Der stille Abschied der SPD und ver.di von der Bürgerversicherung

Die Bürgerversicherung sollte eigentlich mit dazu beitragen, das Chaos in der Krankenversicherung zu ordnen und die Gesundheitspolitik etwas gerechter zu machen. Sie sollte die allgemeine Krankenversicherungspflicht in der gesetzlichen solidarischen Krankenversicherung sein und allen Bürgern den gleichen Leistungsanspruch unabhängig von ihrem Einkommen bieten. Zur Finanzierung würden alle Einkommen und alle Einkommensarten für die Versicherung herangezogen und die Beitragsbemessungsgrenzen wegfallen. Dadurch könnten die Gewerkschaften auch die Verteilungsdebatte neu ankurbeln, doch der DGB ziert sich derzeit, die Beitragsbemessungsgrenze abzuschaffen, er zieht nicht einmal eine Anhebung der Grenze in Erwägung.

Nicht nur der DGB, auch die SPD und die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di rücken von der früher favorisierten Bürgerversicherung ab und lassen damit diese Idee klammheimlich sterben. 

In den nächsten Jahren bleibt es beim Nebeneinander der Privaten Krankenversicherungen (PKV) und der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV), weil es derzeit keine sozialpolitische Kräfte gibt, die Alternativen beim Krankenversicherungsschutz aufzeigen.

Privaten Krankenversicherungen (PKV)

Das Geschäftsmodell der PKV ist recht einfach, die Versicherer gehen von der Summe aus, die ihre Versicherten pro Jahr im Schnitt als Leistung in Anspruch nehmen. Naturgemäß ist diese Summe vor allem vom Alter des Versicherten abhängig und jüngere Versicherte nehmen nun einmal relativ selten Leistungen der Krankenversicherung in Anspruch, ältere Menschen entsprechend öfter. Besonders der Zeitraum um die letzten vier Monate vor dem Tod machen einen Großteil der insgesamt anfallenden Leistungen aus der Krankenversicherung aus. Da es in der PKV, anders als im gesetzlichen Krankenversicherungssystem keine Umlage gibt, muss rechnerisch jeder Versicherte sich selbst finanziell versichern.

In den jüngeren Lebensjahren, in denen die Leistungen naturgemäß im Schnitt deutlich niedriger als die Beiträge ausfallen, fließt die Differenz aus Beiträgen und Leistungen in den Kapitalstock der Versicherung hinein, so wie bei einer klassischen Lebensversicherung. Dieser Kapitalstock wird am Finanzmarkt angelegt und soll durch die Zinsgewinne wachsen.

Wenn im Alter die individuell in Anspruch genommenen Leistungen naturgemäß höher  als die Beiträge sind, wird die Differenz aus diesem Kapitalstock ausbezahlt, der im idealen Kalkulationsfall am Todestag aufgebraucht ist. Soweit die Theorie.

Die Systemfehler im PKV-System waren früher schon deutlich geworden, auch in den Zeiten mit einem normalen Zinsumfeld. Zwischen 2000 und 2015 stiegen die Beiträge der PKV durchschnittlich um 3,5 Prozent jährlich. Aktuell liegen die Beitragssteigerungen bei durchschnittlich 4,1 Prozent, wobei in Einzelfällen Erhöhungen über 15 Prozent für die sogenannten Bestandskunden keine Seltenheit sind. Um diese Steigerungen abzufangen, müssten die Versicherer 7,75 Prozent Zinsgewinne d.h. 2,75 Prozent Kalkulationszins plus 5 Prozent Kostensteigerungen erzielen, um langfristig beitragsneutral zu bleiben.

Damit haben viele privatversicherte Menschen zunehmend Probleme.

Nicht nur die prekären Selbstständigen, die sich nur geringfügig privatversichern, weil sie Kosten  bei ihrer Selbständigkeit sparen müssen, rutschen dann schnell in die „Notversicherung“ hinein, die aber auch nur die Notversorgung abdeckt, sondern auch die früheren Besserverdiener müssen sich im Alter intensiv einschränken, da monatliche Beiträge zur PKV schnell einmal 1.500 Euro und mehr betragen.

Aktuell sind mehr als einhunderttausend PKV-Versicherte nur noch notversichert, da sie ihre regelmäßigen Beiträge nicht mehr bezahlen. Diese Menschen sitzen in der Notversorgung durch die PKV fest, wenn sie nicht über den Bezug von Hartz-IV oder eine Rückkehr in ein sozialpflichtiges Beschäftigungsverhältnis zurück ins GKV-System finden.

Es wird so sein, dass den privaten Krankenversicherungen schon in Kürze das Geld ausgehen wird, wenn sich keine überraschende Wende am Zinsmarkt ereignen sollte. Wenn das private Versicherungssystem keine ausreichenden Altersrückstellungen aufbaut, gibt es entweder eine riesige Einschränkung der Leistungen und es muss die Kostenseite herunterfahren. Oder aber die Versicherer schrauben die Beitragssätze noch weiter in die Höhe, um auf der Einnahmenseite die Defizite in den Griff zu bekommen.

Es ist sogar wahrscheinlich, dass in naher Zukunft die ersten privaten Krankenversicherungen ihre Zahlungsunfähigkeit erklären und in die Insolvenz gehen müssen.

Die größten Gewinner einer Bürgerversicherung wären die Privatversicherten, die nicht zur Klasse der wirklich Reichen gehören.

Bürgerversicherung

Die Bürgerversicherung ist eine Krankenversicherung mit einem Umlagesystem bei paritätischer Finanzierung, deren Beitragsbasis nicht die Arbeitseinkünfte, sondern die gesamten Einkünfte eines Haushaltes sind.

Ausnahmslos zahlen alle Bürger Beiträge in die gesetzliche Krankenversicherung ein, es werden alle Einkunftsarten einbezogen wie Lohnarbeit, Kapitalerträge, Mieteinnahmen, Zuschüsse und sonstige Einnahmen. Im Versicherungsfall können alle daraus gleiche Leistungen in Anspruch nehmen.

Im Sinne paritätischer Beiträge wird bei abhängig Beschäftigten die Hälfte des Betrages vom jeweiligen Arbeitgeber übernommen und die andere Hälfte vom Entgelt bezahlt.

Bei Geringverdienern würde der Beitrag aus Steuermitteln subventioniert. Die Beiträge für Kinder sollen ebenfalls aus Steuermitteln aufgebracht werden.

Die Lobbyisten der Versicherungswirtschaft und die Ärzteverbände konnten bisher erfolgreich das System der Bürgerversicherung verhindert. Seit Jahren schon haben SPD, die Grünen und die Linkspartei diese Versicherung in ihren Wahlprogrammen und auch auf vielen Gewerkschaftskongressen wurde die Einführung gefordert.

Bei der SPD und bei der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di hat sich allerdings in der letzten Zeit einiges getan.

Abschied von der Bürgerversicherung bei der SPD

Ursprünglich wollte die SPD die Abschaffung der Zwei-Klassen-Medizin zum Grundsatz ihrer aktuellen Gesundheits- und Sozialpolitik machen. Doch schon in den Sondierungsgesprächen mit der CDU/CSU rückte sie vor ihrer Idee ab. In den Koalitionsverhandlungen wurde die Einführung einer Bürgerversicherung, die die SPD versprochen hatte, nicht angegangen. Übrig blieb etwas Kosmetik bei dem bestehenden Krankenversicherungssystem.

Nun soll die Beitragsbemessungsgrenze nicht wegfallen, die Beiträge auf andere Einkommensarten als Löhne und Gehälter nicht erhoben werden und es weiterhin eine private Krankenversicherung geben, bei der man sich freiwillig versichern kann.

Was die SPD dann als Gegenleistung in den Koalitionsvertrag mit aufnehmen konnte, war die Wiedereinführung der paritätischen Finanzierung durch Arbeitgeber und Arbeitnehmer ab dem 1.1.2019.

Abschied von der Bürgerversicherung bei ver.di

Die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di hatte schon früher Zweifel, vorbehaltlos für die Bürgerversicherung einzutreten.

Auf dem ver.di-Bundeskongress 2011 wurde beschlossen: „Die Einführung einer derart ausgestalteten Bürgerversicherung bedarf aber eines Szenarios, wie der Umwandlungsprozess von GKV und PKV in einem Bürgerversicherungsmarkt im Hinblick auf die Beschäftigtensituation erfolgen soll. Die Einführung einer Bürgerversicherung braucht deshalb gleichzeitig ein Konzept, das die sozialverträgliche und arbeitsplatzsichernde Zukunft der Beschäftigten herausstellt.“

Soweit die Beschlusslage. Nun bekommt ver.di Rückenwind.

Die gewerkschaftsnahe Hans-Böckler-Stiftung hat untersucht, welcher Weg in eine Bürgerversicherung am wenigsten Arbeitsplätze kosten würde. Hierbei wurden alle bekannten, unterschiedlichen Konzepte durchleuchtet. Dies gilt genauso für die verschiedenen Übergangsszenarien.

Das Ergebnis der Untersuchung lautet: Es gibt keinen Weg in die Bürgerversicherung, der nicht mindestens ein Drittel der Arbeitsplätze in der privaten Krankenversicherung vernichtet. Andere Szenarien gehen sogar von dem Verlust von drei Viertel aller Arbeitsplätze aus. Und zwar bereits in der sogenannten Übergangsphase.

Es wurde auch untersucht, ob und ggf. wie ein solcher Arbeitsplatzverlust kompensiert werden könnte, etwa durch Entstehen neuer Arbeitsplätze in einem Bürgerversicherung-System. Auch hier würden in allen bekannten Modellen einer Bürgerversicherung die genannte Anzahl von Arbeitsplätzen ersatzlos wegfallen.

Nach einiger Abwägung kam ver.di zu der Überzeugung, dass ihrer Meinung nach erwartbare Vorteile einer Bürgerversicherung einen solchen Kahlschlag nicht rechtfertigen. So lange die Frage nach Sicherheit und Perspektiven für die Arbeitsplätze der betroffenen Beschäftigten nicht positiv beantwortet ist, darf laut ver.di dieser Weg nicht eingeschlagen werden.

Aus der Sicht von ver.di „gibt es im Bereich der sozialen Sicherungssysteme sinnvollere Reformen, die eine neue Bundesregierung umsetzen sollte.

Hierzu gehören beispielsweise:

  • die Wiederherstellung der paritätischen Finanzierung in der gesetzlichen Krankenversicherung;
  • eine Anhebung des gesetzlichen Rentenniveaus

und die Abschaffung von sachgrundlosen Befristungen“.

 

Die SPD und ver.di sowie der DGB sollten sich die Frage stellen, ob derzeit nicht der beste Moment für die Einführung der Bürgerversicherung ist. Heute, beim riesigen Wirtschaftsboom mit fallenden offiziellen Arbeitslosenraten sollten sie laut für die Abschaffung der Privaten Krankenversicherung, für die Einführung der Bürgerversicherung plädieren und sich nicht still und klammheimlich aus der gestaltenden Sozialpolitik zurückziehen.

 

 

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Bild: ver.di