Wir untertreiben es mit den Armutszahlen

Von Inge Hannemann

Letztens bin ich erneut über einen Artikel der verdeckten Armut oder wie ich es in der Süddeutschen gelesen habe: „Hilfe vom Staat: Warum viele auf das Geld verzichten“ gestolpert. Ich kann nicht sagen, wie viele Artikel und Studien ich darüber schon gesehen habe. Viele. Sehr viele. Und mit dieser Kolumne schreibe ich gewiss auch nichts Neues. Und doch sitze ich vor meiner Tastatur und überlege, ob mir etwas Taufrisches in den Kopf kommt.

Spontan flimmert mir der Film: „Und täglich grüßt das Murmeltier“ vor die Linse. Wer kennt nicht das schier endlose Drama um einen zynischen und egozentrischen Fernseh-Wetterfrosch und Menschenfeind, der am „Murmeltiertag“ in einer pennsylvanischen Provinz feststeckt und ihn den Tag seiner Live-Reportage immer wieder erleben lässt. Nicht anders erging es mir mit der Süddeutschen, wenn Thomas Öchsner schreibt: „20 Jahre später zeichnen Forscherinnen und Forscher ein noch immer düsteres Bild. Egal ob es ums Wohngeld, um die Grundsicherung im Alter, Hartz IV (jetzt Bürgergeld), den Kinderzuschlag oder Pflegehilfen geht, der Staat spart jedes Jahr etliche Milliarden Euro, weil Millionen Bürgerinnen und Bürger nicht die Hilfen und Zuschüsse beantragen, die sie laut Gesetz beziehen könnten“. Öchsner präsentiert dazu Studien, dass zwischen 30 und 60 Prozent der Haushalte auf Hilfen durch Hartz IV verzichten. Oder, dass „etwa die Hälfte der berechtigten Haushalte kein Wohngeld beantragen“, was Auswertungen durch das Institut der Deutschen Wirtschaft (IW) ergeben haben. Nicht besser sieht es beim Kinderzuschlag für Geringverdiener:innen aus. Öchsner befragt unsere Familienministerin Lisa Paus (Bündnis 90/ Grüne), die feststellt, dass nur 30 Prozent der Anspruchsberechtigten den Zuschlag kassierten.

Angst vor Stigmatisierung lähmt

Natürlich wurde diese Nicht-Inanspruchnahme wissenschaftlich untersucht. Ein Experiment machte es möglich. So fanden DIW-Forscher 2019 heraus, dass die Angst vor Stigmatisierung eine mögliche Ursache für die niedrige Inanspruchnahme von Sozialleistungen ist. Das gilt insbesondere dann, wenn sie öffentlich sichtbar ist. Demnach gibt es einen sogenannten Stigma-Effekt, der sich aus zwei Komponenten zusammensetzt: Leistungsstigma und moralischem Stigma. Dass das ebenso nicht neu ist, erwähnt auch 2013 Klaus Dörre in seinem Buch „Bewährungsproben für die Unterschicht“, wenn er schreibt: „Erwerbslosigkeit gilt als selbstverschuldet und die Erwerbslosen werden der Faulheit bezichtigt. Hartz IV gilt in der Gesellschaft als Stigma, daran vermögen auch die (…) Bestrebungen der Arbeitsministerin zu einer Namensänderung der Grundsicherung nichts zu ändern“. Hoppla. Und wieder grüßt das Murmeltier, wenn es nun Bürgergeld anstelle von Hartz IV heißt. Komme ich zur bürokratischen Sprache in den Anträgen. Auch so eine Abschreckung. Verena Bentele, die VdK-Präsidentin, kritisiert berechtigt, wenn sie genau das und die Anträge an sich als zu kompliziert bezeichnet und somit die Antragstellung zu schwer ist. Ich sage mal so: Im idealen Fall ist eine Steuererklärung einfacher als ein Antrag auf Sozialleistung oder Wohngeld. Gut, von einer Bierdeckel-Steuererklärung sind wir noch immer meilenweit entfernt. Demnach haben wir das Stigma, die Scham, die Bürokratisierung und eine Antragssprache, die schwer zu verstehen ist, was eine Anstragstellung verhindern kann und millionenfach verhindert. Nachvollziehbar. Noch ein Gedanke: Vielleicht möchten die Nicht-Antragsteller:innen einfach auch nur keine Bittsteller:innen bei irgendeinem Amt sein. Dann lieber mit weniger Geld oder einem Zweitjob über die Runden kommen, als sich dem Risiko aussetzen vom Amt als Mensch zweiter Klasse behandelt zu werden. Nun ja, die Bundesagentur für Arbeit möchte zukünftig ihre Behörde digitalisieren. Online-Anträge rufen. Sei selig, wer einen Drucker mit Scanfunktion hat, um die häufig mindestens 50 benötigten Seiten wie Kontoauszüge, Mietvertrag usw. einzuscannen und rüberzubeamen. Sei selig, wer ein stabiles Netz hat. Oder überhaupt Internet.

Verdeckte Armut ist ein politisches Randthema

Die verdeckte Armut ist seit Jahrzehnten ist großes Thema, welches jedoch noch immer ein politisches Randthema ist. Laut dem Statistischen Bundesamt waren 2021 15,8 Prozent (rund 13 Millionen) Menschen armutsgefährdet. Nehmen wir noch die verdeckte Armut hinzu, kommen weitere Millionen dazu, deren Zahl eine Variable ist, da unausgefülltes Papier, Scham und Stigma nicht gezählt werden können. Es ist gut, dass die Süddeutsche das Thema erneut aufgegriffen hat. Aufklärung kann es nie genug geben und Wiederholungen erst recht nicht. Allerdings wird ein neuer Name für eine Sozialleistung (Bürgergeld) nichts ändern und Anträge bleiben verkomplizierte Röntgenapparate, die die Menschen bis ins Kleinste durchleuchten. Solange in Teilen Erwerbslosigkeit mit Faulheit und Selbstverschuldung gleichgesetzt wird, solange bleibt es ein Stigma. Eine positive Änderung kann nur erfolgen, wenn sich etwas in unserem normativen Verhalten verändert. Damit sind wir auf der einen Seite als Einzelne aufgerufen, aber auch politische Botschaften, die aufhören müssen, abhängig Beschäftigte und Nicht-abhängig-Beschäftige gegeneinander auszuspielen. Ziel eines Sozialstaates muss sein, dass die eigene Würde nicht an der Tür einer Behörde oder eines Antrages abgegeben wird. Auch, wenn ich die Würde selbst bin.

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Link Süddeutsche:

https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/wohngeld-grundsicherung-deutsche-geld-verzichten-1.5725367

 

 

 

 

 

 

Quelle: https://www.links-bewegt.de/
Bild: dapd