Gewerkschaft und kommunale öffentliche Daseinsvorsorge

Der Begriff der kommunalen Daseinsvorsorge meint, dass die Gemeinde oder Stadt wirtschaftliche, soziale und kulturelle Dienstleistungen ursprünglich mittels eigener Einrichtungen für alle Einwohner bereitstellt. Sie ist dazu durch das Sozialstaatsprinzip gemäß Art. 20 I des Grundgesetzes verpflichtet. Kommunale Daseinsvorsorge fasst entsprechend alle Aufgaben und Leistungen zusammen, die Stadt oder Gemeinde erbringt, um ihren Einwohnern die Grundversorgung zu gewährleisten.

Die Auswüchse des Neoliberalismus seit rund 50 Jahren mit dem Credo des Sparens und Maßhaltens und dem Einsetzen der Privatisierungswelle haben kaputt gesparte Stadt- und Gemeindeeinrichtungen zur Folge. Ganze Abteilungen und Betriebe sind aufgrund von eingesparten Stellen nicht mehr arbeitsfähig, die Menschen können ihre rechtlich zugesicherten Dienstleistungen nicht mehr in Anspruch nehmen und rutschen zunehmend in Armut und unsichere Lebenssituation ab.

Bis heute hat die zuständige Dienstleistungsgewerkschaft keine wirkliche Gegenwehr organisiert. Spricht man die Personal- und Betriebsräte in den Einrichtungen der Daseinsvorsorge darauf an, wird von ihnen als Mitverantwortliche vor Ort nur auf die drückenden Sachzwänge, wie die klammen öffentlichen Haushalte, die keine kreative Politik erlauben, Vorgaben der EU und neue Steuerungsmodelle in der Verwaltung hingewiesen. Auch seien moderate Lohnabschlüsse erforderlich gewesen, um die in öffentlicher Hand verbliebenen Bereiche abzusichern.

Aufgabe der Gewerkschaften wäre es aber, breite Kampagnen für massive Investitionen in das Gesundheitswesen, die Bildung, Soziales und einen Umstieg auf öffentlichen Verkehr zu führen und der Profitlogik in all diesen Bereichen inklusive der Zusammenarbeit mit Investoren ein Ende zu bereiten.

Die vorgeblich  „gute Dekade“ von 1969 bis 1979 im „Rheinischen Kapitalismus“

Viele Menschen, die die Jahre von 1969 bis 1979 bewusst erlebten, konnten getrost von einer guten Lebensperspektive auf Grundlage einer stabilen Daseinsvorsorge ausgehen. Ohne die damalige Zeit und den „Rheinischen Kapitalismus“ zu verklären, es gab damals schon  genügend systembedingte Missstände, war es für die Menschen prägend, dass z.B.

  • auch in den hintersten Winkeln der Republik die Fenster geöffnet wurden, damit der Muff sich aus den Wohnungen und öffentlichen Gebäuden verziehen konnte,
  • der Gang durch die Institutionen auch die Einrichtungen der Daseinsvorsorge erreichte, die es erlaubten, in Modellprojekten neue Arbeits- und Lebensformen auszuprobieren,
  • der Rahmen für den einzelnen Menschen verbreiteter wurde, um sich individuell zu entwickeln und selbstsicherer zu werden,
  • es möglich war, neue, lebenswerte und auf Dauer angelegte Institutionen zu gründen, die sich an den vitalen Lebensbedürfnissen und der konkreten Lebenssituation z.B. der jungen Menschen orientierten,
  • das Gefühl vermittelt wurde, jeder Mensch sei wertvoll für die Gesellschaft und keiner dürfe verloren gehen, auch wenn er mal die Spielregeln nicht einhält,
  • nach der Schule, Ausbildung oder Studium sicher von einer Beschäftigung bis zur Rente im gleichen Betrieb ausgegangen werden konnte,
  • mit einer soliden Berufsausbildung und mehreren Jahren Berufserfahrung ein Lebensstandard erreicht werden konnte, der den Zugang zu den meisten Annehmlichkeiten der damaligen Konsumgesellschaft eröffnete und das eigene Auto über Waschmaschine und Fernseher bis zur Urlaubsreise realisierbar wurden,
  • der berufliche Aufstieg in den fünfziger bis Ende der sechziger Jahre eine millionenfache Lebenserwartung wurde, die ohne weiteres eingelöst werden konnte,
  • jeder in irgendeiner Form vom Wirtschaftswachstum profitierte, wenn auch einige mehr und andere weniger,
  • auf der politischen Grundlage der Frauen-, Umwelt- und Friedensbewegung sich neue Muster der Lebensführung, der Wohn- und Arbeitsformen, der Erziehungsmethoden und Fragen der Geschlechterverhältnisse, Familienmodelle, Körpersprache, Kleidungsstil, Konsummuster, Erkenntnis und Bewusstseinsmodelle, Öffentlichkeitsvorstellungen und der Gebrauch von eigenen Ritualen und Symbolen bilden konnten, also Möglichkeiten sich auszuprobieren, ohne völlig ausgegrenzt zu werden,
  • es möglich wurde, mit der „Selbstorganisation“ die eigenen Angelegenheiten gemeinsam und gleichberechtigt mit anderen Leuten selbst zu regeln. Voraussetzung war die Vorstellung eines menschlichen Individuums, das aktiv und am Tagesgeschehen interessiert, die Gesellschaft selbst gestalten will. Selbstorganisation zeigte sich in vielfältigen Formen z.B. in selbst verwalteten Betrieben, Projekten, Lebensmittelkooperativen, Kommunen, Genossenschaften, Kollektiven, Frauenprojekten, selbst verwalteten Presse- und Informationsnetzen mit Stadt- und Tageszeitungen, sozialen Aktionsgruppen und ehrenamtlichem Engagement in ökologisch und sozial orientierten Bürgerinitiativen.
  • ein völlig neues Gefühl sozialer Sicherheit als etwas Normales entstanden war: die Normalbiografie machte das Leben planbar, das Normalarbeitsverhältnis garantierte kontinuierlich steigende Löhne und oft auch eine berechenbare Karriere, die Normalzeitstruktur, bei der z.B. von Samstagmittag bis zum Montagmorgen weitgehend alles ruhte, eine Normalfamilie mit der zumindest in Zeiten der Kindererziehung nicht berufstätigen Frau konnten sich erstmals auch Arbeiter und einfache Angestellte leisten. In diese Normalität konnten z B. „Aussteiger“ und „Deliquenten“ jeder Zeit zurückkehren,
  • es geregelte Arbeitszeiten, einen festen Rahmen für Betrieb, Haus und Familie gab,
  • man sein eigenes Leben planen konnte, das möglichst bis zur Rente durch kaum etwas aus der Bahn geworfen werden konnte,
  • es elementare Lebensbedingungen gab, für das, was viele abhängig Beschäftigte unter einem guten Leben verstanden

und man lebte in der Erwartung, dass es den Kindern dereinst noch besser gehen würde als einem selbst.

Die Voraussetzung für diese Entwicklung war, dass der Staat dem Gewinnstreben klare Regeln und Beschränkungen auferlegt hatte. Es wurde mit hohen Körperschaftssteuer- und Spitzensteuersätzen aktiv in die Einkommensverteilung eingegriffen. Durch ein Netz sozialer Leistungen wurde Sicherheit gewährleistet. Weil viele lebenswichtige Bereiche von Bildung und Wohnung über die Strom- und Wasserversorgung bis zu Krankenhäusern und Kommunikationsdiensten noch weitgehend aus der Logik von Profit und Kommerz herausgelöst waren und in öffentlicher Regie anboten wurden.

Die Gewerkschaften waren noch gestaltende Kraft und Teil der sozialen Sicherheit.

Es sei an den Februar 1974 erinnert, als die damalige mächtige Dienstleistungsgewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr, die Vorläuferorganisation von ver.di, gewerkschaftliche Gegenmacht aufbaute und 200.000 Beschäftigte an den Schaltstellen der Daseinsvorsorge streikten. Die Bundesregierung als Beschäftigungsträger der Gewerkschaftsmitglieder musste schließlich einknicken und eine Lohnerhöhung von 11 Prozent, mindestens 170 D-Mark, für den gesamten Öffentlichen Dienst fällig stellen. Dabei wurde ganz klar, auch die Wichtigkeit der Arbeit, die die Leute in der Daseinsvorsorge leisten, aufgezeigt.

Eine solche Epoche brennt sich natürlich in die Seele der beteiligten Menschen ein und sie möchten die einmal erlebten, besseren Zeiten zurückhaben. Sie fragen sich in den derzeitigen Krisen: Weshalb geht heute nicht mehr, was doch gestern noch möglich war? Gegenüber den nachfolgenden Generationen, haben sie den Vorteil, ein alternatives Leben zu dem derzeitigen Leben verinnerlicht zu haben. So eine Alternative fehlt den jüngeren Menschen, die Erinnerung an bessere Zeiten ist nicht vorhanden, so auch die Motivation diese Zeit zurück zu fordern.

… und was davon übrig blieb

Die Leitlinien der neoliberalen Politik entwickelten sich schnell zu einem explosiven Gemisch: Privatisierung und Deregulierung gepaart mit neoliberaler Staatsphobie und einseitiger Exportorientierung der Industrie erforderten den Ausbau des Niedriglohnsektors und das Zulassen der Massenverarmung.

Heute scheinen die Verantwortlichen die gravierenden Mängel in der kommunalen Daseinsvorsorge mit der Personalknappheit und mangelhaften Dienstleistungen den Eindruck erwecken zu wollen, es handele sich bei dem akuten Personalproblemen um eine Art Naturphänomen, das völlig unerwartet über die deutsche Gesellschaft hereingebrochen sei.

Doch dem ist nicht so. Eher kommen hier die Folgen der Privatisierungen zum Vorschein, das sind steigende Preise und Qualitätsmängel, Verschlechterung der Arbeitsbedingungen der Beschäftigten und hohe Transaktionskosten. Dazu fehlt es an öffentlicher Steuerung durch die Politik, die aber gleichzeitig dafür gesorgt hat, dass der Staat die schlecht bezahlten Beschäftigten dieser Privatfirmen mit Transferleistungen unterstützt und den Unternehmen somit den Profit vergrößert.

Diese Entwicklung hat sich nach der deutschen „Wiedervereinigung“ unglaublich schnell verschärft, als beinhart auf Privatisierung und Deregulierung gesetzt wurde, die mit der Privat-vor-Staat-Philosophie gepaart war. Parallel dazu wurde der Ausbau des Niedriglohnsektors vorangetrieben, insbesondere bei den sozialen, gesundheits-, bildungs- und haushaltsbezogenen Dienstleistungen. Seit Jahren herrscht chronischer Personalmangel in Krankenhäusern, in der Pflege, Schulen, Kitas und Verwaltungen u.v.m.

Die frühere Sicherheit ist Vergangenheit, es dominieren Zukunftsängste und viele Menschen befürchten, dass es ihren Kindern einmal schlechter gehen wird als ihnen selbst. Viele Großeltern müssen aushelfen, damit ihre Enkel nicht in die Armut abrutschen. Es sind Hürden errichtet worden, die Kindern ärmerer Familien den Zugang zu Bildung, Aufstieg und Wohlstand bewusst versperren.

Anstelle des Gefühls der Sicherheit ist die permanente Verlustangst getreten, die untergründige latente Angst, die das Wirtschaftssystem alltäglich produziert: die Angst, den Arbeitsplatz zu verlieren, Angst vor der Willkür der Vorgesetzten und vor Mobbing im Betrieb, Angst vor dem Verlust der vermeintlichen Sicherheit wie des Ersparten, der Altersvorsorge und der Wohnung und Angst, dass Freundschaften zerbrechen und der Einzelne isoliert leben muss und viele Ängste warten im Unbewussten auf ihren Ausbruch. Auf Dauer kann das Individuum solche Ängste nicht mehr aushalten, aus der einzelnen Angst wird die generalisierte Angst, die meistens in Panik mündet. Panik schaltet das Denken aus und wie die Coronazeit zeigte, wird dann reflexartig den „Anweisungen von Oben“ gefolgt.

Dienstleistungssektor als Fortschrittsmotor

In der „guten Dekade“ wurde der Dienstleistungssektor als großer Hoffnungsträger für eine positive Beschäftigungsentwicklung und die Zunahme der Qualität von Erwerbsarbeit angesehen. Bei diesen positiven Prognosen ging man davon aus, dass wirtschafts- und gesellschaftspolitische Entscheidungen den dynamischen Erfordernissen einer binnenmarktbezogenen und bedarfsorientierten Dienstleistungsentwicklung, genannt Tertiärisierung, entsprechen würden.

Kaum jemand konnte sich vorstellen, dass die Bundesrepublik noch bis heute in ihrem eingemauerten Industriekomplex verharrt, man stur die Verwobenheit einzelner Sektoren der Volkswirtschaft leugnet, bei gleichzeitiger Überhöhung der Industrie, die schon längst aus der Zeit gefallen ist und uns die derzeitige Krise im Dienstleistungssektor erst beschert hat.

Eine Wende in diesem Bereich erfordert eine Politik, die wirtschafts- und finanzpolitische Maßnahmen einbringt, die auf eine Ausweitung der Beschäftigung im öffentlichen Sektor bei gleichzeitiger Steigerung der Qualität von öffentlichen, aber auch privat erbrachten Dienstleistungen abzielt. An erster Stelle muss eine Rekommunalisierung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Dienstleistungen stehen.

Behoben werden kann der Mangel nur, wenn vorhandene oder zu schaffende finanzielle Mittel zum Ausbau der Infrastruktur mit einem umfangreichen Investitionsprogramm für den Ausbau eines modernen Sozialstaats eingesetzt werden.

Doch das meinte Bundeskanzler Scholz wohl nicht, als er in seiner Haushaltsrede Anfang September 2023 den „Deutschlandpakt“ vorstellte.

Zeitenwende – Deutschlandpakt – Sozialpartnerschaft: auch die Dienstleistungsgewerkschaft wird eingehegt

Das Vorhaben der Ampelkoalition, Anfang des Jahres 2022 die gigantische Aufrüstung sogar im Grundgesetz zu verankern, ist mit dem neuen Burgfrieden ohne Probleme realisiert worden.

Mit dem Deutschlandpakt hatte Olaf Scholz erneut die Forderung erhoben, dass Gewerkschaften gemeinsam mit Unternehmen und Regierung an der Modernisierung Deutschlands arbeiten sollen.

Worauf er abzielt, konnte man bereits im letzten Jahr bei der Konzertierten Aktion sehen. Für die Regierung war es wichtig, bei der gigantischen Aufrüstung die DGB-Gewerkschaften mit ins Boot zu holen. Auch deshalb hatte Bundeskanzler Scholz bei einer immens angestiegenen offiziellen Inflationsrate von 10 Prozent im Sommer 2022  die „Sozialpartner zu einer konzertierten Aktion“ eingeladen, bei der man auf die hohen Preise reagieren wollte und um gleichzeitig die Gewerkschaften davon abzuhalten, dass sie ihre Forderung in Höhe der Inflationsrate stellen. Dabei haben sie das Märchen von der „Lohn-Preis-Spirale“ aus der Mottenkiste geholt und sich untereinander erzählt. Als das Märchen zu Ende erzählt war, hatte man dann auch die Sonderzahlung als Wunderwaffe in Tarifkonflikten auf dem Tisch. Mit den nicht tabellenwirksamen Sonderzahlungen war auch gleichzeitig eine permanente Lohnabsenkung vereinbart. Dieses Vorgehen ist von langer Hand vorbereitet und geschickt verpackt worden.

Die hier praktizierte Sozialpartnerschaft hat ganz konkret zur Folge, dass immer mehr Menschen in die prekäre Beschäftigung abrutschen und sich dabei von ihrer Gewerkschaft verraten und verkauft fühlen. Eine solche Entwicklung der Gewerkschaften wurde erst ermöglicht, als sie im Rahmen der Sozialpartnerschaft über jedes Stöckchen sprangen, egal wie hoch es hingehalten wurde.

Die Gewerkschaften helfen der Politik dabei, dass die Bevölkerung, vielfach mit coronagestähltem autoritärem Charakter versehen, möglichst kritiklos „unpopuläre“ Maßnahmen mitmacht und immer mehr bereit ist, „neue Realitäten und radikale Kurswechsel“ hinzunehmen.

Es ist an der Zeit, dass sich immer mehr Menschen fragen: Weshalb geht heute nicht mehr, was doch gestern noch möglich war. Sie haben einmal schönere Zeiten bewusst erlebt und möchten diese Zeit zurückhaben.

Die Vorstellung von besseren einstigen Zeiten stand auch bei den großen geschichtlichen Umwälzungen regelmäßig Pate und nur mithilfe der Kraft der Erinnerung konnte Neues geschaffen werden.

 

 

 

 

 

 

Quellen: Andreas Wehr, Bertolt Brecht-Flüchtlingsgespräche, Konzept Neue Steuerung, Richtlinien der EU-Kommission, ver.di

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