«Wir lassen uns als Ossis nicht mehr alles gefallen», sagte kürzlich ein Streikender eines Tabakherstellers in Brandenburg. Die Beschäftigten bei German Tobacco am Standort Kloster Lehnin, etwa eine Stunde von Berlin entfernt, produzieren Tabak für den Weltmarkt. Sie wollen bestehende Lohnunterschiede zum Stammhaus in Lübeck (von Eiken Gruppe) von mehreren hundert Euro im Monatslohn abbauen.
Der Ausspruch steht stellvertretend für die Stimmungslage vieler ostdeutscher Beschäftigten. Die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) hat diese Stimmung im Landesbezirk Ost aufgenommen und 2019/2020 die Kampagne «Lohnmauern einreißen» gestartet. Selbstbewusst werden in vielen Betrieben Forderungen formuliert und dafür eine gewerkschaftliche Offensive gestartet. In vielen Betrieben entdecken die Beschäftigten ihre Gewerkschaft neu oder wieder. Auch wir als Gewerkschaft NGG haben im Osten dabei sehr viel gelernt: Vor allem, wie viel mehr möglich ist, wenn wir mutiger handeln und den Kolleg*innen mehr zutrauen.
Streikland Ost
In mehreren dutzenden Betrieben der ostdeutschen Lebensmittelindustrie haben in den zurückliegenden Jahren mehr als zweihundert Streiks stattgefunden – kurze Warnstreiks oder auch wochenlange Arbeitsniederlegungen. Das bekannteste Beispiel ist sicherlich der Teigwarenhersteller und ostdeutsche Markenführer Riesa NUDELN mit einem 7-wöchigen Streik 2022. Der Streik reihte sich ein in zahlreiche betriebliche Kämpfe und Streiks, in denen erstmals auch namhafte Hersteller wie Bautzner Senf oder die Sektkellerei Rotkäppchen in Freyburg dabei waren. Die Beschäftigten des Getränkeherstellers MEG (Teil der Schwarz-Gruppe), die das bekannte Lidl-Mineralwasser «Saskia» produzieren und abfüllen, streikten im letzten Jahr über 400 Stunden erfolgreich für einen neuen Manteltarifvertrag mit kürzerer Arbeitszeit, 100 Prozent Jahressonderzahlung, höhere Zuschläge und vieles mehr. Schon 2020, am 17. Juni, dem Jahrestag des Arbeiteraufstandes 1953 in der DDR, fand eine gemeinsame Streikkundgebung in Sachsen statt, die für viele Beschäftigte aus verschiedenen Betriebe der Ernährungsindustrie sehr prägend war.
Es sind aber nicht nur einzelne Betriebskämpfe. 2023 fand in der Milchindustrie Ost eine flächendeckende Streikwelle statt, an der sich bis auf eine Ausnahme alle Betriebe des Tarifgebietes beteiligten. Inzwischen gibt es keine Lohnlücke Ost mehr und auch bei der Arbeitszeit, den Jahressonderzahlungen und Zuschlägen wurde eine Angleichung an das Niveau der westdeutschen Tarifgebiete durchgesetzt. Auch das Tarifgebiet der Süßwarenindustrie erlebte in den letzten Jahren eindrucksvolle Streiks oder Straßenaktionen.
Dieses Bild bestätigen die Arbeitskampfbilanzen des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung. Der Report für 2023 zeigt, dass im Osten häufiger gestreikt wird als im Westen und bei der Gewerkschaft NGG gemessen an ihrer Mitgliederzahl überproportional mehr.
Die Lohnmauer bröckelt …
Oft gelang es, zum Teil beträchtliche Lohnsteigerungen durchzusetzen. Beim größten Backwarenstandort Deutschlands der Großbäckerei Aryzta in Eisleben/Sachsen-Anhalt mit 1.200 Beschäftigten (und 160 in Nordhausen/Thüringen) gelang letztes Jahr ein bahnbrechender Einjahr-Tarifabschluss: Die Löhne wurden durchschnittlich um 22 Prozent (nach Unternehmensangaben) erhöht, einzelne Beschäftigtengruppen erhalten in Verbund mit einer neuen Eingruppierung 600 bis 800 Euro mehr Lohn. Abschlüsse in solcher Höhe weisen auf das zuvor geringe Lohnniveau hin. Denn jenseits der Flächentarifverträge, die fast überall gleiche Standards beim Entgelt und zunehmend auch bei der Arbeitszeit setzen, gab es in vielen Betrieben ohne, oder mit schwachen Haustarifverträgen bisher nur Löhne knapp über dem Mindestlohn. Dabei gelingen innerhalb weniger Jahre Lohnsprünge, die davor undenkbar waren. Jüngstes Beispiel ist der Tarifabschluss mit dem Fruchtsafthersteller und der Edeka-Tochter Sonnländer: In weniger als vier Jahren steigt der Lohn als Festbetrag für alle um 1.149 Euro, für Fachkräfte ist das ein Lohnplus von über 50 Prozent, von 2.225 Euro im Grundlohn Dezember 2022 auf 3.374 Euro im Oktober 2026.
„Die Gründung eines Betriebsrates und gleichzeitige gewerkschaftliche Organisierung sind oft der entscheidende Schritt.“
Nicht immer sind solche Tariferfolge mit Streiks verbunden. Die Gründung eines Betriebsrates und gleichzeitige gewerkschaftliche Organisierung sind oft der entscheidende Schritt. Der gute Ruf, den sich die NGG im Osten bei einigen Unternehmen und Arbeitgeberverbänden erarbeitet hat, und der Druck durch den angespannten Fachkräftemarkt haben zu dieser erfolgreichen Entwicklung beigetragen. Und die konsequente Haltung der Gewerkschaft! Die Beschlusslage lautet: Wir schließen nur noch «armutsfeste Tarifverträge» ab und nicht mehr Tarifverträge um jeden Preis. Auch die selbstbewusste Haltung «Wir sind mehr wert als Mindestlohn!» treibt viele Beschäftigte an und kam auf zahlreichen Plakaten beim größten ostdeutschen Kita- und Schul-Caterer VielfaltMenü zum Ausdruck, wo die Beschäftigten 2023 an mehreren Standorten streikten.
Die Lohnmauer bröckelt, aber sie fällt noch nicht – vor allem nicht flächendeckend, weil diese Entwicklung noch auf eine Minderheit von Betrieben beschränkt ist. Hoffnungen, dass erfolgreiche Lohnkämpfe in einem Betrieb in einer Region eine breite Welle in weiteren Betrieben anstößt, haben sich nicht erfüllt. Es muss weiter Betrieb für Betrieb erkämpft werden. Aber dort wo dies geschieht, werden die Gewerkschaften von den Beschäftigten als verändernde und gestaltungsfähige Kraft wahrgenommen – was angesichts der Nachwendegeschichte, nach Deindustrialisierung und jahrlanger Ohnmachtserfahrungen davor oftmals nicht der Fall war.
Mehr Beteiligung und Selbstaktivität
«Wer ist die Gewerkschaft? Wir sind die Gewerkschaft!», diesen Spruch riefen die Beschäftigten von Teigwaren Riesa selbstbewusst in ihren ersten Streiktagen. Im DMK-Milchwerk Erfurt wurde ein Sticker/Aufkleber geboren: «Auch DU bist für deinen Tarifvertrag zuständig!»
Dafür muss die Gewerkschaft aber auch den Raum bieten, solche Slogans mit Leben zu füllen. Indem sie bestehende Arbeitsweisen in Frage stellt. Indem sie mit größeren Tarifkommissionen Beschäftigten aus möglichst allen Bereichen des Unternehmens eine Stimme und aktive Mitstreiter*innen gibt. Indem sie Aktionen anbietet, an denen sich die Beschäftigten beteiligen, mit denen sie Botschaften senden können und die Gradmesser für die gewerkschaftliche Verankerung sind. Beispiele sind Unterschriftenlisten, Petitionen und Plakataktionen.
„Die Wirkungsmächtigkeit von Streikversammlungen kann nicht überschätzt werden.“
Streiks sind selbsterklärend das zentrale ökonomische Druckmittel. Aber sie sind mehr als das: Sie geben Kraft, zeigen, dass unsere Seite den Spieß umdrehen kann und machen unsere kollektive Stärke erfahrbar. Etwas, was sonst im Alltag oft fehlt. Streikversammlungen können, wenn sie dafür genutzt werden, Raum geben für Beteiligung, für Diskussionen und Entscheidungsfindungen.
Die Wirkungsmächtigkeit von Streikversammlungen, auf denen gemeinsam über Streikziele und mögliche Verhandlungsergebnisse entscheiden wird, kann nicht überschätzt werden. Als beim Suppenhersteller Knorr in Auerbach/Vogtland zum ersten Mal seit langem wieder gestreikt wurde, kam die Tarifkommission aus dem Verhandlungsraum im Betrieb zu den Streikenden auf den Parkplatz. Die Streikenden stimmten über die Angebote des Unternehmens ab und gaben der Tarifkommission einen Handlungsauftrag.
„Ostdeutsche Klassenidentität als Mobilisierungsfaktor“
Die «Lohnmauer einreißen»-Kampagne lebt sehr stark davon, das Selbstverständnis und die Unzufriedenheit vieler ostdeutscher Beschäftigten aufzunehmen. Die Nachwendeerfahrung und bis heute anhaltende strukturelle Benachteiligung spiegelt sich in einem eigenen «Ostbewusstsein», einer Ostidentität. Plakatslogans bringen das eindrucksvoll zum Ausdruck: «Gleicher Lohn für gleiche Arbeit», «Wir sind keine Beschäftigte zweiter Klasse» Als in der Brauindustrie Sachsen/Thüringen 2021 die Tarifrunde zur Lohnangleichung lief, hinterließen die Beschäftigten auf Tapeten zahlreiche Meinungen und Forderungen. Ein schönes Beispiel: «Deutsches Reinheitsgebot 1516. Deutsches Einheitsgebot …?» oder besonders markant: «In meinem zweiten Leben möchte ich Wessi sein.»
„Die Grenze verläuft nicht zwischen Ost und West, sondern zwischen oben und unten.“
Eine Gewerkschaft, die dieses Gefühl nicht transportiert und in ihren Aktionen zum Ausdruck bringt, geht am «Herzen» vieler Beschäftigter vorbei. Der Bezug auf die Ostidentität wird manchmal skeptisch oder gar als reaktionär betrachtet. Das ist aber nur dann der Fall, wenn sie rückwärtsgewandt oder selbstbezogen verwendet wird. Wir können und müssen die Bezeichnung nach vorne gerichtet als Selbstermächtigung verstehen.
«Hüte dich vor Sturm und Wind, und vor Ossis, die in Rage sind», solche Plakate sehen wir öfters auf Streiks. Daran lässt sich positiv anknüpfen: Wir nehmen unser Schicksal selbst in die Hand, um das zu erkämpfen, was die Kolleg*innen in Westdeutschland schon erkämpft haben. Es hilft kein Meckern und Jammern, «kein Kaiser noch Tribun» (Die Internationale), das müssen wir schon selber tun.
Besonders starke Momente sind Solidaritätsadressen und Besuche aus den westdeutschen Werken. Sie machen deutlich: die Grenze verläuft nicht zwischen Ost und West, sondern zwischen oben und unten. Nicht selten hilft die bundesweite Branchenvernetzung der NGG, wichtige Impulse für Betriebsräte und Gewerkschafter*innen im Osten zu geben. So soll es sein.
Migrantische Arbeiterklasse Ost
Zur neuen Klassenidentität gehört aber auch die neue Migrationsgeschichte Ost. Zunächst mit der EU-Osterweiterung dann mit den Fluchtbewegungen der letzten Jahre erlebt der Osten eine neue Migrationserfahrung. In vielen Branchen und Betrieben fehlt es an Arbeitskräften bzw. sind deutsche Beschäftigte immer weniger bereit, die belastenden Arbeitsbedingungen mit Schichtarbeit und oft geringer Entlohnung auf sich zu nehmen.
Ohne ausländische Arbeiter*innen hätte es im Osten in den letzten Jahren kein Beschäftigungsaufbau gegeben. Insbesondere in Betrieben der Lebensmittelindustrie und Gastronomie steigt der Anteil ausländischer Beschäftigter sehr dynamisch. Trotz einzelner positiver Erfahrungen gelingt es noch viel zu wenig, diese anzusprechen und für die Gewerkschaft zu gewinnen. Die Gründe dafür sind zahlreich: Die Vorgeschichte und Gewerkschaftsprägung der Beschäftigten aus ihren Herkunftsländern (Staatsgewerkschaften in Osteuropa), die Diskriminierungserfahrung in Deutschland und fehlendes Verständnis, dass eine «deutsche» Gewerkschaft auch für sie da ist, anderseits die fehlende Ansprache der Gewerkschaft an sie mit ihren Problemlagen und oft der fehlende Zusammenhalt in der Belegschaft. Nicht ohne Einfluss sind dabei die politischen Verhältnisse und stereotypische Stimmungsmache von rechts. Die Durchsetzungsfähigkeit der Gewerkschaften in den ostdeutschen Betrieben hängt schon jetzt und in Zukunft noch stärker davon ab, ob es gelingt, diese Beschäftigten in Ostdeutschland zu gewinnen.
Grenzen der gewerkschaftlichen Offensive
Die gewerkschaftlichen Organisationserfolge sind ermutigend, stoßen aber zugleich an Grenzen. Das gehört zu einer ehrlichen Analyse dazu.
Sie stoßen an Grenzen, weil die Erfolge bisher nicht zu einer flächendeckenden Ausdehnung der Gewerkschaften und ihrer Wirkungsmacht geführt haben. Nach neuesten Zahlen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung sind in Ostdeutschland nur noch 45 Prozent der Beschäftigten tarifgebunden, nur 37 Prozent haben einen Betriebs- oder Personalrat (ab fünf Beschäftigten 40 Prozent). Das bedeutet: Nur eine Minderheit der Beschäftigten sammelt Erfahrungen mit kollektiver Vertretung und Organisation durch Betriebsrat oder Gewerkschaft.
Das bestehende Vakuum füllt bisher maßgeblich die AfD, insbesondere in den Industriebetrieben im kleinstädtischen, ländlichen Raum.
Und Erfolge sind politisch begrenzt. Oft sind die gewerkschaftlichen Auseinandersetzungen und Streiks von einer enormen Wucht geprägt, ein neues Selbstbewusstsein kommt zum Ausdruck. Nicht selten überschneidet sich dies mit einem deutlichen politischen Unmut über die «etablierten» Parteien, es gibt eine tiefe Entfremdung gegenüber dem bestehenden politischen System. Das bestehende Vakuum füllt bisher maßgeblich die AfD, insbesondere in den Industriebetrieben im kleinstädtischen, ländlichen Raum. Oft ist dort, wo es ein großes Selbstbewusstsein in den Betrieben gibt, die AfD stark präsent. Rechte Erzählungen zur «Bürgergeld-Schmarotzern», «Missbrauch des Asylrechts» etc. sind sehr dominant. Alternative Sichtweisen eines oben und unten, einer gemeinsamen Klassenperspektive sind wenig vorhanden oder nicht greifbar.
„Bin ich schon Mitglied in der für mich zuständigen Gewerkschaft?“
Öffnet der überraschende Wahlerfolg der Linken mit ihren zahlreichen Neumitgliedern die Tür zu einer anderen Entwicklung? Dies hängt zum einen davon ab, ob es der Linken gelingt, auch in diesem Klassenmilieu Fuß zu fassen, mit überzeugenden Antworten die Köpfe und Herzen der Beschäftigten zu erreichen und eine Veränderungsperspektive aufzuzeigen. Anderseits bedarf es größerer gesellschaftlicher Auseinandersetzungen und Kämpfe, die eine verbindende Perspektive für die fragmentierte Arbeiterklasse aufzeigen. Als erstes könnte sich Jede*r beim Lesen dieser Zeilen fragen: Bin ich schon Mitglied in der für mich zuständigen Gewerkschaft? Natürlich!
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Der Autor:
Olaf Klenke, geb. 1974 in Berlin (Ost), arbeitet bei der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) im Landesbezirk Ost und begleitet dort zahlreiche Tarifauseinandersetzungen. Er ist Mitglied der Partei Die Linke.
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Dieser Text basiert vor allem auf den Erfahrungen der ostdeutschen Lebensmittelindustrie. Die Gewerkschaft Nahrung- Genuss-Gaststätten (NGG) organisiert daneben auch die Gastronomie wie Hotels, Betriebsküchen oder die Systemgastronomie mit den großen Fast-Food-Ketten und auch das Bäckerhandwerk
Quelle und weitere Infos: https://www.rosalux.de/ Bild: ngg.de