Prekariat im Streik
Wenn Beschäftigte sich zusammentun und auf kollektive Weise die Arbeit niederlegen, ohne dass zuvor eine Tarifgewerkschaft dazu aufgerufen hat, wird dies in Deutschland umgangssprachlich auch als »wilder Streik« bezeichnet. Die »wilden Streiks« sind in der Bundesrepublik rechtswidrig, aber beispielsweise in der Baubranche nichts Ungewöhnliches. Dort kommt es immer wieder zu Arbeitsniederlegungen aufgrund der ausstehenden Zahlung von Löhnen, vor allem von migrantischen Arbeitskräften aus Südosteuropa. Beschäftigte, die sich an dieser Form, die Arbeit niederzulegen, beteiligen, müssen mit existentiellen Folgen bis hin zu fristlosen (sprich außerordentlichen) Kündigungen rechnen.
Pitt von Bebenburg kommentiert den Streik der Lkw-Fahrer in der Ausgabe der Frankfurter Rundschau vom 17. April 2023 so: »Die Lkw-Fahrer haben es geschafft, ein Schlaglicht auf eine Branche zu richten, in der Ausbeutung an der Tagesordnung ist. Aber die Logistikbranche ist keineswegs die einzige. (…) Ähnlich prekäre Arbeitsverhältnisse sind bei der Paketzustellung zu beklagen. Bei Fahrradboten, die unter schwierigsten Bedingungen Waren ausfahren. Auf dem Bau, wo immer wieder Fälle bekanntwerden, in denen Löhne vorenthalten werden. In der Saisonarbeit, wo es üblich ist, den Beschäftigten Geld – oft viel zuviel – für ihre Unterbringung vom Lohn abzuziehen. Ähnlich in der Fleischindustrie, wie der Fall Tönnies während der Coronapandemie gezeigt hat. Oder in der Pflege in privaten Haushalten. In all diesen Bereichen sind auch Unternehmen unterwegs, die gute Arbeit fair entlohnen und vernünftige Arbeitsbedingungen bieten. Doch sie müssen sich der unfairen Konkurrenz erwehren.«
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es vor allem die prekären Branchen sind, in denen die Politik und vor allem die DGB-Gewerkschaften aktiv werden müssten. Der erfolgreiche Lkw-Streik hat zwar auf die ausbeuterischen Bedingungen in der Logistikbranche hingewiesen. Gleichzeitig lässt sich aber konstatieren, dass diese Bedingungen sowohl den Gewerkschaften als auch der Politik nicht erst seit gestern bekannt sind. Und sie betreffen nicht nur ausländische Fahrerinnen und Fahrer, sie finden sich auch bei deutschen Unternehmen. Das wirft die Frage auf, warum es dem DGB und Verdi als zuständiger Gewerkschaft nicht früher gelungen ist, in der Logistik- und Speditionsbranche bis hin zur letzten Meile gegen die ausbeuterischen Verhältnisse vorzugehen. Spätestens mit dem sogenannten Lieferkettengesetz hätten sie hierfür auch einen rechtlichen Hebel in der Hand.
Statt dessen agieren die Gewerkschaften aber nicht stringent und konsequent. Es scheint, als habe der »wilde Streik« der Lkw-Fahrer sie gezwungen, sich zu verhalten. Die Solidarität und Unterstützung schien in diesem Fall leicht, immerhin ging es nicht um Beschäftigte in Deutschland und in Deutschland operierende Unternehmen.
Rider-Streik bei Gorillas
Exemplarisch zu beobachten ist das uneinheitliche Vorgehen von DGB und Verdi bei dem prominenten »wilden Streik« bei Gorillas. Einschränkend muss allerdings auch gesagt werden, dass es praktische Unterstützungsangebote durch Verdi gab, sowohl bei der Gründung eines Betriebsrats, als auch der Qualifizierung der Betriebsräte und auch für eine perspektivische Tarifbindung. Viele der Forderungen der Gorillas-Beschäftigten hätten von einem Betriebsrat umgesetzt und in einem Tarifvertrag geregelt werden können. Die Lkw-Fahrer hatten diese Möglichkeiten nicht, allerdings ändert es nichts an am Sachverhalt: Beide Male gingen Beschäftigte in den »wilden Streik, doch der DGB und Verdi verhielten sich jeweils unterschiedlich.
Während der DGB den »wilden Streik« der Lkw-Fahrer richtigerweise unterstützte und das Ergebnis feiert, hielten sich der Dachverband und Verdi bei dem »wilden Streik« der Rider bedeckt. Eine klare Positionierung gibt es seitens des DGB und der Verdi-Vorstände nicht. Auch nicht zu den fristlosen Kündigungen der an den Streiks beteiligten Beschäftigten und dem Urteil des Landesarbeitsgerichts Berlin-Brandenburg zur Rechtmäßigkeit dieser Kündigungen.
Am 25. April 2023 befasste sich das Landesarbeitsgericht mit Entlassungen. Im Oktober 2021 hatte Gorillas den Klägerinnen und Klägern aus der Türkei, Mexiko und Indien gekündigt. Gorillas, mittlerweile vom Konkurrenten Getir übernommen, kündigte damals rund 350 Beschäftigten wegen der Teilnahme an spontanen Arbeitsniederlegungen.
Weil zu diesen »wilden Streiks« nicht von einer Tarifgewerkschaft aufgerufen worden war, gelten diese »verbandsfreien Streiks« als illegal. Bereits im April 2022 hat das Berliner Arbeitsgericht sich gegen »wilde Streiks« ausgesprochen. So heißt es in einer Pressemitteilung: »Die Kurierfahrerinnen und -fahrer sind der Auffassung, dass auch die Teilnahme an einem verbandsfreien Streik eine zulässige Rechtsausübung darstelle, und berufen sich unter anderem auf die Koalitionsfreiheit aus Artikel 9 Absatz 3 Grundgesetz (GG). Die Koalitionsfreiheit schütze auch Arbeitskampfmaßnahmen, die nicht den Abschluss eines Tarifvertrages zum Ziel hätten und deshalb auch nicht gewerkschaftlich organisiert sein müssten. Das Gericht erachtete zwei der außerordentlichen Kündigungen für wirksam. Zur Begründung hat das Gericht ausgeführt, dass die Teilnahme an einem Streik nur dann rechtmäßig sei, wenn dieser von einer Gewerkschaft getragen werde.«
Auch das Landesarbeitsgericht erklärte die Kündigungen im April 2023 für wirksam. Zugleich schloss es eine Berufung gegen dieses Urteil aus. Den betroffenen Beschäftigten bleibt nur, Beschwerde gegen die abgelehnte Revision einzulegen, damit dann gegebenenfalls der Weg zum Bundesarbeitsgericht eröffnet wird. Mit dem Urteil zementierten die Berliner Richter, dass »wilde Streiks« vom deutschen Arbeits- und Streikrecht weiterhin nicht gedeckt sind.
In Deutschland verboten
Benedikt Hopmann, Rechtsanwalt der drei klagenden Gorillas-Beschäftigten, vertritt eine ganz andere rechtliche Auflassung. In seinem in dieser Zeitung am 3. August 2021 erschienenen Artikel »›Wilder‹ Streik: In Europa erlaubt, in Deutschland verboten?« stellt Hopmann fest: »Das Grundgesetz spricht nicht von Gewerkschaften, sondern allgemeiner von ›Vereinigungen‹. Das Bundesverfassungsgericht verwendet in seinen Entscheidungen ebenfalls nicht den Begriff Gewerkschaften, sondern den Begriff Koalitionen. Der Wortlaut ›Vereinigungen‹ lässt sehr wohl zu, darunter auch Zusammenschlüsse zu fassen, die nur zum Zweck eines Streiks gebildet werden, um bestimmten Forderungen Nachdruck zu verleihen. Das ist, was die Beschäftigten des Lieferdienstes Gorillas gemacht haben. Solche Zusammenschlüsse werden auch Ad-hoc-Koalitionen genannt. Diese Streiks werden manchmal ›wilde‹ Streiks genannt. Wir wollen sie verbandsfreie Streiks nennen und damit andeuten, dass die Gewerkschaft nicht dazu aufruft und sie auch nicht nachträglich übernimmt. (…) Eine wichtige Unterstützung für die Forderung nach einem erweiterten Streikrecht finden wir im Völkerrecht. Das sind vor allem die Bestimmungen der International Labour Organisation (ILO) und der Europäischen Sozialcharta.« Daraus ließe sich die Möglichkeit ableiten, den Fall vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu verhandeln.
Nach dem Urteil des Landesarbeitsgerichts zu den »wilden Streiks« bei Gorillas vom 25. April 2023 war vom DGB keine Stellungnahme zu lesen oder zu hören. Beim Streik der georgischen und usbekischen Lkw-Fahrer war dies anders. Der DGB hat sich unmittelbar nach Beginn des berechtigten Arbeitskampfes positioniert und die Kollegen unterstützt. Dabei ist der Streik der Lkw-Fahrer sogar mehr als ein »wilder Streik«, denn die Lkw-Fahrer haben auch die Fahrzeuge des polnischen Unternehmens besetzt bzw. als »Geisel« genommen. Dies ist gleichbedeutend mit einer widerrechtlichen Aneignung von Betriebsmitteln.
Die Frage lautet daher, warum der DGB zu den Gorillas-Streiks schweigt, während man sich bei den Lkw-Streiks so eindeutig positioniert. Ist der DGB sich etwa über die Reichweite des eigenen Handelns nicht im klaren?
Die Forderung nach politischem Streik ist Beschlusslage der Verdi-Bundeskongresse. Dort wurden dementsprechende Anträge beispielsweise 2011 mit dem Hinweis auf Weiterleitung an den Gewerkschaftsrat angenommen. Konkret heißt es in dem Antrag A 077: »Die Forderung nach dem politischen Streikrecht ist in die Grundsatzerklärung von Verdi aufzunehmen und mit allen zu Gebote stehenden Mitteln politisch durchzusetzen.« Acht Jahre später, auf dem Verdi-Bundeskongress 2019, beschlossen die Delegierten: »Verdi fordert die komplette Legalisierung des politischen Streiks und des Aufrufes zu diesem. (…) Außerdem soll ein weitgehender Schutz der Beteiligten vor Kündigung oder Schadensersatzansprüchen installiert werden. Dazu soll sich Verdi europaweit für ein Recht auf politischen Streik einsetzen. Zusätzlich soll der politische Streik als politisches Mittel ausdrücklich in die Verdi-Satzung aufgenommen werden (auch bei keiner vorherigen umfassenden Legalisierung durch den Staat).«
Doch zu den »wilden Streiks« bei Gorillas gab es seitens des Verdi-Bundesvorstandes bisher keine klare Haltung. Maren Ulbrich und Daniel Nikolovic, beide bei Verdi als politische Gewerkschaftssekretäre beschäftigt, verweisen in einem Artikel in der Gegenblende vom 14. Dezember 2021 auf die mangelnde rechtliche Sicherheit der Beschäftigten im sogenannten Quick-Commerce: »Den ›Big Playern‹ der Plattformökonomie stehen vielfach noch Gesetze, Behörden und Herangehensweisen gegenüber, die aus vordigitalen, national oder regional strukturierten Wirtschaftsformen stammen. Es fehlen klare Regelungen, die einen fairen und diskriminierungsfreien Zugang zu digitalen Infrastrukturleistungen sicherstellen. Vor allem aber muss gewerkschaftlich und arbeitsrechtlich gegen die durch die Plattformökonomie verschärfte Prekarisierung der Arbeitsbeziehungen vorgegangen werden. Wenn Beschäftigte dazu degradiert werden, ihre Arbeitskraft über Apps der verschiedenen Plattformen anbieten zu müssen, bleiben soziale Absicherung und Arbeitsschutzrichtlinien auf der Strecke. (…) Tatsache ist, dass das vor allem durch inzwischen über ein halbes Jahrhundert alte Gerichtsentscheidungen und weniger durch Gesetzestexte geformte Streikrecht in Deutschland veraltet und repressiv ist. Es steht im Widerspruch zu internationalen und von der Bundesrepublik ratifizierten Abkommen.«
Migranten als Motor
Sowohl der aktuelle Lkw-Streik als auch der Streik beim Onlinelieferdienst Gorillas wurde federführend von Migrantinnen und Migranten organisiert. Sicherlich liegt die Ursache auch darin, dass gerade diese Beschäftigten in der Wertschöpfungs- und Lieferkette am meisten und intensivsten ausgebeutet werden und zum Teil deutlich weniger (Arbeits-)rechte haben als die anderen Beschäftigten. Doch auch der kulturelle Hintergrund aus den Herkunftsländern spielt eine entscheidende Rolle. Während man in anderen Ländern bei Ungerechtigkeiten am Arbeitsplatz oftmals die Arbeit niederlegt und protestiert, ist in Deutschland einem Arbeitskampf ein langer Prozess bürokratischer Hürden vorgeschaltet.
Doch Streiks sind und bleiben eine »Machtfrage« im Sinne von: »Wer macht’s?« Damals wie heute waren es immer wieder Migrantinnen und Migranten, die die Grenzen des konservativ-rückständigen deutschen Arbeits- und Streikrechts überwanden: »Schon in den 1950er und 1960er Jahren machten Migrantinnen und Migranten deutlich, dass die vorgefundenen Arbeits- und Lebensbedingungen bei weitem nicht ihre Erwartungen erfüllten. Mit Protesten, frühzeitiger Abwanderung und spontanen Arbeitsniederlegungen versuchten sie eine bessere Bezahlung und Unterbringung durchzusetzen.«¹
In Heft 5/2021 des Magazins Mitbestimmung der Hans-Böckler-Stiftung wird ausgeführt: »Am Anfang waren die Migranten häufig auf sich allein gestellt. Sie setzten sich zur Wehr – mit ›wilden‹ Streiks. Zuerst im Kohlebergbau, dann 1962 im Wolfsburger VW-Werk, wo die italienischen Arbeiter streikten. Sie verlangten eine bessere Gesundheitsversorgung, blockierten Straßen und errichteten brennende Barrikaden. Der Arbeitskampf hatte weitreichende Folgen. Aus Furcht vor weiteren Unruhen gab der patriarchalisch über das Werk herrschende Generaldirektor Heinrich Nordhoff seine Blockadehaltung gegenüber der Gewerkschaft auf. Die IG Metall konnte fortan ungehindert Mitglieder werben – auch unter italienischen VW-Beschäftigten. Drei Jahre nach dem Streik war bereits die Hälfte der italienischen Arbeiter organisiert.«²
Angst ums Tarifmonopol
Ein möglicher Grund für die Unterstützung der Lkw-Fahrer durch den DGB und Verdi könnte darin liegen, dass die Lkw-Fahrer zeitlich befristet auf der Autobahnraststätte in Gräfenhausen protestierten und absehbar war, dass sie nach dem Ende des »wilden Streiks« Deutschland verlassen würden. Zudem verfügten die Lkw-Fahrer nicht über eine ausgebildete Organisationsstruktur. Die Beschäftigten bei Gorillas hatten sich hingegen frühzeitig in einer eigenen Organisation, dem »Gorillas Workers Collective«, zusammengetan und sich damit außerhalb von Tarifverbänden bzw. der Tarifgewerkschaft zusammengeschlossen. Diese »Formation« bringt den DGB und dessen Einzelgewerkschaften in die Situation, sich zu derartigen Zusammenschlüssen der Beschäftigten zu positionieren. Dies kann und muss auch soweit gehen, dass der DGB sich zu den »verbandsfreien Streiks« in der Öffentlichkeit verhält. Damit einhergehend muss auch die Frage beantwortet werden, inwieweit der DGB Angst davor hatte und hat, das »Tarifmonopol« zu verlieren.
Die Gewerkschaften müssen an der Seite der Beschäftigten stehen. Der DGB samt seiner Einzelgewerkschaften sollten genau hinschauen und Strategien entwickeln, wie sie gemeinsam mit den prekär Beschäftigten die Arbeitsbedingungen verbessern und diese in ihren Forderungen unterstützen können. In Anbetracht der geforderten Einschränkungen des Streikrechts dürfen sich die DGB-Gewerkschaften nicht hinter ihrem Tarifmonopol verstecken. Das Grundrecht der Beschäftigten, sich gegen Ungerechtigkeiten und Willkür der Kapitalisten zur Wehr zu setzen, auch durch spontane Arbeitskämpfe und auch ohne Verbandszugehörigkeit, sollte nicht tabuisiert werden. Im Gegenteil, dort wo Unrecht herrscht, ist Widerstand Pflicht.
Deswegen brauchen wir heute dringender denn je eine Debatte über ein erweitertes Streikrecht für die lohnabhängig Beschäftigen in Deutschland. Eines ist und bleibt aber klar: Am Ende zählt nur ein Tarifvertrag, also eine rechtssichere Regelung, die die Arbeitsbedingungen verbessert. Um den zu erkämpfen, müssten sich die Beschäftigten letztlich in einer Tarifgewerkschaft zusammenschließen. Deswegen ist die beste Selbstorganisation der Beschäftigten in Unternehmen wie Gorillas und Co. die in einer Gewerkschaft. Gleichzeitig müssen die Gewerkschaften die Forderungen der prekär und migrantischen Beschäftigten ernst nehmen und ihnen einen Raum in ihren Strukturen einräumen.
Als Gewerkschafter in Deutschland dürfen wir nicht länger zusehen, wie Gerichte weiterhin das fundamentale Recht der Beschäftigten auf Arbeitsniederlegungen und Streiks einschränken. Wir müssen uns offensiv gegen das veraltete und überholte Streikrecht stark machen. Wir dürfen nicht hinnehmen, dass Streiks mit Begrifflichkeiten wie »wilder Streik« illegalisiert werden. Dabei können wir auf unsere eigene Geschichte und auf Erfahrungen zurückgreifen und daraus lernen.
Anmerkungen:
1 Vgl. Simon Goeke: Wir sind alle Fremdarbeiter! Gewerkschaften, migrantische Kämpfe und die sozialen Bewegungen in Westdeutschland 1960–1980, Paderborn 2020
2 kurzelinks.de/Mitbestimmung-Magazin-052021
Dieser Artikel erschien zuerst in der Tageszeitung junge Welt und wird mit freundlicher Genehmigung des Autors hier gespiegelt. Bild: Anai Paz