Ursachen des „Fachkräftemangels“ sind systembedingt und hausgemacht (3) – Berufsberatung und Vermittlung durch die Bundesagentur für Arbeit (BA)

Wenn in den Unternehmen irgendetwas nicht rund läuft, wird sofort auf den vorgeblichen „Fachkräftemangel“ verwiesen, man zuckt mit den Schultern, meint damit, da „kann man nichts machen“, als wäre das Problem mit der geringen Zahl an Fachleuten wie ein Naturereignis vom Himmel gefallen.

Auch stimmt die Lobhudelei über das Duale Ausbildungssystem in Deutschland schon lange nicht mehr, mehr noch, dieses System scheint wohl völlig gescheitert zu sein. Die einzige Lösung wird in der Zuwanderung von Fachkräften aus dem Ausland gesehen, doch die Ursachen des Mangels an Fachkräften sind systembedingt und hausgemacht. Wer meint, dass die Unternehmen nun ihre Ausbildungsanstrengungen steigern und auch die Bundesagentur für Arbeit ihre Vermittlung junger Menschen in die Berufsausbildung hinterfragen würden, der ist auf dem Holzweg.

In Deutschland sind aktuell und offiziell 47,5 Millionen Menschen erwerbstätig, so viele wie nie zuvor. Das entspricht einer Quote von 77 Prozent aller Personen im Alter zwischen 15 und 65 Jahren. 35 Millionen von ihnen sind sozialversicherungspflichtig beschäftigt, doch arbeitet die Hälfte der erwerbstätigen Frauen, meist unfreiwillig, in unterbezahlter Teilzeit oder Minijobs. Dagegen sind 3,5 Millionen Menschen erwerbslos bzw. unterbeschäftigt bei 750.000 gemeldeten offenen Stellen.

Im vergangenen Jahr stieg die Arbeitsproduktivität gesamtwirtschaftlich um gut ein Prozent, im verarbeitenden Gewerbe um drei Prozent und in der Autoindustrie um mehr als fünf Prozent. Gleichzeitig erhöhte sich die Zahl registrierter arbeitsloser Menschen auf knapp 2,8 Millionen, ebenso die Anzahl der ausschließlich geringfügig Entlohnten auf 4,25 Millionen.

Während die Unternehmen lautstark einen Fachkräftemangel beklagen, bleiben 2,5 Millionen junge Menschen zwischen 20 und 34 Jahren ohne eine abgeschlossene Ausbildung zurück.

Laut Bundesinstitut für Berufsbildung gingen die Ausbildungsverträge 2024 um 0,5 Prozent gegenüber 2023 auf 486.700 zurück, gleichzeitig blieben aber fast 70.000 Ausbildungsplätze unbesetzt. 2024 bildeten nur knapp 19 Prozent aller Betriebe aus.

Die Unternehmen aber denken hauptsächlich einzelbetrieblich, d.h. sie bilden nur dann aus, wenn sie Netto-Ausbildungserträge schon während der Ausbildung erwirtschaften oder nach der Ausbildung die Ausgebildeten an ihren Betrieb binden können. Ansonsten verlegen sie sich lieber auf eine Abwerbestrategie ausgebildeter Arbeitskräfte im In- und Ausland.

Berufsberatung und Vermittlung durch die Bundesagentur für Arbeit (BA)

Nach der aktuellen Ausbildungsmarktstatistik der Bundesagentur für Arbeit gab es im letzten Berufsberatungsjahr 422.059 gemeldete Bewerber und 545.039 gemeldete Berufsausbildungsstellen. Dieser Angebotsüberhang von über 100.000 Ausbildungsstellen deutet auf den ersten Blick auf eine gute Ausbildungssituation hin, doch Ende September 2023 waren noch 68.900 Stellen unbesetzt und 22.700 junge Leute unversorgt.

Beim genaueren Blick auf die Ausbildungsmarktstatistik der Bundesagentur für Arbeit treten weitere Widersprüche und Ungereimtheiten hervor, drei von ihnen werden im Folgenden behandelt.

1. Die wichtigste Zahl der Ausbildungsmarktstatistik wird verschwiegen 

Nur 201.615 oder 48 Prozent der bei der BA bzw. Berufsberatung gemeldeten Bewerber sind auch tatsächlich in eine Ausbildung „eingemündet“. So sind 52 Prozent der Bewerber nicht eingemündet.

Verbleib der gemeldeten Bewerber am 30. September 2023:

  • 48 Prozent haben eine Berufsausbildung begonnen
  • 13 Prozent haben keine Angaben gemacht
  • 6 Prozent sind unversorgte Bewerber
  • 4 Prozent sind arbeitslos
  • 2 Prozent sind in Fördermaßnahmen
  • 1 Prozent leistet gemeinnützige und soziale Dienste
  • 7 Prozent sind erwerbstätig
  • 16 befinden sich in Schule, Studium und Praktikum

und 3 Prozent setzen eine begonnene Ausbildung fort.

Nur weniger als die Hälfte der Bewerber für eine Ausbildung hatten das Glück in diesem Berufsberatungsjahr einen Ausbildungsplatz zu erlangen. Besonders benachteiligt sind dabei die ohnehin schon Benachteiligten: Jugendliche mit Hauptschulabschluss und aus „abgehängten Regionen“ sowie Jugendliche mit Migrationshintergrund bzw. ausländischer Staatsangehörigkeit. Außerdem stecken jährlich über 220.000 junge Menschen in den sogenannten Übergangsmaßnahmen zwischen Schule und Ausbildung fest.

2. Zahlenspielchen bei der Ausbildungsversorgung

Wenn 48 Prozent der Bewerber um einen Ausbildungsplatz eine Ausbildungsstelle erhalten haben, bleiben logischerweise 52 Prozent der Bewerber ohne Ausbildungsplatz und müssten als „unversorgt“ gelten. Doch werden in der Ausbildungsmarktstatistik nur 6 Prozent als „unversorgt“ ausgewiesen, weil ganz willkürlich in dieser Statistik auch arbeitslose, erwerbstätige und die in Warteschleifen – offiziell „Übergangsbereich“ genannt – abgeschobenen Jugendlichen als „versorgt“ erklärt werden. Dieser „Übergangsbereich“ ist weitaus größer, als in der Ausbildungsmarktstatistik erfasst.

Beispielsweise waren in Hamburg bei der Schulabgängerbefragung 2023 der Schulbehörde 44,4 Prozent der Schulabgänger in die einjährige Warteschleife „Ausbildungsvorbereitung“ geschickt worden, weil sie angeblich damit die Ausbildungsreife erlangen sollten, obwohl sie bereits 10 Jahre Schulbesuch hinter sich hatten. Nur 44,3 Prozent hatten den direkten Übergang in eine Berufsausbildung geschafft, davon lediglich 32,8 Prozent in eine betriebliche Ausbildung.

Am weitesten in die Irre führt der Begriff der „Versorgten“.  Darunter wird auch von offizieller Seite pure Verschleierungspolitik gemacht, wie wieder ein Beispiel aus Hamburg belegt: Die Arbeitsagentur Hamburg erklärte in der gemeinsamen Bilanz-Pressekonferenz mit den „Partnern des Hamburger Ausbildungsmarktes“, es seien nur 768 der gemeldeten Bewerber „am 30.09. noch ohne Lehrstelle“ geblieben, also nur 768 Bewerber die „Unversorgten“ darstellen würden. Tatsächlich sind jedoch laut Ausbildungsmarktstatistik für Hamburg 3.601 (58 Prozent) der 6.246 gemeldeten Bewerber nicht in eine Ausbildung eingemündet.

3. Versteckte Selektion

Ähnliche Ungereimtheiten gibt es bei der Bewerberzahl an sich und auch mit dem Stellenüberhang ist es nicht weit her. Wenn nur 68.900 Ausbildungsstellen unbesetzt sind, wie die BA betont, heißt das, dass (545.039 minus 68.900 =) 459.691 Stellen besetzt worden sind. Von den gemeldeten Bewerbern haben allerdings nur 201.615 einen Ausbildungsplatz erhalten. Das heißt, dass genau 258.076 Jugendliche, die nicht bei den Arbeitsagenturen als gemeldet registriert waren, einen gemeldeten Ausbildungsplatz erhalten haben. Wenn man diese zu den gemeldeten Bewerbern hinzuzählt, erhält man eine Zahl von 680.135 Ausbildungs­platz­bewerbern, was erheblich mehr ist als die 545.039 gemeldeten Ausbildungsstellen.

Die BA rechnet auch damit, dass sich nur rund 60 Prozent der Ausbildungsinteressierten bei ihr meldet. Beispielsweise dürften sich Jugendliche mit einer Hochschul- und Fachhochschulberechtigung direkt, ohne Einschaltung der BA bei einem Ausbildungsbetrieb beworben haben.

Auf der anderen Seite werden immer wieder zu wenig Schulabgänger ausgewiesen, die keinen oder nur einen Hauptschulabschluss erworben haben. So berichtet die BA: „Von den aktuellen Schulabgängern aus Haupt- und Realschulen melden sich rund 30 Prozent.“ Diese Aussage scheint falsch zu sein, denn gerade junge Menschen ohne bzw. mit Hauptschulabschluss dürften sich wegen ihrer schlechten Bewerbungsperspektive an die BA gewandt und um Vermittlungshilfe gebeten haben. Dort aber werden sie nur dann als Bewerber registriert, wenn sie als „geeignet“ befunden werden, weil alle Jugendlichen, die sich an die Arbeitsagenturen wenden, von diesen zunächst als „Ratsuchende“ geführt werden und danach daraufhin überprüft, ob sie „geeignet“ sind für eine Ausbildung. Erst wenn die Kriterien für die „Eignung“ erfüllt worden sind, gelten sie als „Bewerber“.

Die „Ungeeigneten“ werden weiter als „Ratsuchende“ erfasst. Deren Zahl wurde noch bis 2004 ausgewiesen, danach wohl zur Beschönigung der Ausbildungssituation aber nicht mehr. Das Groteske ist, dass gerade die Jugendlichen ohne oder mit Hauptschulabschluss in der Ausbildungsmarktstatistik nicht als Bewerber auftauchen, obwohl sie sich dort eigentlich gemeldet und um Vermittlung gebeten haben.

Das ist genau die versteckte Selektion, wie sie durchgängig im deutschen Bildungssystem stattfindet.

All das dient dazu, die Ausbildungssituation zu beschönigen und von dem wichtigsten Indikator, der Zahl der Eingemündeten, abzulenken, die nur 48 Prozent betrug.

4. Weitere Beispiele für Ungereimtheiten der Ausbildungsmarktstatistik, die das Bild des Ausbildungsmangels bestärken

  • Von den Bewerbern bei der BA sind 37 Prozent Altbewerber. Diese jungen Menschen haben in den letzten fünf Jahren mindestens einmal bei den Arbeitsagenturen um Unterstützung bei der Ausbildungsplatzsuche nachgefragt. Nur 39 Prozent der Altbewerber, aber 53 Prozent der Bewerber, die im letzten Berichtsjahr die Schule verlassen hatten, haben ein Ausbildungsverhältnis erlangt.
  • 40 Prozent der Bewerber kommen von berufsbildenden Schulen, was meistens bedeutet, dass sie zuvor in Warteschleifen (wie das Berufsvorbereitungsjahr oder die teilqualifizierende Berufsfachschule) ausharren mussten. Nur 38 Prozent der Bewerber aus berufsbildenden Schulen, aber 59 Prozent derjenigen aus allgemeinbildenden Schulen konnten eine Berufsausbildung beginnen.
  • Eine ausländische Staatsangehörigkeit haben 19 Prozent der Bewerber, aber nur 37 Prozent der ausländischen Bewerber haben 2023 eine Ausbildungsstelle gefunden, bei deutschen Bewerbern waren es 50 Prozent. Da kommt die Frage auf, warum man angesichts dieser niedrigen Einmündungsquote von hier lebenden ausländischen jungen Menschen „händeringend“ noch mehr Jugendliche aus dem Ausland für eine Ausbildung im hochgelobten, deutschen „dualen System“ begeistern will.
  • Die Chancen für eine Berufsausbildung hängen von der Postleitzahl des Wohnsitzes ab. Die regionalen Unterschiede in der Ausbildungsversorgung sind sehr groß. Auf dem letzten Platz bei der Einmündungsquote steht Berlin (mit 35,3 Prozent), gefolgt von Bremen (39,2 Prozent) und Schleswig-Holstein (mit 41,7 Prozent). Die höchsten Einmündungsquoten weisen Bayern (mit 59,5 Prozent), Thüringen (mit 59,0 Prozent) und Sachsen-Anhalt (mit 58,6 Prozent) auf. Gründe für diese Unterschiede dürften vor allem in der jeweiligen wirtschaftlichen Lage (siehe Bayern und Schleswig-Holstein), der niedrigen Nachfrage (siehe Thüringen und Sachsen-Anhalt) und dem Nachfragedruck von Jugendlichen aus dem Umland in Großstädten liegen.
  • Im Jahr 2021 boten nur noch 19,1 Prozent aller Betriebe eine Berufsausbildung an. Die Ausbildungsbeteiligung ist seit Jahren rückläufig. Im Jahr 2007 belief sie sich noch auf 24,1 Prozent. Besonders niedrig ist die Ausbildungsbeteiligung in Berlin (mit 11 Prozent) und im Wirtschaftszweig „Beherbergung, Gastronomie“ (mit 8,5 Prozent)

und im Mai vergangenen Jahres war die Empörung groß, dass mehr als 2,6 Millionen Menschen zwischen 20 und 35 Jahren keinen Berufsabschluss hatten und als ungelernt galten.

Systemwechsel erforderlich

Im Jahr 2023 bekamen nicht einmal 70 Prozent aller bei der Bundesagentur für Arbeit gemeldeten Jugendlichen einen Ausbildungsplatz. Weniger als jedes fünfte Unternehmen bildet hierzulande noch aus. Auf der anderen Seite gibt es aber ein riesiges Potenzial an jungen Menschen die keine Ausbildung finden. Über 220.000 Jugendliche stecken jedes Jahr in den sogenannten Übergangsmaßnahmen zwischen Schule und Ausbildung fest, hinzu kommen über 2,3 Millionen junge Menschen im Alter zwischen 20 und 34 Jahren, die keinen Berufsabschluss haben. Diesen Menschen droht ein Leben in prekärer Beschäftigung, Arbeitslosigkeit und Armut.

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Ursachen des „Fachkräftemangels“ sind systembedingt und hausgemacht (1) – Seit 55 Jahren wird eine verfehlte Berufsbildungspolitik betrieben | gewerkschaftsforum.de

Ursachen des „Fachkräftemangels“ sind systembedingt und hausgemacht (2) – 2024 bildeten nur knapp 19 Prozent aller Betriebe aus | gewerkschaftsforum.de

 

 

 

 

Quellen: destatis, Ausbildungsmarktstatistik, Berufsbildungsreport, BA, BDA, Hans Boeckler Stiftung, WAZ, Junge Welt, TAZ, Makroskop, Berufsbildungsgesetz, Bundesinstitut für Berufsbildung, Berufsbildungsbericht 2023 der Bundesregierung

Bildbearbeitung: L.N.