Deutsche Exportüberschüsse: Munition für einen Handelskrieg

Von Fred Schmid

Das Timing war nicht günstig. Wenige Tage vor der Amtseinführung des US-Präsidenten Donald Trump veröffentlichte destatis die deutschen Außenhandelszahlen für 2016 (9.2.17): Rekord! Rekord! – noch nie hat die deutsche Wirtschaft so viele Waren exportiert wie im vergangenen Jahr – für 1.207,5 Milliarden Euro. Rekord auch beim Exportüberschuss (253 Milliarden Euro), Weltmeister im Kapitalexport (266 Milliarden Euro) (destatis, 9.2.17).

„Deutscher Überschuss dürfte Trumps Kritik befeuern“, sorgte sich die FAZ einen Tag nach Veröffentlichung der Zahlen (10.2.17). „US-Präsident Donald Trump könnte das neue Argumente für Strafzölle liefern“, befürchtete die SZ (10.2.17). „Die Rekordüberschüsse werden den Konflikt mit den USA weiter anheizen“, twitterte DIW-Präsident Marcel Fratzscher (zit. nach SZ, 10.2.17). Es riecht nach Pulverdampf und Handelskrieg. Deutschland wird schon seit Jahren als Hauptstörenfried auf den Weltmärkten gebrandmarkt und ermahnt, mehr für die Entwicklung des Binnenmarktes zu tun. Doch diesmal ist es ernster, da Trump es offenbar nicht bei verbaler Kritik belassen will, sondern an konkrete Gegen- und Abwehrmaßnahmen denkt. Umso mehr, als der deutsche Export-Junkie gar nicht an Entzug denkt, sondern die Dosis der Export- Droge noch steigert, wie die Januarzahlen zeigen: Exporte plus 11,8% im Vergleich zum Januar 2016 (destatis, 10.3.17).

Gründe für die Exportabhängigkeit Deutschlands

Deutschland weist von allen großen Industrieländern die größte Exportabhängigkeit auf: Der Anteil der Exporte am BIP betrug 2016 38,5%. Nicht die Höhe des Exports ist das Übel, sondern der Überschuss. Die Importe machen nämlich nur 30,5% des BIP aus; d.h. wir schaffen einen erheblichen Teil der produzierten Waren ins Ausland, ohne dafür eine adäquate Gegenleistung zu erhalten. Deutschland produziert weit mehr, als es selbst konsumiert.

Das Standard-Argument bürgerlicher Ökonomen zur Beschwichtigung dieses Tatbestands lautet: Es werde niemand dazu gezwungen, deutsche Autos, Maschinen etc. zu kaufen. „Made in Germany“ überzeuge durch seine Qualität. Der Präsident des Außenhandelsverbandes BGA, Anton Börner: Die Exportzahlen sind vor allem „das Ergebnis einer hervorragenden Leistung“. Nun bestreitet niemand die Wertarbeit deutscher Facharbeiter und die Innovationskraft der Ingenieure – auch wenn Börner mehr an die „Genialität“ deutscher Unternehmer denkt. Dennoch: Zur Dynamik und Raserei des deutschen Export-Bulldozers haben Politik und andere Faktoren kräftig beigetragen.

  1. Starke industrielle Basis: Der Anteil des verarbeitenden Gewerbes an der Bruttowertschöpfung ist in Deutschland wesentlich höher als in vergleichbaren Industriestaaten; er betrug 2015 30,5% (Statista). In den USA war der Anteil 20,7%, Japan 26,9%, Frankreich 19,5%, Großbritannien 20,2%. Durch diesen hohen Anteil profitierte die deutsche Industrie weit stärker als andere Volkswirtschaften von den gigantischen Konjunkturprogrammen nach der Finanzkrise (USA, China) und vor allem von dem sich anschließenden Boom der Schwellenländer, allen voran in China.
  2. Dumpinglöhne und gedrückte Lohnnebenkosten: Große Produktivitätsfortschritte im Industrie- und Handwerksbereich und Lohnzurückhaltung der Industriegewerkschaften hatten sinkende Lohnstückkosten zur Folge. Eine IMK-Studie (Hans-Böckler-Stiftung; Pressemitteilung 19.11.2015) kommt zu dem Ergebnis: „Die Lohnstückkosten, welche Arbeitskosten in Relation zur Produktivitätsentwicklung setzen, sind in Deutschland zwischen 2000 und 2014 um lediglich 1,0 Prozent im Jahresmittel gestiegen – und damit deutlich langsamer als im Euroraum (+1,7%). Die deutsche Wirtschaft schöpfte daraus erhebliche Vorteile bei der Wettbewerbsfähigkeit. Die Schaffung eines Niedriglohnsektors im Rahmen der „Agenda 2010“, Ausdehnung atypischer Beschäftigung (->„Arbeitslosigkeit“) und die Flexibilisierung der Ware Arbeitskraft trieben die Exportmaschine zusätzlich an.Zum Druck auf die Löhne kam das Dumping der Lohnnebenkosten: Senkung der Sozialversicherungs-Beiträge, nicht paritätische Finanzierung zugunsten der Unternehmer bei den Krankenkassen- und Rentenbeiträgen brachten erhebliche Kostenvorteile für die Unternehmer. Beim „race to the bottom“ im globalen Lohn- und Sozialdumping ging Deutschland als Sieger hervor – auf Kosten der anderen. Der französische Ökonom Fitoussi und damalige Leiter des führenden französischen Wirtschaftsforschungsinstituts OFCE kritisierte den deutschen Merkantilismus: „Was die Deutschen praktizieren, ist im Grunde nichts anderes als eine reale Abwertung“. Mit dem Unterschied, dass durch die Gemeinschaftswährung die anderen Länder nicht wie früher durch Wechselkursanpassungen dagegen halten können.
  3. Steuer-Dumping und Protektionismus durch Mehrwertsteuererhöhung: Neben der exorbitanten Senkung der Gewinnsteuern durch Rot-Grün (→ Steuern) wirkte sich vor allem die Erhöhung der Mehrwertsteuer von 16 auf 19% – ab 2007 – günstig für den deutschen Export aus, sie wirkte wie eine Art Zoll: Sie verteuerte die Importe der ausländischen Anbieter. Die deutschen Exporteure dagegen bekommen bei der Ausfuhr die enthaltene Mehrwertsteuer rückvergütet. Zudem mindert die Mehrwertsteuer im Umfang der Erhöhung die Binnen-Kaufkraft. Der Clou: Mit der erhöhten Mehrwertsteuer wurde erklärtermaßen – Bundesregierung – die Senkung der Lohnnebenkosten finanziert. Im Effekt also eine direkte Exportsubventionierung.
  4. Vorteile aus Euro und EZB-Zinspolitik: Deutschland profitiert wie kein anderes Land aus der Gemeinschaftswährung. Die Leistungsbilanzdefizite der meisten Euro-Länder führen zu einer relativ niedrigen Bewertung des Euros. Anders ausgedrückt: Bei einer Wiedereinführung nationaler Währungen, würde die D-Mark aufgrund der hohen Leistungsbilanzüberschüsse Deutschlands sofort stark aufwerten und damit deutsche Exportgüter stark verteuern. Schätzungen gehen von 20 – 40% aus. Das „deutsche Exportwunder“ würde rasch verblassen.Zudem spült die EZB mit ihrer Flutung der Finanzmärkte mit Billionen-teurem Aufkauf von Staatsanleihen und auch Firmenobligationen den Euro weich. So ist der Euro gegenüber dem Dollar stark unterbewertet: „Gemessen an Kaufkraftparität rangiert der Euro gegenüber dem Dollar um rund 20 Prozent zu niedrig“ (SZ, 3.12.17). Auch die Nullzinspolitik der EZB kommt ebenfalls vorrangig den Konzernen hierzulande und auch dem deutschen Mittelstand zugute. Deutsche Unternehmen müssen weit niedrigere Zinsen für Kredite und Anleihen zahlen als beispielsweise italienische oder spanische.
Rekord wird zur Gefahr

Der Vorwurf des deutschen Protektionismus´ ist also nicht von der Hand zu weisen. Es handelt sich um eine staatliche Rundum-Perfektionierung der deutschen Exportmaschinerie. Mit der Folge eines beispiellosen Siegeszugs auf dem Weltmarkt. Die deutsche Waren-Offensive hat jedoch zu erheblichen Ungleichgewichten in der Weltwirtschaft gesorgt.

Denn die Überschüsse in der Außenhandelsbilanz sind die entscheidende Ursache für die Überschüsse in der Leistungsbilanz (siehe Tabelle). Diese verzeichnete ebenfalls einen positiven Rekord-Saldo: 266,0 Milliarden Euro + 5,3%. Deutschland ist damit auch Weltmeister im Kapitalexport geworden.

Deutschlands Leistungsbilanzüberschuss korrespondiert mit einer entsprechenden Verschuldung anderer Länder. Der Überschuss ist 2016 auf 8,5% der Jahreswirtschaftsleistung (BIP) gestiegen, im Jahr davor waren es 8,3%. Die EU hält maximal sechs Prozent für langfristig tragfähig. Der deutsche Überschuss liegt bereits seit Jahren über der 6-Prozent-Marke. Die EU-Kommission könnte Sanktionen verhängen, hat es aber bisher bei einer Rüge (2014) belassen. Wer möchte sich schon mit dem mächtigsten EU-Staat anlegen.

„Ein Leistungsbilanz-Überschuss geht mit einem Netto-Kapitalexport einher“, schreibt das ifo-Institut (30.1.17). „Ein Netto-Kapitalexport bedeutet, dass die inländische Ersparnis größer als die inländischen Investitionen ist und dass das Land Vermögen im Ausland aufbaut. Analog dazu impliziert ein Leistungsbilanz-Defizit, dass ein Land mehr verbraucht als es produziert und dass sich das Land im Ausland verschuldet“. Und: „Der Anstieg des deutschen Netto-Auslandsvermögens zeigt sich vor allem bei der Zunahme an Wertpapieren, die Deutschland im Ausland erworben hat; der Netto-Ankauf belief sich bis November (2016) auf 193 Milliarden Euro. Die Höhe der Direktinvestitionen dagegen betrug lediglich 18 Milliarden Dollar“.

Mit anderen Worten: Das Problem liegt darin, dass zu wenig des im Export erwirtschafteten Geldes zurück nach Deutschland fließt und hierzulande investiert wird. Die Überschüsse gehen quasi als Kredit ins Ausland, erhöhen dort die Verschuldung und andererseits Jahr für Jahr Deutschlands Auslandsvermögen. Das deutsche Nettoauslandsvermögen betrug nach Angaben der Bundesbank Ende 2014 1,23 Billionen Euro, mehr als ein Drittel des BIP. Es wird dort zum geringsten in neue Arbeitsplätze investiert, wie die relativ niedrigen Direktinvestitionen zeigen, sondern im Finanz-Casino eingesetzt und verzockt.

Gefahr für den Welthandel

Aufgrund der Unruhestiftung auf den Märkten und den Reaktionen der Trump-Administration geht jetzt in den Außenhandels-Kontoren, aber auch in Berlin und Brüssel die Angst um. Der merkantile Störenfried befürchtet Sanktionen. „Deutsche Industrie fürchtet neue Zölle der USA“, fasst das ifo-Institut eine Umfrage unter 2700 Firmen zusammen (15.3.2017). „Demnach rechnen knapp 45 Prozent mit völlig neuen Zöllen und 36 Prozent mit der Erhöhung bestehender Zollschranken“. Mag sein, dass Trump zunächst den Fiskus als Handelskrieger vorschickt, mit einer Ausgleichssteuer. Das fiele unter die Rubrik „völlig neue Zölle“.

Das Grundprinzip der neuen Steuer ist einfach: Es handelt sich wie bei der Mehrwertsteuer um eine Grenzausgleichssteuer (siehe oben Punkt 3). Exporte sind befreit, Importe werden besteuert. Diesen Grenzausgleich bei der Mehrwertsteuer haben bislang nur die Europäer, nicht die USA vorgenommen.

Bei der geplanten US-Steuer, de facto eine Einfuhrsteuer, „wird die gesamte in Importen enthaltene ausländische Wertschöpfung besteuert. Wird ein Wirtschaftsgut exportiert, wird umgekehrt der gesamte Exportwert von der Bemessungsgrundlage der Steuer abgezogen. Die Produktion für den Export ist also völlig steuerfrei“ (HB, 14.3.17). Bei der herkömmlichen Unternehmensbesteuerung ist dagegen maßgebend, wo produziert wird. Mit dem neuen System gäbe es einen starken Anreiz, die Produktion nach den USA zu verlagern und von dort die Märkte zu beliefern.

Die Erfinder des neuen Steuerkonzepts Alan Auerbach (Berkley) und Michael Devereux (Oxford) räumen ein, dass handelspolitische Spannungen die Folge sein könnten: „Wenn die USA einseitig dieses System einführen, könnte man das als aggressiven Schritt im Steuerwettbewerb sehen“ (HB, 14.3.17). Und die Ökonomen Johannes Becker und Joachim Englisch schreiben im Wirtschaftsdienst: Das „Reformkonzept“ hat „bei unilateraler Implementierung das Potenzial, einen Handelskrieg auszulösen“ (ebenda).

In der Tat: Neue Zölle und Steuern, Sanktionen, Restriktionen, Embargos, … sind nicht nur Gifte für den globalen Handel. Sie bergen die Gefahr eines gegenseitigen Aufschaukelns, einer Eigendynamik bis zu einem Handelskrieg. Oder wie es der chinesische Staatspräsident Xi Jinping formulierte: „Protektionismus ist, als schließe man sich in einen dunklen Raum ein. Man ist geschützt vor Wind und Regen, aber auch isoliert von Luft und Licht“.

Deutschland müsste endlich Schritte zum Ausgleich des Welthandels unternehmen, wie von vielen Ökonomen gefordert. Es müsste den Binnenmarkt für staatliche und unternehmerische Investitionen wieder attraktiver machen, z.B. Investitionen in Bildung und Infrastruktur, Städtesanierung und Ausbau des öffentlichen Nah- und Fernverkehrs, in die digitale Infrastruktur, in regenerative Energiebetriebe und damit verbunden in die E-Mobilität.

Aber auch Maßnahmen zur Stärkung der Massenkaufkraft und damit des Binnenmarktes sind nötig: Kräftige Reallohnerhöhungen und von Seiten des Staates Erhöhung der Verdienste im Öffentlichen Dienst, Erhöhung des Mindestlohnes, Hartz-IV- und Rentenbezüge. Das alles würde den Binnenmarkt expandieren lassen und wieder attraktiv machen, auch für Importe und Investitionen aus dem Ausland. Exportüberschüsse sind kein Naturgesetz. Bis zur Einführung des Euros 1999 bzw. 2002 war die deutsche Handelsbilanz ausgeglichen. Es geht um eine Umpolung des exportgetriebenen deutschen Wirtschaftsmodells.

Handels- und Leistungsbilanz 2016 in Milliarden Euro
Außenhandel
1) Exporte 1.207,50
2) Importe 945.6
3) Außenhandelsbilanz 252.9
4) Ergänzungen zum Außenhandel 18,7
5) Warenhandel 3) + 4) 271,5
6) Dienstleistungen -28,3
7) Primäreinkommen (Grenzüberschreitende Zahlungen aus Erwerbstätigkeit: Zinsen, Dividenden, Gewinne u.a.) 63,2
8) Sekundäreinkommen: Übertragungen, z.B. Überweisungen der im Ausland arbeitenden Arbeitskräfte, Entwicklungshilfe, Zahlungen an EU und internationale Organisationen -40,5
9) Leistungsbilanz (5) + 6) + 7) + 8)) 266

 

 

Quelle: isw – Institut für sozial-ökologische Wirtschaftsforschung e.V.

Bild:dgb.de

Der Artikel erschien zuerst auf www.isw-muenchen.de und wird hier mit freundlicher Genehmigung gespiegelt.