Trotz guter Konjunktur: Rund 10 Prozent der Bevölkerung sind auf Grundsicherung angewiesen

In der Diskussion um die Situation der Essener Tafel (Aufnahmestopp für Nicht-Deutsche Hilfebedürftige) dürfen die Rahmenbedingungen des Konflikts nicht außer Acht gelassen werden: Die Gesellschaft ist durch eine anhaltende soziale Spaltung charakterisiert. Trotz guter Konjunktur, steigender Beschäftigungs- und rückläufiger Arbeitslosenzahlen sowie Überschüsse in den öffentlichen Haushalten verfügen nahezu 10 % der Bevölkerung über ein nur so niedriges Einkommen, dass sie Leistungen der Grundsicherung in Anspruch nehmen müssen.

Die staatlichen Leistungen der Grundsicherung (Regelbedarfe) sind dabei so niedrig angesetzt, dass immer mehr Menschen auf die zivilgesellschaftlichen Hilfen der Tafeln zurückgreifen müssen, deren Volumina aber begrenzt sind. Damit sind Verteilungskonflikte innerhalb der Gruppe der Hilfebedürftigen strukturell vorgezeichnet: Wer hat – so stellt sich inmitten einer Wohlstandsgesellschaft mittlerweile die Frage – Anspruch auf abgelaufene Lebensmittel.

Kurz gefasst:

  • Die staatlichen Leistungen der Grundsicherung (Regelbedarfe) sind dabei so niedrig angesetzt, dass immer mehr Menschen auf die zivilgesellschaftlichen Hilfen der Tafeln zurückgreifen müssen, deren Volumina aber begrenzt sind. Damit sind Verteilungskonflikte innerhalb der Gruppe der Hilfebedürftigen strukturell vorgezeichnet: Wer hat – so stellt sich inmitten einer Wohlstandsgesellschaft mittlerweile die Frage – Anspruch auf abgelaufene Lebensmittel?
  • Der bundesdeutsche Durchschnittswert von knapp 10 % der Bevölkerung verdeckt, dass es in vielen Regionen und Städten Deutschlands noch weit höhere Betroffenheiten von Grundsicherungsabhängigkeit und Armutslagen gibt. Dies gilt vor allem für Städte im Ruhrgebiet, an der Küste und in den neuen Bundesländern. So sind in der Stadt Essen (2016) 21,2 % der Bevölkerung als armutsgefährdet einzustufen, d.h. ihr (bedarfsgewichtetes) Einkommen liegt unterhalb von 60 % des bundesdeutschen Durchschnitts (Median). Darunter befinden sich mit wachsenden Zahlen und Anteilen Bürger ohne deutsche Staatsangehörigkeit.
  • Die weitaus größte Bedeutung bei den Grundsicherungsleistungen hat die Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II mit ihren Elementen Arbeitslosengeld II und Sozialgeld. Die bundesdurchschnittliche Empfängerquote von Leistungen nach dem SGB II – bezogen auf die Bevölkerung bis zu 65 Jahren – lag 2017 bei 9,3 %. In der Stadt Essen betrug die Empfängerquote (Oktober 2017) 20,4 %. Fast 40 % der erwerbsfähigen SGBII-Leistungsberechtigten in dieser Stadt sind Ausländer.
  • Die Empfängerquote der Grundsicherung in Prozent der Gesamtbevölkerung zeigt sich zwischen 2006 und 2012 lediglich leicht rückläufig. Da im gleichen Zeitraum die Zahl der Arbeitslosen deutlich zurückgegangen ist, muss diese Entwicklung der Grundsicherungsquote überraschen. Dies macht deutlich, dass ein wachsender Kreis der Empfänger von Leistungen nach dem SGBII nicht arbeitslos ist.
  • Seit 2013 ist ein Wiederanstieg sowohl der Empfängerzahlen als auch der Empfängerquoten von Grundsicherungsleistungen zu verzeichnen. Dies geht zurück auf den starken Zuwachs der Empfängerinnen und Empfänger von Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz im Zuge der Zuwanderung von Flüchtlingen. Im Jahr 2016 haben etwa 728.000 Personen Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz erhalten.
  • Aber auch die Struktur der Empfänger von Leistungen nach dem SGB II hat sich verschoben. Während die Abhängigkeit der deutschen Bevölkerung seit 2007 kontinuierlich sinkt – bis auf 6,4 Prozent im Jahr 2016 – zeigt sich bei der ausländischen Bevölkerung ein gegenläufiger Trend: Die Hilfequoten steigen und haben 2016 einen Wert von 17,7 % erreicht. Der Abstand zwischen der deutschen und der ausländischen Bevölkerung liegt 2016 bei 11,5 Prozentpunkten.

Hintergrund

Im Jahr 2016 mussten rund 7,9 Mio. Personen, das sind 9,5 % der Gesamtbevölkerung in Deutschland, Geldleistungen der Grundsicherung/ Mindestsicherung in Anspruch nehmen: Bei etwa jedem 10. Einwohner lag demnach das Einkommen – dazu zählen das Erwerbseinkommen und/oder Sozialeinkommen sowie private Unterhaltsleistungen – noch unterhalb des sozialkulturellen Existenzminimums und wurde aufgestockt. Die weitaus größte Bedeutung hat dabei die Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II mit ihren Elementen Arbeitslosengeld II und Sozialgeld. Die Empfängerquote von Leistungen nach dem SGB II – bezogen auf die Bevölkerung bis zu 65 Jahren – liegt 2017 bei 9,3 % (vgl. Abbildung III.61). Allerdings unterliegen die Empfängerquoten starken Schwankungen. In der Stadt Essen betrug die Empfängerquote (Oktober 2017) 20,4 % (vgl. Abbildung IV.72).

Leistungen der Grundsicherung müssen beantragt werden, als Prozessstatistik weisen die Daten deswegen auch nur all jene aus, die ihre Ansprüche geltend machen. Untersuchungen zeigen jedoch, dass viele Leistungsberechtigte – aus Unwissenheit, Scham oder anderen Gründen – von ihrem Anspruch keinen Gebrauch machen. Es existiert eine hohe „Dunkelziffer“ der Nicht-Inanspruchnahme. Insofern kann davon ausgegangen werden, dass der Kreis der Menschen, die aufgrund ihrer unzureichenden Einkommenslage hilfebedürftig sind, deutlich größer ausfällt, als dies in den Zahlen der Grundsicherungsstatistik zum Ausdruck kommt.

Die bundesdeutschen Durchschnittswerte verdecken zudem, dass es in vielen Regionen und Städten Deutschlands eine noch weit höhere Betroffenheit von Mindestsicherungsabhängigkeit und Armutslagen gibt. Dies gilt vor allem für Städte im Ruhrgebiet, an der Küste und in den neuen Bundesländern. So sind in der Stadt Essen (2016) 21,2 % der Bevölkerung als armutsgefährdet einzustufen, d.h. ihr (bedarfsgewichtetes) Einkommen liegt unterhalb von 60 % des bundesdeutschen Durchschnitts (Median) (vgl. Abbildung III.74).

Beobachtet man die Empfängerquote der Grundsicherung in Prozent der Gesamtbevölkerung im Zeitverlauf zeigt sich zwischen 2006 und 2012 lediglich ein leichter Rückgang. Dies liegt in erster Linie an der Entwicklung der ebenfalls leicht sinkenden Empfängerquoten der Leistungen nach dem SGB II. Allerdings ist im gleichen Zeitraum die Zahl der Arbeitslosen deutlich zurückgegangen, so dass diese Entwicklung der Grundsicherungsquote überraschen muss. Dies macht deutlich, dass ein wachsender Kreis der Empfänger von Leistungen nach dem SGBII nicht arbeitslos ist.

Seit 2013 ist ein Wiederanstieg sowohl der Empfängerzahlen als auch der Empfängerquoten von Grundsicherungsleistungen zu verzeichnen (mit einer Abflachung in 2016). Dies geht zurück auf den starken Zuwachses der Empfängerinnen und Empfänger von Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz im Zuge der Zuwanderung von Flüchtlingen. Hilfebedürftige Asylbewerber, Geduldete und Ausländer, die vollziehbar zur Ausreise verpflichtet sind, sowie die Ehepartner und Kinder der betroffenen Gruppen werden zur Sicherung ihres Lebensunterhalts auf das spezielle fürsorgerechtliche Leistungsgesetz, das Asylbewerberleistungsgesetz, verwiesen. Die Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz weichen in mehrfacher Hinsicht negativ von den Prinzipien und Ansprüchen ab, die die Sozialhilfe bzw. die Grundsicherung kennen.

Im Jahr 2016 haben etwa 728.000 Personen Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz erhalten. Abbildung III.83 lässt erkennen, dass die Zahl der Leistungsempfänger ab 2014 rapide gestiegen ist und sich im Jahr 2015 gegenüber 2014 um das 2,7fache erhöht hat. Die schwierigen politischen, ökonomischen und sozialen Verhältnisse in vielen Ländern der Welt und insbesondere die anhaltenden Bürgerkriege in Syrien, Libyen und Afghanistan sind hierfür eine zentrale Ursache. Durch die internationalen Flüchtlingsabkommen etwa mit der Türkei ist die Zahl der Leistungsempfänger im Jahr 2016 jedoch bereits wieder stark gesunken, für 2017 wird ein weiterer Rückgang erwartet.

Zugleich ist aber davon auszugehen, dass eine wachsende Zahl von Flüchtlingen berechtigt ist, Leistungen nach dem SGBII zu erhalten. Wird nämlich eine Asylberechtigung unanfechtbar anerkannt, besteht bei Vorliegen der übrigen Anspruchsvoraussetzungen ein Anspruch auf Arbeitslosengeld II bzw. für die Kinder auf Sozialgeld. Dies schlägt sich in der Grundsicherungsstatistik nieder (Abbildung III.63b): Während die Abhängigkeit der deutschen Bevölkerung von Leistungen nach dem SGBII deutlich unterhalb der Quote der ausländischen Bevölkerung liegt und seit 2007 kontinuierlich sinkt – bis auf 6,4 % im Jahr 2016 – zeigt sich bei der ausländischen Bevölkerung ein gegenläufiger Trend: Die Hilfequoten steigen und haben 2016 einen Wert von 17,7 % erreicht. Der Abstand zwischen der deutschen und der ausländischen Bevölkerung hat sich damit laufend vergrößert und liegt 2016 bei 11,5 Prozentpunkten. Betrachtet man die Struktur der erwerbsfähigen Leistungsberechtigten (also ohne die Kinder) näher, so stellen im August 2017 die Ausländer 34,2 % der Leistungsberechtigten (darunter 14,5 % aus den nichteuropäischen Asylherkunftsländern). In Essen waren es 38,9 %.

Armutsrisiken und Staatsangehörigkeit/Migrationshintergrund

Bei der Betrachtung der Armutsrisikoquoten zeigt sich, dass Personen ohne deutsche Staatsbürgerschaft mit 35,5 % (2016) ein außerordentlich hohes Armutsrisiko aufweisen. Die Quote liegt knapp dreimal so hoch wie die Quote der deutschen Bevölkerung. Auch wenn nach dem Migrationshintergrund gefragt wird, zeigt sich eine große Betroffenheit. Allerdings liegen die Armutsrisikoquoten der Bevölkerung mit Migrationshintergrund mit 28 % (2016) deutlich niedriger als die der ausländischen Bevölkerung (vgl. Abbildung III.28). Auffällig ist des Weiteren, dass die Armutsrisikoquoten der Bevölkerung ohne deutsche Staatsangehörigkeit sowie der Bevölkerung mit Migrationshintergrund seit 2011/2012 kontinuierlich ansteigen, während bei der deutschen Bevölkerung bzw. der Bevölkerung ohne Migrationshintergrund ein leichter Rückgang zu verzeichnen ist.

Die Ursachen für die hohe Armutsbetroffenheit von Ausländern wie auch von Personen mit Migrationshintergrund sind vielschichtig:

– Soweit die Betroffenen erwerbstätig sind, weisen sie unterdurchschnittliche Verdienste auf. Das liegt an der im Schnitt geringeren schulischen und beruflichen Qualifikation (teils auch an der fehlenden Anerkennung der Abschlüsse aus anderen Ländern), an der Konzentration der Erwerbstätigkeit auf Niedriglohnbranchen und -berufe sowie auf prekäre Beschäftigungsverhältnisse, an dem späteren Einstiegsalter in die Berufstätigkeit, versperrten Aufstiegschancen und – last but not least – an Formen der offenen und versteckten Diskriminierung. – Arbeitslosigkeit und Nichterwerbstätigkeit (insbesondere der Ehefrauen) fallen überdurchschnittlich hoch aus.

– Flüchtlinge, Schutzsuchende und Asylbewerber dürfen – soweit sie Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz beziehen – im Grundsatz keine Erwerbstätigkeit aufnehmen.

Die starke Zunahme des Armutsrisikos in den Jahren 2015 und 2016 liegt vor allem daran, dass die im Zuge der Flüchtlingsbewegung jüngst Zugewanderten einen wachsenden Anteil an der ausländischen Bevölkerung bzw. der Bevölkerung mit Migrationshintergrund in Deutschland ausmachen und in der Mehrheit unter der Armutsgrenze leben. Als Beispiele seien hier die aus Syrien und dem Irak nach Deutschland Eingewanderten genannt, deren Armutsquoten aktuell bei 81,9 % (Syrer) bzw. 70,2 % (Iraker) liegen. (Seils, E.; Höhne, J. (2017a): Armut und Einwanderung, Armutsrisiken nach Migrationsstatus und Alter – Eine Kurzauswertung aktueller Daten auf Basis des Mikrozensus 2016, Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Institut, WSI Policy Brief, Nr. 12.).

Methodische Hinweise

Die Daten entstammen zum einen aus Statistiken des Statistischen Bundesamtes, der Sozialhilfestatistik, der Statistik der Leistungen an Asylbewerber und zum anderen aus der Grundsicherungsstatistik der Bundesagentur für Arbeit. Insgesamt handelt es sich um prozessgenerierte Daten der jeweiligen Verwaltungen, die damit Vollerhebungen entsprechen. Zu den Leistungen der Grundsicherung gehören (vgl. Abbildung III.53):  – die Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II),  – die Hilfe zum Lebensunterhalt außerhalb von Einrichtungen (SGB XII),  – die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung (SGB XII)  – und die Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz 

Die Leistungen der Kriegsopferfürsorge (2014: noch etwa 29 Tausend Empfängerinnen und Empfänger) werden nicht mehr berücksichtigt.  Nach der Zuordnung des Statistischen Bundesamtes zählt auch das Wohngeld nicht zur Grundsicherung. 2016 bezogen etwa 600.000 Haushalte (die Zahl der betroffenen Personen liegt höher!) Wohngeld (vgl. Abbildung III.45).

 

 

 

Quelle: Sozialpolitik aktuell [PDF]

Grafik: sozialpolitik.de

Der Artikel erschien auf sozialpolitik.de und wird hier mit freundlicher Genehmigung gespiegelt