Neue Arbeitsformen: Abhängig und unsicher

Das Normalarbeitsverhältnis, also die unbefristete sozialversicherungspflichtige Vollzeitbeschäftigung, ist hierzulande zwar kein Auslaufmodell, sondern nach wie vor die dominierende Arbeitsform. Der Anteil atypischer Beschäftigungsverhältnisse in Form von Teilzeit, befristeter Beschäftigung, Leiharbeit und Minijobs hat in den vergangenen Jahrzehnten allerdings deutlich zugenommen. Seit der Jahrtausendwende zeichnet sich ein weiterer Trend ab: Neben den „klassischen“ atypischen Jobs hätten sich „neue Arbeitsformen“ etabliert, bei denen die Grenze zwischen abhängiger Beschäftigung und Selbstständigkeit zunehmend verschwimmt, so Andreas Jansen. Der Soziologe vom Institut Arbeit und Qualifikation (IAQ) der Universität Duisburg-Essen hat sich mit dem Stand der Forschung zu diesem Thema auseinandergesetzt und dafür unter anderem Daten des Statistischen Bundesamts und der Bundesagentur für Arbeit sowie die einschlägige wissenschaftliche Literatur ausgewertet. Gefördert wurde seine Studie von der Hans-Böckler-Stiftung.

Dass die „Graubereiche“ auf dem Arbeitsmarkt seit geraumer Zeit wachsen, hängt laut Jansen zum einen mit Entwicklungen auf der Nachfrageseite zusammen. Der Wettbewerbsdruck durch die Globalisierung und der technologische Fortschritt hätten den Flexibilitätsanspruch der Unternehmen erhöht. Infolgedessen seien Teile der betrieblichen Wertschöpfung ausgelagert worden, auch an Solo-Selbstständige. Diesem Trend habe auch der Strukturwandel hin zur Dienstleistungsgesellschaft Auftrieb gegeben: Während Arbeit in der industriellen Produktion in der Regel ein gewisses Maß an betriebsinternem Wissen voraussetze, seien für etliche Dienstleistungsberufe allgemeine Qualifikationen ausreichend, die man auch auf dem Markt einkaufen könne.

Als weitere Ursache nennt der Forscher die Deregulierung des Arbeitsmarkts, unter anderem durch die Hartz-Reformen. Die Digitalisierung schließlich habe bestimmte Phänomene wie Crowdworking überhaupt erst möglich gemacht und generell die Möglichkeiten verbessert, als Selbstständiger an Aufträge zu kommen. Darüber hinaus habe in Teilen der Bevölkerung ein Wertewandel stattgefunden: Viele Jüngere seien überzeugt, Zielen wie Unabhängigkeit und Selbstbestimmung mit neuen Arbeitsformen näherzukommen. Auch „Wissensarbeitern“ werde eher ein individualistischer Lebensstil zugeschrieben.

Die Folgen der skizzierten Entwicklungen lassen sich der Studie zufolge zum einen an der Zahl der Solo-Selbstständigen ablesen: Diese hat zwischen 1991 und 2012 von 1,3 auf 2,2 Millionen stetig zugenommen. Seitdem ist sie leicht zurückgegangen, auf 1,9 Millionen im Jahr 2017. Nach Jansens Einschätzung dürften sich dahinter zwei gegenläufige Entwicklungstrends verbergen: Die gute Konjunktur der letzten Jahre habe die Chancen auf eine reguläre Stelle verbessert und so die Zahl der unfreiwillig Solo-Selbstständigen sinken lassen. Gleichzeitig sei davon auszugehen, dass die Zahl derjenigen, die sich bewusst für die Selbstständigkeit entscheiden, weiter zugenommen hat, so der Wissenschaftler. Ein Indiz dafür: der steigende Anteil Hochqualifizierter. Massive Zuwächse bei den Solo-Selbstständigen habe es vor allem in Berufen gegeben, die einen Hochschulabschluss oder Meister voraussetzen: Zwischen 2005 und 2012 betrug das Plus bei den Psychologen 97 Prozent, bei den darstellenden Künstlern und den Fotografen jeweils 48 Prozent. Im handwerklichen Bereich kam es dagegen zu einem Rückgang um 20 Prozent, bei den landwirtschaftlichen Berufen um 18 Prozent.

Parallel zum Wachstum der Solo-Selbstständigkeit haben der Auswertung zufolge Werkverträge deutlich zugenommen. Die Zahl der freiberuflich Tätigen mit Werk- oder Dienstvertrag hat sich zwischen 2002 und 2015 von 350 000 auf 870 000 mehr als verdoppelt. Der Anteil der Akademiker beträgt 50 Prozent, stark vertreten sind vor allem Bauingenieure, Architekten, Ingenieure und IT-Spezialisten. Die Daten zur Lohnstruktur deuten auf eine gewisse Polarisierung in dieser Gruppe hin: Einerseits fallen die Verdienste mit durchschnittlich 14,36 Euro pro Stunde im Jahr 2013 bei den Solo-Selbstständigen mit Werkvertrag etwas höher aus als bei den abhängig Beschäftigten mit 13,85 Euro. Anderseits ist der Anteil der Niedriglohnempfänger mit 27 Prozent ebenfalls höher.

Hybride Beschäftigung zeichne sich dadurch aus, dass verschiedene Erwerbsformen – beispielsweise Selbstständigkeit und abhängige Beschäftigung – kombiniert werden, erklärt der Autor. Im Jahr 2017 waren etwa 700 000 Personen im Nebenerwerb selbstständig. Dazu kommen 105 000, die hauptberuflich selbstständig und nebenbei abhängig beschäftigt waren. Insgesamt waren demnach 800 000 oder 16,6 Prozent aller Selbstständigen hybrid beschäftigt. 1996 waren es lediglich 400 000 oder 10 Prozent.

Auch die Zahl der Mehrfachbeschäftigten, die zwei abhängigen Beschäftigungen nachgehen, ist der Auswertung zufolge deutlich gestiegen: Sie hat sich zwischen 2003 und 2017 auf rund 3,3 Millionen mehr als verdoppelt. Die meisten Betroffenen, nämlich 2,7 Millionen, kombinieren eine sozialversicherungspflichtige Hauptbeschäftigung mit einem Minijob. Dabei spielen finanzielle Motive eine zentrale Rolle: Nebenjobber verdienen in ihrer Hauptbeschäftigung im Schnitt 570 Euro weniger pro Monat als die übrigen Arbeitnehmer. 53 Prozent nennen finanzielle Schwierigkeiten als ausschlaggebendes Motiv, 24 Prozent können keine Vollzeitstelle finden. Den höchsten Anteil an Beschäftigten mit Nebenjob weisen mit jeweils 12 Prozent das Gastgewerbe und die „sonstigen wirtschaftlichen Dienstleistungen“ auf, zu denen unter anderem Wachdienste, Gebäudereinigung und Call-Center gehören.

Noch sehr jung sei das Phänomen des Crowdworkings, bei dem Arbeitsaufträge von Unternehmen ausgelagert und auf Internetplattformen ausgeschrieben werden, stellt Jansen fest. Schätzungen zufolge dürfte es in Deutschland zwischen 620 000 und 3,5 Millionen Crowdworker geben, von denen 100 000 bis 300 000 mindestens einmal pro Monat Aufträge annehmen. In der Regel werde Crowdworking parallel zu einer weiteren Erwerbstätigkeit oder zu Schule, Studium, dem Bezug von Arbeitslosengeld oder Rente verrichtet. Insofern stelle es eine prototypisch hybride Arbeitsform dar.

Eine weitere Beschäftigungsform, die vor allem dem steigenden Flexibilitätsanspruch von Unternehmen Rechnung trägt, sei Arbeit auf Abruf, heißt es in der Studie. Eine Gemeinsamkeit mit Selbstständigkeit bestehe darin, dass der Erwerbstätige das wirtschaftliche Risiko trägt, dass es keine Aufträge und damit auch keine Arbeit gibt. Nullstundenverträge wie in Großbritannien oder Irland seien in Deutschland zwar nicht zulässig. Es gebe Grenzen für die Über- und Unterschreitung der vereinbarten Arbeitszeit, zudem müssten Beschäftigte mindestens vier Tage im Voraus informiert werden. Das Problem: Beschäftigte können „freiwillig“ auch kurzfristig einspringen und mehr oder weniger arbeiten, als es die gesetzlichen Grenzen vorsehen. 2017 waren laut Jansen insgesamt 1,7 Millionen Menschen auf Abruf beschäftigt, knapp 5 Prozent aller abhängig Beschäftigten. Minijobber waren dabei am stärksten betroffen.

Für problematisch hält Jansen die von ihm beschriebenen Entwicklungen insofern, als sie mit zunehmenden Schutzlücken im Arbeits- und Sozialrecht einhergehen. Ein großer Teil der neuen Beschäftigungsverhältnisse entstehe außerhalb der bestehenden sozialrechtlichen Strukturen und sei sowohl durch Abhängigkeit als auch durch Unsicherheit gekennzeichnet. Erforderlich sei daher eine Neujustierung der sozialen Sicherheit. Der Wissenschaftler empfiehlt unter anderem, die gesetzliche Rentenversicherung hin zu einer „erweiterten Erwerbstätigenversicherung“ zu entwickeln, die auch Solo-Selbstständige und Crowdworker einschließt.

 

 

QUELLE: Andreas Jansen: Wachsende Graubereiche in der Beschäftigung, Working Paper der Forschungsförderung der HBS Nr. 167, Januar 2020

https://www.boeckler.de/123671_123679.htm