Hintergrund: Atomausstieg Deutschland – 50 Jahre nach Beginn der Wyhl-Proteste

Von Axel Mayer

Der Atomausstieg am 15.4.23 ist schon ein erstaunliches Phänomen. Seit wann setzen sich in a »Rich Man´s World« die Vernunft gegen die Macht, die Nachhaltigkeit gegen die Zerstörung und die Kleinen gegen die Großen durch?

Vor 50 Jahren erkannten die Verantwortlichen des damaligen Energiekonzerns Badenwerk, dass der Atomkraftwerksstandort Breisach politisch nicht durchsetzbar war. Am 19. Juli 1973 wurde erstmals der neue Standort eines Atomkraftwerkes in Wyhl bekannt. Dort scheiterten ab 1975 die Pläne ein AKW zu bauen am massiven Widerstand der örtlichen Bevölkerung.

Fast 50 Jahre später, genau 111 Jahre nach dem Sinken der unsinkbaren Titanic, werden am 15.4.2023 endlich die drei letzten deutschen AKW Neckarwestheim-2, Emsland und Isar-2 abgeschaltet. Der Atommüll, der in etwas mehr als 3 Jahrzehnten entstand, strahlt noch eine Million Jahre und gefährdet 30.000 Generationen. Geschichtlich gesehen war und ist die Nutzung der Kernenergie zutiefst asozial. Die AKW-Stilllegung ist kein „Selbstzweck“ sondern berechtigte Gefahrenabwehr.

Leider umfasst der Atomausstieg nicht auch die Anlagen der Urananreicherung in Gronau und die Brennelementfertigung in Lingen.

Die Nutzung der Atomkraft in Deutschland war nicht erst seit den „AKW-Wyhl-Protesten“ vor einem halben Jahrhundert heftig umstritten. Massive Proteste in Wyhl, Grohnde, Brokdorf, Wackersdorf und Gorleben haben die letzten Jahrzehnte in Deutschland geprägt. Und da war nicht nur das »NAI Hämmer gsait«, das Nein der Umweltbewegung zur Atomkraft. Da war immer auch das Ja zu den umweltfreundlichen, kostengünstigen und nachhaltigen Energien, die von Atom-, Öl- und Kohlekonzernen und ihren Lobbyisten in der Politik massiv bekämpft wurden und immer noch bekämpft werden. Während in den ersten Jahrzehnten der Atomenergiedebatte „nur“ die Aspekte des Umwelt- und Menschenschutzes auf Seiten der Umweltbewegung standen, ist es seit einigen Jahren auch die Ökonomie. Strom aus Wind und Sonne ist nicht nur umwelt- und menschenfreundlicher sondern auch wesentlich kostengünstiger als Strom aus neuen AKW. Auch der ökonomische Niedergang der französischen Atomwirtschaft zeigt dies mehr als deutlich. Und wie heißt es? „It’s the economy stupid.“ Trotz alledem:

  • Die globale Macht der alten und neuen atomar-fossilen Seilschaften ist noch nicht gebrochen.
  • Die von der Anti-Atombewegung befürchtete weltweite Verbreitung von Atomwaffen durch die nur scheinbar friedliche Nutzung der Atomkraft hat begonnen.
  • Die von der Umweltbewegung befürchteten schweren Atomunfälle kamen nicht mit der Wahrscheinlichkeit von ein zu einer Million Jahre, wie von der Atomlobby verkündet. Die Atomunfälle und Atomkatastrophen von Lucens (CH), Harrisburg (USA), Tschernobyl (SU) und Fukushima (Japan) bestätigten alle frühen Befürchtungen der Umwelt-Aktiven und zeigten die Lügen der Atomlobby.

Jahrzehntelang haben marktradikale atomar-fossile Seilschaften den Ausbau der zukunftsfähigen Energien, Stromtrassen und die Energiewende massiv behindert und das Energieerzeugungsmonopol der mächtigen Energiekonzerne verteidigt. Jetzt warnen sie scheinheilig vor einem Black-out und vor dem Klimawandel. So kämpfen Sie für die Gefahrzeitverlängerung und gefährliche und teure neue AKW.

Viele Medien berichten kurz vor dem Ausstiegsdatum leider gerade ungeprüft, dass die Atomkraft weltweit im Aufschwung sei. Der World Nuclear Industry Status Report 2022 zeigt die Realität: „Es ist erstaunlich, wie sehr sich die Realität des Atomindustriesektors von der Wahrnehmung der Öffentlichkeit und zahlreicher Entscheidungsträger als blühende Zukunftstechnologie unterscheidet. Fast alle Indikatoren haben ihre Höchstwerte seit Jahrzehnten überschritten, z.B. die Anzahl laufender AKW 2002, der Anteil der Atomkraft am Strommix 1996 oder die Betriebsaufnahmen Mitte der 1980er Jahre.“ Und dennoch behaupten Atomlobbyisten, dass alle Welt neue AKW baue und nur die „dummen Deutschen“ aus der Atomkraft ausstiegen.

Die Hauptstoßrichtung der aktuellen PR-Kampagnen ist nicht faktenorientiert, sondern beruht auf dem Erfolgsrezept einer perfekt organisierten Angstkampagne. Für Laufzeitverlängerung und neue AKW kämpfen erstaunlicherweise nicht mehr direkt die deutschen Energiekonzerne, denn diese können rechnen. Für die Gefahrzeitverlängerung kämpfen insbesondere die Lobbygruppen und Parteien, die politisch die Hauptverantwortung für den Klimawandel, Ressourcenverschwendung und die Artenausrottung tragen. Je offensichtlicher es wird, dass wir den großen, globalen Wachstums-Krieg gegen die Natur gerade krachend verlieren, desto stärker setzen sie auf den Mythos der neuen Wunderwaffen. Dieser Mythos war auch im letzten Weltkrieg sehr effizient und kriegsverlängernd, änderte aber nichts an der Katastrophe. Der Streit um die Laufzeitverlängerung und um neue AKW ist getragen von der Hoffnung und Propaganda der „Wunderwaffe Atomkraft“, die ein zerstörerisches Weiter so ermöglichen soll. Ein Weiter so mit Weltraumtourismus, Superyachten, Überschallflugzeugen, Rohstoffverschwendung, unbegrenztem Wachstum und selbstverständlich ohne Tempolimit.

Hier zeigt sich auch eine Konfliktlinie, die aktuell viele ökologische und soziale Konflikte prägt. Nicht der Staat, sondern der Markt soll entscheiden, ob Atomkraftwerke, PFAS oder CO? gefährlich sind. Nach dieser marktradikalen Logik wären DDT, FCKW und Asbest immer noch nicht verboten.

Nach der Abschaltung der letzten deutschen AKW muss sich die Umweltbewegung noch stärker als bisher um die massiv bekämpfte Energiewende und um den Ausstieg aus den fossilen Energiequellen kümmern. Technischer Fortschritt und gute, nachhaltige, menschengerechte Technik könnten schon heute das gute Leben für alle Menschen der Welt ermöglichen, wenn es mehr Gerechtigkeit gäbe. Die Abschaltung der AKW ist Grund zur Freude, aber kein Anlass für Triumph, insbesondere auch so lange in Lingen die Brennelementfabrik noch arbeitet.

Im großen, globalen Krieg des Menschen gegen die Natur und damit gegen sich selber, (Atommüllproduktion, Klimawandel, Artenausrottung, Ressourcenverschwendung, Meeresverschmutzung …) haben wir mit dem mühsamen Atomausstieg in Deutschland Zerstörungsprozesse entschleunigt und einen kleinen, wichtigen Teilerfolg erzielt. Es lohnt, sich zu engagieren.

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Der Autor:

Axel Mayer, Mitwelt Stiftung Oberrhein (Der Autor ist seit den Wyhl Protesten in der Umweltbewegung aktiv und war 30 Jahre lang BUND-Geschäftsführer in Freiburg)

 

 

 

 

 

Der Beitrag erschien auf http://www.scharf-links.de/cco.
Bild: wdr.de