Simone de Beauvoir: „Das Blut der anderen“ – Der Krieg veränderte alles

Den Zweiten Weltkrieg erlebte Simone de Beauvoir im von den Deutschen besetzten Paris. War sie bis dahin unpolitisch und auf die eigene Freiheit bedacht gewesen, so bewirkte der Krieg ein Umdenken: De Beauvoir fühlte sich nun auch für andere Menschen verantwortlich.

Ihr Roman „Le Sang des Autres“ („Das Blut der anderen“) erschien 1945. Darin erzählt de Beauvoir die Geschichte von zwei Widerstandskämpfern und zeigt, dass persönliche Freiheit auch Verantwortung für andere bedeutet.

Für Simone de Beauvoir war die persönliche Freiheit nun untrennbar mit einer gesamtgesellschaftlichen Verantwortung verbunden. Keine Freiheit ohne gesellschaftliches Engagement. Damit wurde Simone de Beauvoir Vorbild für politische Aktivistinnen und Aktivisten weit über Frankreich hinaus.

Simone de Beauvoirs Roman „Das Blut der anderen“ spielt zur Zeit der Résistance, der französischen Widerstandsbewegung im Zweiten Weltkrieg. Doch er dreht sich nicht nur um den Kampf gegen die deutsche Fremdherrschaft, sondern war er auch ein Wendepunkt in de Beauvoirs persönlichem Freiheitskampf.

Kapitel 1: Kein Tag wie jeder andere

Simone de Beauvoir hat an diesem Morgen richtig gute Laune. Trotz der beunruhigenden Nachrichten aus Berlin, wo Adolf Hitler an die Macht gekommen war und auch in Paris breitet sich spürbar Verunsicherung aus. De Beauvoir hat sich gerade eine Tasse Schokolade im Café Le Dôme bestellt, als der Kellner aufgeregt verkündet: Deutschland hat Polen den Krieg erklärt! Er hat es von einem Gast erfahren, der es wiederum aus der Zeitung weiß. Mit einem Mal sind alle auf den Beinen: Die einen stürzen sich auf den Gast mit der Zeitung, die anderen hasten auf die Straße und zu den Kiosken. Wer an diesem Septembermorgen eine Ausgabe der „Paris-Midi“ ergattert hat, wird sofort von Menschen umringt: Jeder will die Schlagzeile mit eigenen Augen sehen. Seufzend lehnt sich Simone de Beauvoir auf ihrem Stuhl zurück. Nun ist es also soweit. Es ist Krieg.

Kapitel 2: Weiterleben, irgendwie

Nach Hitlers Angriff am 1. September 1939 auf Polen geht alles Schlag auf Schlag: Nur zwei Tage später erklärt Frankreich Nazi-Deutschland den Krieg – und wie Tausende anderer Franzosen wird auch Simone de Beauvoirs Lebensgefährte Jean-Paul Sartre zum Kriegsdienst eingezogen. Es ist früher Morgen, als sie Sartre zum Zug nach Nancy bringt. Aufgewühlt beobachtet sie, wie der kleine Mann in Soldatenkluft sich von ihr entfernt. Als er aus ihrem Blickfeld verschwindet, läuft sie los. Solange sie läuft, denkt sie, wird es schon irgendwie weitergehen. Solange sie läuft, wird sie mit der Situation klarkommen …

Fast täglich schreiben De Beauvoir und Sartre sich nun Briefe. Sartre leistet seinen Dienst auf einer Wetterbeobachtungsstation, er hat also noch Glück im Unglück. Ganz anders als Simones aktueller Liebhaber, der Journalist Jacques-Laurent Bost, der an der Front stationiert ist. De Beauvoir kommt fast um vor Sorge. Und dann, am 14. Juni 1940, marschiert auch noch die deutsche Wehrmacht in Paris ein. Von nun an weht dort die Hakenkreuzfahne, und die Cafés sind voller deutscher Soldaten. Trotzdem versucht Simone de Beauvoir, ihr bisheriges Leben irgendwie aufrechtzuerhalten. Gar nicht so leicht, denn Nahrungsmittel sind oft knapp und Luxuswaren wie Wein oder Seife stark rationiert. Weil sie kein warmes Wasser hat, versteckt sie ihre fettigen Haare unter einem Turban, der schließlich zu ihrem Markenzeichen werden wird.

Kapitel 3: Eine Frage der Verantwortung

Den Faschismus der Deutschen lehnt Simone de Beauvoir aus tiefster Überzeugung ab. Aktiven Widerstand hat sie bisher nicht geleistet. Bis vor kurzem war sie noch unpolitisch. Sartre und sie fühlten sich nur sich selbst verpflichtet, ihr Lebensprinzip bestand in radikaler Freiheit. Und warum auch nicht? Sie waren jung, und ihr Leben verlief genau so, wie sie es sich vorstellten. Jetzt aber herrscht Krieg – und de Beauvoir erkennt, wie naiv und bequem ihre Haltung war. An Sartre schreibt sie: „Ich weiß wohl, dass wir nichts tun konnten, aber immerhin gehören wir zu der Generation, die es hat geschehen lassen.“ Schuldgefühle quälen sie, und zum ersten Mal denkt sie darüber nach, was ihr Nichthandeln für andere bedeutet. Diesen Gedanken verarbeitet sie schließlich in ihrem zweiten Roman, der kurz nach Kriegsende erscheint: In „Das Blut der anderen“ (Originaltitel „Le Sang des Autres“) fragt sie nach der Freiheit des Einzelnen und nach der Verantwortung, die diese Freiheit mit sich bringt.

Der Roman beginnt damit, dass der Antifaschist Jean Blomart am Bett seiner sterbenden Geliebten wacht. Hélène wurde bei einer Aktion der französischen Widerstandsbewegung Résistance tödlich verletzt. Von Gewissenskonflikten geplagt, denkt Jean über sich und seinen Lebensweg nach: Darüber, wie ein Sohn aus wohlhabendem Elternhaus zum Kommunisten und Widerstandskämpfer wurde. Er erinnert sich daran, wie er Hélène kennengelernt hat, wie kompliziert ihre Beziehung oft war. Hélène ist immer eine Einzelkämpferin gewesen, hat das gemacht, was sie wollte. Jean hingegen fühlt sich als Teil des Kollektivs und hat stets versucht, Verantwortung für andere zu übernehmen. Diese Haltung hat er Hélène so erklärt: „Ich habe irgendwann einmal gelesen: Jeder Mensch ist für alles und vor allen verantwortlich. Das scheint mir sehr wahr zu sein.“ Hélène sah das anfangs ganz anders. Doch durch Jean und ihre Liebe zu ihm hat sich ihr Denken verändert… Hélène schloss sich der Widerstandsbewegung gegen die Nazis an – und opferte sogar ihr Leben.

Kapitel 4: Der moralische Kompass

Das tragische Roman-Ende hatte großen Einfluss darauf, wie „Das Blut der anderen“ von der Leserschaft wahrgenommen wurde: nämlich als Roman der Widerstandsbewegung. Simone de Beauvoir ging es aber um mehr. Sie wollte zeigen, dass sich auch Nichthandeln auf andere Menschen auswirkt. Wer also auf seine eigene Freiheit pocht, davon war Beauvoir inzwischen überzeugt, der trägt nicht nur Verantwortung für sich, sondern auch für andere, ja, letztlich für die ganze Gesellschaft.

Persönliche Freiheit in einer unfreien Gesellschaft konnte es nicht geben. Wer es also mit der Freiheit ernst meinte, der musste sich für all jene einsetzen und engagieren, die nicht frei sein konnten oder durften. Und zwar gerade dann, wenn man glaubt, als Einzelner nichts ausrichten zu können. In De Beauvoirs Roman „Das Blut der anderen“ drückt die Hauptfigur Jean Blomart das so aus: „Natürlich kann man nie etwas ändern, wenn man glaubt, man sei nur eine Ameise in einem riesigen Ameisenhaufen.“

Es ist typisch für Simone de Beauvoir, dass auch dieses Belletristik-Werk philosophische Fragen aufwirft; auch hier war ihr Denken geprägt vom Existentialismus. Wir erinnern uns: Der Existentialismus besagt, dass der Mensch ist, wozu er sich selbst macht. Er definiert sich durch seine Handlungen – völlig frei und selbstbestimmt. Handelt er aber nicht, mischt er sich also nicht ein, ist auch das seine freie Entscheidung. Auch dafür muss er die Verantwortung übernehmen. Der Mensch ist also nicht nur verantwortlich für das, was er aus freien Stücken macht, sondern auch für das, was er unterlässt.

Diese Gedanken verarbeitet De Beauvoir in ihrem Roman. Ihre Romanhelden leisten Widerstand gegen die deutsche Besatzung. Sich nicht einzumischen, das ist für sie – vor dem Hintergrund des Krieges – keine Option. Tatsächlich markiert „Das Blut der anderen“ den Beginn von dem, was Simone de Beauvoir selbst ihre „moralische Periode“ genannt hat. Unter dem Eindruck des Krieges suchte sie nach einem moralischen Kompass für das eigene Leben, nach einer Philosophie, die Orientierung bot. Der Krieg zwang de Beauvoir, Stellung zu beziehen, und machte sie zu einem Menschen mit Gewissensbissen und politischem Bewusstsein – zu einem Menschen, der sich engagiert.

Ja, Simone de Beauvoir sollte sich noch für vieles engagieren. Ganz besonders aber für die Anliegen der Frauen.

 

 

 

 

 

Quelle: get-yuno.com / cco
Bild: Von Karl Maria Stadler Public domain