soll also weiter nur eine zweitklassige Unterkunft ausreichen. „Wir alle gemeinsam in Europa“, so die schleimige Standardformel der deutschen Bundeskanzlerin. Osteuropäische oder andere Fleischarbeiter: Sie sollen also, auch beim Wohnen, weiter keine Normal-Europäer sein, auch nicht in Zukunft?
Auch in den Normal-Unternehmen: Kein Arbeitsschutz
Während überall in der Öffentlichkeit die Corona-Maßnahmen streng kontrolliert werden, ordnet der Staat in den Unternehmen weder Maßnahmen an noch kontrolliert er die Einhaltung der als allgemein ausgegebenen Maßnahmen – weder in der besonders gefährdeten Fleischindustrie noch sonst in den anderen Unternehmen.
Die Lobby aus BDA und BDI hat bis heute verhindert, dass es eine bundesweite Regelung zum Schutz der Arbeitnehmer gibt. Erst Anfang Juli hat die Bundesregierung einen Entwurf vorgelegt. Der ist aber auch Anfang August immer noch nicht verabschiedet „Auch sechs Monate nach Ausbruch der Pandemie in Deutschland fehlen Vorschriften zum Infektionsschutz im Job. Arbeitgebervertreter wehren sich gegen verbindliche Regeln.“
Auch dies lässt daran zweifeln, ob das von Heil versprochene „Aufräumen in der Fleischindustrie“ über vordergründiges Skandal-Management hinausgeht.
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Anmerkungen:
(1) Werner Rügemer/Elmar Wigand: Die Fertigmacher. ArbeitsUnrecht und professionelle Gewerkschaftsbekämpfung, Köln 3. erweiterte Auflage 2017, S. 133ff.
(2) War’s das mit der „Abzockerei“? Frankfurter Allgemeine Zeitung 23.7.2020
(3) Weniger Lebensmittelkontrollen, Frankfurter Allgemeine Zeitung 30.7.2020
(4) Arbeitszeiterfassung: Suche nach dem Königsweg, HB 14.1.2020
(5) Leiharbeit ist nötig, Süddeutsche Zeitung 3.8.2020
Der Artikel erschien am 5.8.2020 auf https://linkesforum-paderborn.de Bild: nrw linke.de