Pädagogin, Aktivistin, Abolition-Feministin – Angela Davis zum 80. Geburtstag

Von Volkmar Schöneburg

Ich war 12 Jahre alt, da schickte ich wie Tausende andere eine Postkarte in die USA. Adressiert war sie an die Afroamerikanerin Angela Davis, inhaftiert in einem Frauengefängnis. Die mit einer roten Rose verzierte Postkarte war Bestandteil einer im Januar 1971 anlässlich ihres Geburtstags initiierten Solidaritätsaktion unter dem Motto „Eine Million Rosen für Angela Davis“.[2]

Angela Davis wurde am 26. Januar 1944 in Birmingham, Alabama geboren. In der Stadt herrschte eine rassistische Apartheid, die die afroamerikanische Bevölkerung einer rigiden Praxis der Rassendiskriminierung und Segregation unterwarf. Gewalt und Lynchjustiz zählten zum Alltag. Der Stadtteil, in dem Angelas Familie wohnte, erhielt aufgrund der Bombenanschläge, die der Klu Klux Klan auf die Häuser afroamerikanischer Familien verübte, den Namen „Dynamite Hill“. Begleitet wurde dieser Rassismus durch einen regional spezifischen Antikommunismus. Diese Verhältnisse prägten neben den politischen Aktivismus ihrer Eltern die junge Angela.

Mit 15 Jahren zog sie nach New York, wo sie auf Beschluss ihrer Familie ihren High-School-Abschluss machen sollte. In diese Zeit fällt auch ihre erstmalige Lektüre des „Kommunistischen Manifests“. Aus der marxistischen Klassenkampflehre erschloss sich für Davis ein theoretischer Bezug zur rassistischen Unterdrückung, wie sie sie in den USA erlebte.[3] 1961 begann sie ihr Französischstudium. Zwei Jahre später ging sie für ein Auslandsjahr an die Pariser Sorbonne. Zurück in den USA besuchte Davis Vorlesungen von Herbert Marcuse, der sich selbst als Marxist und den Marxismus als kritische Theorie sah. Marcuse avancierte nun zu Angelas intellektuellem Mentor. Seinem Einfluss ist es zu verdanken, dass Davis, um Kant, Hegel und Marx besser zu verstehen, 1965 ein Philosophiestudium am Frankfurter Institut für Sozialforschung aufnahm. In jener Zeit besuchte sie auch mehrfach die DDR, u. a., um sich die Marx/Engels Werkausgabe zu kaufen. In Frankfurt hingegen diente ihr die studentische Protestbewegung als Inspirationsquelle bei der Formulierung einer praxisorientierten internationalistischen Kritik am kapitalistischen System und US-Imperialismus. Zurück in den USA beteiligte sich Angela Davis direkt an der Black Power-Bewegung, in der es aber auch ideologische Differenzen und reichlich politische Konflikte gab. 1968 wurde Davis Mitglied in der Kommunistische Partei der USA. Hier stand sie für ein Bündnis mit neuen radikalen linken Gruppen. In der Form klassischer Graswurzelaktivitäten fand so die Zusammenarbeit mit der Black Panther Party statt. 1969 trat Davis als eine der ersten Afroamerikanerinnen die Stelle einer Associate Professor an der University of California, Los Angeles an. Wegen ihrer politischen Aktivitäten wurde sie sofort medial scharf angegriffen. Sogar der Gouverneur Kaliforniens, Ronald Reagan, später Präsident der USA, sagte ihr den Kampf an. Denn Angela Davis verkörperte gleich mehrere Feindbilder des konservativen Amerikas: Kommunistin, Black Power-Aktivistin, schwarze Feministin und Gegnerin des Vietnamkriegs! Damit war sie geradezu prädestiniert für die Rolle der Hassfigur der herrschenden weißen Eliten.

1970 engagierte sich Davis im Fall der Soledad Brothers, worunter drei afroamerikanische Gefangene des kalifornischen Gefängnisses Soledad firmierten, die wegen eines angeblichen Mordes an einem Wärter angeklagt worden waren. Unter ihnen befand sich mit George Jackson eine Leitfigur des Widerstands der Black Panther in den US-amerikanischen Gefängnissen. Unterstützer der Soledad Brothers waren neben Davis u. a. Jane Fonda, Pete Seeger, Marlon Brando und Noam Chomsky, für die es hier um politische Gefangene und politische Justiz ging. Während einer Gerichtsverhandlung kam es zu einer missglückten Befreiungsaktion. Da dabei mitgeführte Waffen auf den Namen von Angela Davis registriert waren, wurde sie im August 1970 auf die FBI-Liste der zehn meist gesuchten Verbrecher der USA gesetzt. Am 13. Oktober 1970 erfolgte die Verhaftung. Vor laufender Kamera beglückwünschte Präsident Nixon FBI-Chef Hoover zu ihrer Festnahme. Es folgte eine beispiellose öffentliche Vorverurteilung. Zugleich erhob sich ein nationaler und internationaler Protest gegen das Vorgehen des Staates gegen die Black Power-Aktivistin. Aretha Franklin, die Soulkönigin, erklärte sich bereit, die Kaution für eine Entlassung aus der U-Haft zu übernehmen. Franz Josef Degenhardt, John Lennon und die Rolling Stones widmeten der politischen Gefangenen jeweils einen Song. Doch ein Großteil der Medien stilisierte Angela Davis noch vor Anklageerhebung zum Inbegriff des gewaltsamen Staatsfeinds. Die Anklage warf ihr Mord, Geiselnahme und „Verschwörung“ vor, weshalb ihr bei einer Verurteilung in Kalifornien die Todesstrafe durch die Gaskammer drohte.[4] Im März 1972 begann der Prozess.[5] Auf der Geschworenenbank saß kein Schwarzer. Der Prozess endete trotz des unzweifelhaft vorhandenen institutionellen Rassismus in der Justiz im Juni 1972 mit einem Freispruch. Dazu beigetragen hat die einzigartige, weltweite Solidaritätsbewegung, zu der die Postkartenaktion zählte. Angela Davis sieht deshalb Bilder dieser Kampagne „als symbolisch dafür, die Macht der Vielen zu nutzen und das zu erreichen, was damals als unmöglich galt.“[6]

Es war für den nun Vierzehnjährigen Postkartenschreiber ein erhebendes Gefühl,Teil der erfolgreichen „Free Angela“-Bewegung gewesen zu sein. Angela Davis stand mit dem Vietnamkrieg und dem Sturz der Regierung der Unidad Popular in Chile am Beginn meiner Politisierung. Sie war von nun an für mich, den Sportfan, neben Tommie Smith, John Carlos[7] sowie Muhammad Ali alias Cassius Clay eine Symbolfigur für Black Power und Antirassismus.

Erst in den letzten Jahren rückte Angela Davis wieder in mein Blickfeld. Wissenschaftlich vertrete ich eine strafrechtskritische Position. Diese kollidiert nicht selten mit Auffassungen in der LINKEN oder auch in den „neuen sozialen Bewegungen“, die eine alternative Kriminalisierung fordern. Eine solche Erfahrung machte ich 1997, als ich im Auftrag der Bundestagsgruppe der PDS einen Gesetzentwurf[8] zur Entkriminalisierung des Strafrechts in der Gruppe zur Diskussion stellte. Entkriminalisierung schön und gut, aber bei sexualisierter Gewalt müsse das Strafrecht verschärft werden, war da eine Haltung. Auch die Vorverlagerung des Sexualstrafrechts auf das „Grabschen“ nach den Vorkommnissen in der Silvesternacht 2015 in Köln und die kürzlich vom Bundestag beschlossene Strafschärfung bei „geschlechterspezifischer“ und „gegen die sexuelle Orientierung“ gerichteter Gewalt wurden teilweise von der politischen Linken mit Beifall bedacht.

Gegen diese „atypischen Moralunternehmer“ (Sebastian Scheerer) kam mir quasi Angela Davis die unmittelbar nach ihrem Freispruch Fragen der rassistischen und politischen Unterdrückung im Kontext des Knastsystems in das Zentrum ihrer Arbeit stellte, intellektuell zu Hilfe. Sie entwickelte sich zu einer bedeutenden Theoretikerin des Gefängnis-Abolitionismus, also einer Bewegung, die die Abschaffung der Gefängnisse fordert. Nach Angela Davis Auffassung[9] hat die Käfighaltung von Menschen ihr vermeintliches Ziel der Resozialisierung/Besserung der Inhaftierten verfehlt. Die in den 80er Jahren in den USA beginnenden „Masseneinkerkerungen“ haben sich so gut wie gar nicht auf die Kriminalitätsrate ausgewirkt. Deshalb fragt Davis nach der wirtschaftlichen, politischen und ideologischen Rolle der Gefängnisse.[10] Folgerichtig stellt sie die neue „Lust am Strafen“ in den Kontext der globalen Entwicklung des Kapitalismus, der Deindustrialisierung der US-Wirtschaft und der Ausprägung des Neoliberalismus. So bestimmen in erster Linie Klassenzugehörigkeit und Rassismus – etwa 70% der etwa 2,5 Millionen Gefangenen in den USA sind people of color – wer in den Knast kommt. Die Institution Gefängnis diene als Lagerstätte für Menschen, die ihrerseits große soziale Probleme widerspiegeln. Es verwalte den Auswurf der kapitalistischen Gesellschaft.[11] Zudem ist das Gefängnis durch seine zunehmende Privatisierung und durch das Outsourcen von Dienstleistungen an Privatkonzerne ein gewaltiges Profitgeschäft. Umso größer die Gefangenenpopulation, desto größer die Profitrate. Insofern spricht Angela Davis auch von einem „gefängnisindustriellen Komplex“, um die Verflechtung von Einsperrung und Kapitalismus hervorzuheben. Außerdem ist mit dem Strafrecht eine Individualisierung sozialer Probleme verknüpft. Der Ruf nach einem Mehr an Freiheitsstrafen ist damit zugleich ein Ausblendungsmechanismus für tieferliegende Probleme – Rassismus, Verarmung, Arbeitslosigkeit, Bildungsmangel, fehlende Gesundheitsfürsorge.[12] Das entlastet wiederum die Politik, strukturelle Lösungen für sozioökonomische Probleme zu finden. Vielmehr nutzt sie die in der Gesellschaft tief verwurzelten Ideologien zu Verbrechen und Strafe, um mit einer Law and Order-Politik Wahlkämpfe zu gewinnen.

Von dieser grundsätzlichen Position aus kritisiert Angela Davis den meist von weißen Frauen aus der Mittelschicht praktizierten „Strafrechtsfeminismus“, nach dem die Strafverfolgung und die Inhaftierung Hauptlösungen beim Kampf gegen sexualisierte Gewalt sind.[13] Der „Strafrechtsfeminismus“ verkennt zweierlei: Erstens. Knäste sind ihrer Struktur nach totale Institutionen. Der Vollzug einer Freiheitsstrafe ist durch eine isolierte Existenz, durch autoritäre Regeln, Gewalt, Rechtlosigkeit und eine Verletzung der Menschenrechte charakterisiert. Gefängnisse produzieren Gewalt. Zweitens. Mit seinen Forderungen trägt der „Strafrechtsfeminismus“ allgemein zur Legitimation der staatlichen Strafe bei.

Angela Davis dagegen, gespeist aus ihrer eigenen Knasterfahrung und ihren theoretischen, staatskritischen Erkenntnissen, durchbricht die auch bei den Linken verbreitete unheilige Symbiose von sozialen Unwerturteilen und Strafjustizsystem. Sie hält eine Gesellschaft ohne Gefängnisse für realistisch – „allerdings in einer neugestalteten Gesellschaft, in der nicht Profite, sondern menschliche Bedürfnisse die Triebfeder sind.“[14] Um diese Vision Wirklichkeit werden zu lassen, ist Angela Davis in vielfältigen Initiativen aktiv. Besonders hervorzuheben ist die Konferenz Critical Résistance: Beyond the Prison Industrial Complex von 1998.[15] Hier findet man die für Davis und den Abolitionismus typische Verknüpfung von Theorie und Bewegungen, die die Machtstrukturen von unten aufbrechen sollen. Für Angela Davis sind das Bewegungen in „Richtung Sozialismus“[16]. Der reale, 1989/90 untergegangen Staatssozialismus war jedoch von ihrer Vision von der Abschaffung der Gefängnisse weit entfernt. Aber eine einseitige Verteufelung liegt Davis, die 1991 aus der Kommunistischen Partei austrat, sich aber weiter Kommunistin nannte, nicht. Ihre Sorge ist, dass Errungenschaften des sich real nennenden Sozialismus wie eine kostenlose Gesundheitsversorgung und Kinderbetreuung, der Bruch des Bildungsprivilegs oder die Stellung der Frau vergessen werden. Aber wenn der nur an Profit interessierte Kapitalismus die Zukunft des Planeten ist, werden wir keinen Planeten mehr haben. Für eine bessere Zukunft sind die widersprüchlichen Erfahrungen des Staatssozialismus konstitutiv.[17]

Man kann bei Angela Davis, der es immer um soziale Gerechtigkeit geht, viele Anregungen gewinnen – hinsichtlich außergerichtlicher Konfliktlösungen als Alternativen zum staatlichen Strafen (Restorative Juctice, Wahrheitskommission in Südafrika), zur Polizeikritik oder zum Befreiungskampf der Palästinenser. Mich haben ihre Erkenntnisse in meiner abolitionistischen Grundhaltung bezüglich der Gefängnisse bestärkt.

Was man von Angela Davis noch lernen kann ist das Zusammendenken unterschiedlicher Dimensionen von Unterdrückung – speziell von race, class und gender. Ihr Ansatz heißt Intersektionalität.[18] Eine unsägliche Gegenüberstellung von Klassen- und „Identitätspolitik“, die hierzulande gerade eine linke Partei zerlegt, ist mit Angela Davis nicht zu machen.

 

Anmerkungen:

[1] So bezeichnete sich Angela Davis selbst in einem Interview am 1. Oktober 2019 mit René Guzman.

[2] Vgl. Sophie Lorenz, „Schwarze Schwester Angela“ – Die DDR und Angela Davis, Bielefeld 2020, S. 190 ff.

[3] Vgl. ebenda, S. 111; zur Auseinandersetzung afroamerikanischer Intellektueller mit dem Marxismus vgl. Cedric J. Robinson, Black Marxism. The Making of the Black Radical Tradition, Chapel Hill 2000.

[4] Im April 1972 hob der Oberste Gerichtshof des Staates Kalifornien das Gesetz zur Verhängung der Todesstrafe als verfassungswidrig auf, was wohl auch dem internationalen Druck geschuldet war. 1977 wurde sie wieder eingeführt.

[5] Vgl. zum Prozess Klaus Steiniger Angela Davis. Eine Frau schreibt Geschichte, Berlin 2010. Steiniger, Journalist aus der DDR, war einer der etwa 500 akkreditierten Medienvertreter aus dem In- und Ausland, die über den Prozess berichteten.

[6] So Davis im Gespräch mit Guzman.

[7] Tommie Smith und John Carlos erhoben bei der olympischen Siegerehrung 1968 in Mexiko zum 200-Meter-Lauf die Faust zum Black-Power-Gruß.

[8] Vgl. BT-Drucksache 13/10272.

[9] Vgl. dazu die Beiträge von Davis („Gefängnisreform oder Abschaffung des Gefängnisses?“ und „Strategien zur Abschaffung des Gefängnisses“) in: Daniel Loick/Vanessa E. Thompson, Abolitionismus. Ein Reader, Berlin 2022, S. 127 ff; 504 ff.

[10] Vgl. Angela Davis, Freiheit ist ein ständiger Kampf, Münster 2022 (erste Auflage 2016), S. 38.

[11] Vgl. ebenda, S. 118 f.

[12] Vgl. Angela Davis, Freiheit ist ein ständiger Kampf, a. a. O., S. 20.

[13] Vgl. Angela Y. Davis /Gina Dent/Erica R. Meiners/Beth E. Richie, Abolitionismus. Feminismus. Jetzt. Eine intersektionale Intervention, Münster 2023, S. 117 ff.

[14] Angela Davis, Freiheit ist ein ständiger Kampf, a. a. O., S. 20.

[15] Vgl. Abolitionismus. Feminismus. Jetzt., a. a. O., S. 45 f.

[16] Angela Davis, Freiheit ist ein ständiger Kampf, a. a. O., S. 20.

[17] So Angela Davis in dem Interview mit Guzman.

[18] Vgl. Angela Davis, Freiheit ist ein ständiger Kampf, a. a. O., S. 32 f., 41.

 

 

 

 

 

Der Beitrag erschien in Marxistische Blätter 1_­2024 und wird mit freundlicher Genehmigung der Redaktion hier gespiegelt.
Bildbearbeitung: L.N.