Über die konkrete Lebenssituation armer Menschen in der Großstadt – Fahren ohne Fahrschein

Die Auswirkungen der Reformen der „Agenda 2010“ die von der rot-grünen Koalition Anfang des Jahrhunderts auf den Weg gebracht wurden, haben der politischen Kultur und dem sozialen Klima im Land dauerhaft geschadet. Der Arbeitsmarkt wurde dereguliert, der Sozialstaat demontiert, eine Steuerpolitik betrieben, die den Reichen mehr Reichtum und den Armen mehr Armut gebracht und auch der Mittelschicht deutlich gemacht hat, dass ihr Abstieg jederzeit möglich ist. Damit reagieren die Stärkeren ihre Abstiegsängste, Enttäuschung und ihre Ohnmacht an den Schwächeren ab.

Begleitet wird das Ganze von dem Misstrauen gegenüber den Mitmenschen und wenn man sieht, dass der Staat überall ein Sicherheitsproblem entdeckt, das mit martialischen Einsätzen der Sicherheitskräfte entschärft werden muss, dann wird die gefühlte Bedrohung real erlebt und nach dem noch stärkeren Staat gerufen. Dabei ist es erforderlich, denen, die nichts mehr haben, als strafender und disziplinierender Staat entgegen zu treten und denjenigen Menschen mit Abstiegsängsten und den großen Vermögen einen starken Staat zu demonstrieren.

Der Bereich in dem der strafende Staat schon seit Jahrzehnten eine besonders tragische Kontinuität an den Tag legt, ist die Ahndung von Bagatelldelikten, die von den ärmeren Menschen begangen werden.

Das Armutsdelikt Fahren ohne Fahrschein wird im Folgenden genauer betrachtet und auch wie es geahndet wird.

Fahren ohne Ticket ist neben Ladendiebstählen ein klassisches Armutsdelikt. Die meisten Fahrscheinsünder haben kein Geld für eine Fahrkarte und könnten ohne Nutzung der öffentlichen Verkehrsmittel nicht zur Arbeit, zur Schule, zum Jobcenter, zu Verwandten und Freunden kommen. Wer erwischt wird und nicht zahlen kann, wird irgendwann eingesperrt.

Fahren ohne Fahrschein als Straftatbestand

Bereits im Jahre 1935 wurde Fahren ohne Fahrschein als Straftatbestand normiert, weil man eine Strafbarkeitslücke schließen wollte. Fahren ohne Fahrschein konnte nicht unter den Betrugstatbestand gefasst werden, weil kein Mensch da ist, den man betrügen kann. Wer in ein Verkehrsmittel einsteigt, trifft ja nicht auf Einlasskontrolleure aus Fleisch und Blut, sondern zunächst nur auf andere Fahrgäste. Das Zauberwort für die juristische Auslegung des Tatbestandmerkmales beim Fahren ohne Fahrschein ist der äußerst problematische Begriff „Erschleichen“. Der Begriff „Erschleichen“ beinhaltet immer das Element der Täuschung oder der Manipulation und unterstellt etwas mit List erringen zu wollen. Dies kann man annehmen, wenn jemand beispielsweise Kontroll- oder Zugangssperren umgeht, was beim Fahren ohne Fahrschein aber gar nicht der Fall ist.

Der Bundesgerichtshof (BGH) weicht vom eigentlichen Wortsinn des „Erschleichens“ ab, der Tatbestand ist für ihn bereits dann erfüllt, wenn eine Person in ein Verkehrsmittel ohne gültigen Fahrschein einsteigt und sich wie ein normaler Fahrgast verhält. Diese Auslegung ist äußerst problematisch, obwohl sie vom Bundesverfassungsgericht gebilligt wird. Denn bei allen Gesetzen, die in die Grundrechte eingreifen, ist auf die Bestimmtheit der Begriffe unbedingt zu achten.

Grundsätzlich sollte auch nicht jedes Verhalten, das man prinzipiell bestrafen könnte, auch bestraft werden. Sanktionen und die Strafe selbst sind dann legitim, wenn sie insgesamt positiven Nutzen für die Gesellschaft bringen. Diesen positiven Nutzen für die Gesellschaft kann man beim Strafen für das Fahren ohne Fahrschein kaum konstruieren, da es sich um Bagatellfälle mit einem Wert von 2-4 Euro handelt, die Verfolgungskosten sich aber auf jährlich rund 15 Millionen Euro belaufen.

Dazu kommt noch, dass jemand der ohne Ticket fährt, meistens noch doppelt bestraft wird. Einmal bekommt er die Strafe fürs fahren ohne Fahrschein, das „erhöhte Beförderungsentgeld“ aufgebrummt, zum anderen bringt der Verkehrsbetrieb einen solchen Vorfall zur Anzeige und er bekommt zusätzlich noch ein Strafverfahren. Genau das darf es in einem Rechtsstaat nicht geben.

Der Deutsche Richterbund (DRB) hat neuerdings die Wertung des Fahrens ohne Fahrschein als Straftatbestand infrage gestellt. Er geht davon aus, dass die Verkehrsbetriebe sich selbst durchaus besser gegen Fahrscheinsünder wehren könnten. Doch um Geld zu sparen, setzen sie darauf, dass der Staat mit seiner unter Personalknappheit leidenden Strafjustiz dies für sie übernimmt. Die Forderung nach einer Streichung des entsprechenden Paragrafen geht dem Richterbund allerdings zu weit, er spricht sich lediglich dafür aus, das Fahren ohne Fahrschein als Tatbestand im Strafgesetzbuch zu überprüfen.

Die Verkehrsbetriebe wollen keine Gesetzesänderung, sie meinen eine Entkriminalisierung sei der falsche Weg. Für sie ist Fahren ohne Fahrschein „mit Sicherheit kein Kavaliersdelikt“, das nur durch die abschreckende Wirkung einer Gefängnisstrafe einzudämmen ist.

Doch der Hauptadressat für Änderungen ist und bleibt der Gesetzgeber, da er verfassungsrechtlich nach dem Sozialstaatsgebot verpflichtet ist, allen Bürgern Mobilität zu ermöglichen. Wer sich aufgrund von Versäumnissen des Gesetzgebers keine Teilnahme am öffentlichen Verkehr leisten kann, kann deshalb auch keine Straftat begehen.

Fahrscheinfreier Öffentlicher Personennahverkehr

Die ganze Debatte ums Fahren ohne Fahrschein könnten wir uns sparen. Es ist keine utopische Zukunftsvision, den fahrscheinfreien Öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) zu fordern. Es wäre leicht, in der Mobilität eine Gleichheit zu schaffen, die allen, unabhängig von Einkommen und Vermögen, eine Teilhabe ermöglicht. Doch auch hier kommt man über einige lokale Initiativen nicht hinaus.

Wie heftig aber derzeit noch reagiert wird, zeigt das Schicksal eines 75 Jahre alten Mannes, den kürzlich die Bundespolizei auf dem Bahnhof in Hamm festhielt. Acht Staatsanwaltschaften hatten ihn gesucht, drei hatten ihn zur Festnahme ausgeschrieben. 11-mal wurde er beim Fahren ohne Fahrschein erwischt. Für das „Erschleichen von Dienstleistungen“ sollte er 1.700 Euro bezahlen. Das Geld hatte er nicht und musste dann 110 Tage Ersatzfreiheitsstrafe in der Justizvollzugsanstalt in Hamm absitzen.

 

 

Quellen: WAZ, Lorenz Böllinger, Martin Lemke, VRR, zeit-online, monitor.de, DRB, Verband Deutscher Verkehrsunternehmen
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