Die meisten Menschen wünschen sich, mit einem sicheren Arbeitsplatz den Lebensunterhalt selbst zu verdienen, wenn möglich sogar mit einer Arbeit, die den eigenen Fähigkeiten und Interessen entspricht.
Doch wer behindert ist, hat es auf dem deutschen Arbeitsmarkt schwer, eine seinen Fähigkeiten entsprechende Beschäftigung zu finden. Die Unternehmen mit mehr als 20 Beschäftigten sind zwar gesetzlich verpflichtet, fünf Prozent ihrer Stellen mit Schwerbehinderten zu besetzen, doch viele Arbeitgeber zahlen lieber eine Ausgleichsabgabe, als dass Menschen mit Behinderungen einstellen.
Seit einigen Jahrzehnten bewegt sich wenig in dieser Gruppe. Die Arbeitslosenquote von Menschen mit einer Schwerbehinderung ist fast doppelt so hoch wie bei Menschen ohne Behinderung und genau das nimmt kaum jemand wahr.
Viele behinderte Menschen hatten ursprünglich große Hoffnungen in das neue Bundesteilhabegesetz gesetzt und wurden herbe enttäuscht. Das umstrittene Gesetz soll nun Anfang 2017 in Kraft treten.
Nun haben sich viele Betroffene zusammengetan und machten Druck auf die Bundestagsabgeordneten und auf die Länder, um deren Zustimmung für das Bundesteilhabegesetz im Bundesrat zu verhindern, leider ohne Erfolg.
In Deutschland leben derzeit über drei Millionen Menschen im erwerbsfähigen Alter, die eine Behinderung haben. Häufig ist diese nicht angeboren, sondern eine Folge von Erkrankung, wie etwa Funktionseinschränkungen der Wirbelsäule, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Schädigungen der inneren Organe, etwa nach einer Vorerkrankung. Solche Behinderungen treten vor allem bei den älteren Menschen auf. So waren von den schwerbehinderten Menschen im erwerbsfähigen Alter knapp die Hälfte zwischen 55 und 65 Jahre alt. In den vergangenen Jahren ist die Zahl der Schwerbehinderte ohne eine bezahlte Beschäftigung jährlich um mehrere tausend Personen angestiegen, zuletzt auf 181.110 Menschen.
Die Arbeitssituation der Menschen mit einer Schwerbehinderung in Zahlen
- Laut Bundesarbeitsagentur (BA) waren im Oktober 2015 insgesamt 181.110 Menschen mit einer Schwerbehinderung ohne Arbeit.
- Die Arbeitslosenquote von Menschen mit Schwerbehinderung lag damals mit 13,9 Prozent fast doppelt so hoch wie bei Menschen ohne Behinderung.
- Der Anteil der Nichterwerbspersonen beträgt bei Menschen mit Behinderung 56 Prozent, das sind über 1,85 Millionen Menschen. Bei allen Personen im erwerbsfähigen Alter jedoch nur 23 Prozent.
- Die durchschnittliche Dauer der Arbeitslosigkeit bei schwerbehinderten Menschen liegt bei 77 Wochen, bei den anderen Arbeitslosen 64 Wochen.
- Der Anteil an Langzeitarbeitslosen (Menschen die länger als ein Jahr auf Beschäftigungssuche sind) beträgt bei Menschen mit Behinderungen 45,8 Prozent, dagegen ist Anteil der nichtbehinderten Langzeitarbeitslosen an allen Arbeitslosen 36,6 Prozent
- Lediglich 1,016 Millionen der Pflichtarbeitsplätze sind überhaupt besetzt.
- Über 2/3 der Menschen mit kognitiven Behinderungen, den sogenannten „geistigen Behinderungen“ arbeitet auf dem 2. Arbeitsmarkt in Werkstätten für Menschen mit Behinderung.
- Während laut BA die durchschnittliche Dauer bei schwerbehinderten Arbeitslosen im Jahr 2012 (aktuellere Zahlen liegen nicht vor) bei 77 Wochen lag, war es bei den anderen Arbeitslosen 64 Wochen
und über 60 Prozent der schwerbehinderten Arbeitslosen hat einen Studien- oder Berufsabschluss, bei den Arbeitslosen ohne Handicap sind es 55 Prozent. Bei den Langzeitarbeitslosen, die SGB II-Leistungen beziehen, sind die Qualifikationen bei den Schwerbehinderten ebenfalls höher.
Die Quote
Im Sozialgesetzbuch 9 (SGB IX) schreibt der § 71 vor, dass private und öffentliche Arbeitgeber, die mindestens 20 Arbeitsplätze vorhalten, wenigstens 5 Prozent dieser Arbeitsplätze an schwerbehinderte Menschen vergeben müssen. Dabei sind schwerbehinderte Frauen besonders zu berücksichtigen. Werden in einem Unternehmen die Pflichtarbeitsplätze nicht besetzt, muss es zahlen, monatlich sind bis zu maximal 290 Euro pro Stelle fällig. Die Betriebe haben viele Ideen entwickelt, die Ausgleichsabgabe zu unterlaufen, z.B. indem sie Aufträge an Behindertenwerkstätten vergeben und das wird dann ebenfalls angerechnet.
Das Geld der Ausgleichsabgabe fließt zum großen Teil in Betriebe und Dienststellen, die schwerbehinderte Menschen beschäftigen oder für sie Arbeitsplätze schaffen. Seit 2016 müssen zum Beispiel Arbeitgeber 320 Euro monatlich zahlen, wenn die Beschäftigungsquote der nicht mit einem Schwerbehinderten besetzten Pflichtarbeitsplätze unter zwei Prozent liegt.
Die Unternehmenspolitik
Mit der Unterzeichnung der UN-Behindertenrechtskonvention hat Deutschland sich im Jahr 2009 verpflichtet, den Arbeitsmarkt komplett barrierefrei zu gestalten. In einem Teil der Unternehmen wurde umgesetzt, dass es dort Blindenleitsysteme, Rolli-Shuttle, Servierservice in der Kantine oder Schulungsveranstaltungen mit Hörunterstützung gibt. Um hier erfolgreich zu sein, ist es notwendig, dass bei allen Tätigkeiten im Unternehmen immer wieder überprüft wird, ob diese nicht auch von Schwerbehinderten ausgeführt werden können. Doch haben die Unternehmer nach wie vor erhebliche Vorbehalte, Menschen mit Behinderungen einzustellen. Von den rund 143.000 Unternehmen mit mehr als 20 Mitarbeitern beschäftigen mehr als 37.000 überhaupt keinen schwerbehinderten Menschen. Im Durchschnitt sind immer nur 4,6 Prozent der Stellen mit Schwerbehinderten besetzt. Während die Privatwirtschaft eine Quote von vier Prozent erreicht und unter der vorgegebenen Marke bleibt, erfüllen die öffentlichen Arbeitgeber mit 6,5 Prozent ihre Pflicht.
Auch gibt es branchenbezogen große Unterschiede: In dem Gaststättengewerbe (2,8 Prozent), dem Baugewerbe oder der Landwirtschaft (beide 3,0 Prozent) ist der Anteil schwerbehinderter Beschäftigte eher gering. Schwer haben sie es auch in der Werbung und Marktforschung (1,8 Prozent), der Filmproduktion und der Zeitarbeit (jeweils 1,6 Prozent).
Besser sieht es bei der Beschäftigung von Schwerbehinderten in der öffentlichen Verwaltung und Sozialversicherung aus, die eine Quote von 6,8 Prozent erreichen. In der Energieversorgung sind es 5,7 Prozent und im Fahrzeugbau 5,5 Prozent.
Ein weiterer Unterschied ergibt sich bei der Größe der Betriebe. So haben Unternehmen mit mehr als 2.000 Mitarbeitern im Durchschnitt mehr als fünf Prozent ihrer Stellen mit Schwerbehinderten besetzt. Unternehmen mit bis zu 40 Beschäftigten kommen nur auf eine Quote von 2,8 Prozent, für sie gibt es allerdings auch noch einige Ausnahmen von der Fünf-Prozent-Regelung.
Die 3,4 Millionen Unternehmen, die weniger als 20 Beschäftigte haben, sind von der Pflichtquote ganz befreit. Sie müssen nur alle fünf Jahre im Rahmen einer repräsentativen Teilerhebung/Stichprobenerhebung durch die BA Auskunft über die Anzahl schwerbehinderter Arbeitnehmer im Betrieb Auskunft geben. Eventuell müssen sie die Ausgleichsabgabe bezahlen. Seit 2016 müssen Arbeitgeber 320 Euro monatlich zahlen, wenn die Beschäftigungsquote der nicht mit einem Schwerbehinderten besetzten Pflichtarbeitsplätze unter zwei Prozent liegt.
Das Bundesteilhabegesetz
Im Juni 2016 hat das Bundeskabinett das Bundesteilhabegesetz beschlossen. Das Gesetz wird voraussichtlich am 1. Januar 2017 mit der ersten Reformstufe in Kraft treten.
Mit dem Bundesteilhabegesetz soll entsprechend der Vorgaben des Koalitionsvertrages die Lebenssituation von Menschen mit Behinderungen verbessert und damit das deutsche Recht im Licht der UN-Behindertenrechtskonvention weiterentwickelt werden. Der Referentenentwurf, der im Frühjahr veröffentlich wurde, war für die Betroffenen ein Schock. Denn heraus gekommen ist ein Spargesetz, das viele Menschen künftig von den Leistungen der Eingliederungshilfe ausschließt, bisherige Errungenschaften für die Selbstbestimmung untergräbt und auf der anderen Seite nur wenigen Menschen Verbesserungen bringt.
Die Selbstvertretung behinderter Menschen in Deutschland hat den Gesetzentwurf massiv kritisiert und die 10 größten Mängel aufgezeigt: (kursiv: aktuelle Änderungen)
- Die Mogelpackung schlechthin
Sind behinderte Menschen auf Persönliche Assistenz angewiesen, erhalten sie zumeist Eingliederungshilfe und Hilfe zur Pflege. Doch nur die Eingliederungshilfe wird aus dem Sozialhilferecht herausgelöst, die Hilfe zur Pflege bleibt Sozialhilfe. Das bedeutet, dass eventuelle Verbesserungen in der Eingliederungshilfe diesen Betroffenen rein gar nichts bringen! (§ 91 I SGB IX) Laut des dem Kabinettsbeschluss zugrunde liegenden Entwurfes werden Personen, die Eingliederungshilfe und Hilfe zur Pflege erhalten jetzt den günstigeren Regelungen der Eingliederungshilfe unterstellt, wenn sie erwerbstätig sind und außerhalb eines Heimes wohnen. Mit dem 1. Tag der Rente werden aber auch diese Personen sofort wieder in die Sozialhilfe gestürzt.
- Selbstbestimmt leben? Nur wenn es günstiger und nicht unangemessen ist.
Bisher galt der Grundsatz: ambulant vor stationär. Also es ist besser man wohnt zu Hause oder in einer eigenen Wohnung, als in einem Heim. Dieser Vorrang entfällt, sodass das Wohnen in den eigenen vier Wänden künftig oft nur dann „erlaubt“ werden wird, wenn es günstiger ist oder ein Leben im Heim unzumutbar ist. (§104 II SGB IX) Keine Änderung. Nur in der Begründung wurde als „Bestandsschutz“ hinzugefügt, dass das, was vorher angemessen war, auch angemessen bleibt. Das ist gut für die, die wohnen, wie sie möchten, aber eine Katastrophe für diejenigen, die noch im Heim leben müssen oder erstmals von ihren Eltern ausziehen möchten.
- Individuelles Leben – Fehlanzeige
Nach dem Entwurf können viele Hilfen zwangsweise für mehrere Betroffene gleichzeitig erfolgen – das sogenannte „Poolen von Leistungen“. Individuelle Aktivitäten, wie sich mit Freunden treffen oder Kinobesuche, sind dann unmöglich. Es droht ein zwangsweises Leben in WGs und Heimstrukturen. (z.B. §116 II und §112 IV SGB IX) Update: Keine Änderung.
- Behinderte dürfen nicht sparen
Um die lebensnotwendigen Hilfen zu erhalten, dürfen behinderte Menschen kaum Geld sparen. Von ihrem Einkommen wird ihnen – neben den normalen Steuern und Sozialabgaben – 24% des über dem Freibetrag liegenden Einkommens abgezogen und Vermögen, also auch Bausparverträge oder Lebensversicherungen, dürfen sie nicht in einem Wert von mehr als zunächst 25.000 € besitzen (§137 II und §140 SGB IX). Bei Hilfe zur Pflege verbleibt es im Grundsatz bei 2.600 €. Update: Keine Änderung.
- Willst du mit einem behinderten Menschen zusammenleben? Gib dein Geld her!
Wer mit einem behinderten Menschen in einer Partnerschaft lebt, muss – sobald man zusammenwohnt – so lange alle Hilfen für den Partner zahlen, bis er selbst weniger als 25.000 € besitzt. Ein geerbtes Elternhaus – weg. Eine Lebensversicherung – weg. (§140 I SGB IX) Bei Hilfe zur Pflege ist auch weiterhin zusätzlich auch ein Großteil des Partnereinkommens – weg. Update: Das Vermögen des Partners ist in der neuen Fassung ebenso wie das Einkommen des Partners nicht mehr heranzuziehen. Allerdings gilt beides weiterhin nur für die Eingliederungshilfe, nicht für die Hilfe zur Pflege.
- Behinderte sind nicht behindert genug
Um Hilfen zu erhalten, muss man laut dem Entwurf in 5 von 9 Lebensbereichen eingeschränkt sein (§ 99 SGB IX). Wer z.B. aufgrund einer Sehbehinderung Hilfe zur Mobilität und beim Lernen benötigt, ist nicht behindert genug, um Eingliederungshilfe beanspruchen zu können. Update: Die völlig unverständliche Anforderung wurde im Grundsatz beibehalten. Das Amt kann jedoch jetzt „nach freiem Ermessen“ die Hilfen auch Personen gewähren, die die Voraussetzung nicht erfüllen – muss es aber nicht.
- Mit anderen Menschen kommunizieren? Nur wenn es wirklich wichtig ist!
Hör- oder sprachbehinderte Menschen sollen nur dann Hilfen zur Kommunikation erhalten, wenn das aus „besonderem Anlass“ nötig ist. Sich mit Freunden, Bekannten oder der Kassiererin im Supermarkt verständigen – unwichtig. (§82 SGB IX) Update: Keine Änderung.
- Im Ausland studieren oder Entwicklungshilfe leisten? Nur wenn es billig ist!
Hält sich ein behinderter Mensch vorübergehend im Ausland auf, erhält er dort nur dann Hilfen, wenn diese im Vergleich zu Deutschland bei gleicher Qualität günstiger sind. Ein Auslandssemester oder für eine Entwicklungshilfe-Organisation zu arbeiten – fast unmöglich. (§31 SGB IX) Update: Keine Änderung.
- Ein Behinderter will ehrenamtlich helfen? Dann soll er doch erstmal selbst um Hilfe betteln!
Behinderte Menschen, die sich ehrenamtlich engagieren möchten, erhalten hierfür keine Assistenz mehr. Sie sollen Familie, Freunde oder Nachbarn fragen. Andere Möglichkeiten sind nicht mehr vorgesehen. (§ 78 Abs. 5 SGB IX) Update: Assistenz soll nach dem leicht geänderten Wortlaut wohl nicht mehr völlig ausgeschlossen sein, jedoch nur dann erbracht werden, wenn Hilfe durch Familie, Freunde oder Nachbarn nicht möglich ist.
- Eltern können ihren Kindern nicht helfen
Wollen Eltern ihrem behinderten Kind als Absicherung etwas vererben, damit es z.B. nicht auf staatliche Grundsicherungsleistungen angewiesen ist, geht das nicht. Das Kind muss – wenn es Hilfe zur Pflege bekommt – weiterhin den kompletten Betrag, bis auf 2.600 €, abgeben. Update: Keine Änderung.
Darüber hinaus bestehen noch viele weitere Mängel am derzeitigen Entwurf des Bundesteilhabegesetzes, wie: der individuelle Anspruch auf einen Integrationshelfer an Schulen und weiteren Bildungseinrichtungen wird faktisch gestrichen (§112 Abs. 4) oder die Pläne eines bundeseinheitlichen Teilhabegeldes, welches nicht nur die unterschiedlichen Höhen an Ausgleichszahlungen je Bundesland behoben, sondern vielen behinderten Menschen kulturelle Teilhabe erst ermöglichen würde, sind erst gar nicht zum Zuge gekommen.
Trotz umfangreicher Protestaktionen unter dem Motto #NichtMeinGesetz! und Widersprüchen hat das Kabinett den Gesetzentwurf verabschiedet. Damit ging das verhunzte Bundesteilhabegesetz nun durch den Bundestag und der Bundesrat billigte das Gesetz in seiner Sitzung am 17.06.2016, sodass es zum kommenden Jahreswechsel in Kraft tritt.
Von gleichberechtigter und selbstbestimmter Teilhabe können Menschen mit Behinderungen weiterhin nur träumen.
Quellen: Die Selbstvertretung behinderter Menschen in Deutschland, DGB, taz
Bild: protesttag-behinderte.de