Vom Umgang mit Pflegepersonal in Belgien und Deutschland / Die kirchliche “Dienstgemeinschaft” – oder der lange Schatten des nationalsozialistischen Arbeitsrechts in Deutschland

Von Jürgen Klute

Von Beginn an des Corona bedingten Lockdowns gab es in Belgien viel öffentliche Anerkennung für die Berufsgruppen, die als systemrelevant gelten: dem Personal in den Krankenhäusern, den Lebensmittelhändlern und den Mitarbeitenden bei der Müllabfuhr. Während des gesamten Lockdown wurde allabendlich um 20 Uhr an offenen Fenstern und von Balkonen geklatscht (vgl. dazu u.a. diesen Bericht vom 20. März 2020 auf dem deutschsprachigen belgischen Nachrichtenportal Flanderninfo). Darüber hinaus gab es Einzelaktionen, um die Menschen in diesen Berufsgruppen zu ermutigen.

Auch in der Bundesrepublik gab es Klatschaktionen. Doch während in Belgien diese öffentlichen Anerkennungsbekundungen durchgehen positiv aufgenommen wurden, sehen sich die Mitarbeitenden im Gesundheitssektor in der Bundesrepublik er „verklatscht“ als beklatscht. Und das ist durchaus nachvollziehbar. Weshalb das so ist, erläuterte die Soziologin Friedericke Hardering in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung vom 7. Juli 2020 (“Wir wissen das schon seit Jahrzehnten”). In dem Interview geht es um die Frage, weshalb „ausgerechnet die am schlechtesten bezahlt (werden), die am meisten für die Gesellschaft leisten“. Haderings kurze und prägnante Antwort lautet: „Eine der wichtigsten Maximen der deutschen Politik lautet: Deutschland soll ein starker Wirtschaftsstandort sein. Diesem Interesse wird vieles untergeordnet. Deshalb wird der Gesundheitssektor auch eher vernachlässigt als beispielsweise die Automobilindustrie.“ Das, so Hadering weiter, sei aber seit Jahrzehnten bekannt. Deshalb glaubt die Soziologin auch nicht, dass sich daran in nächster Zeit etwas ändern wird.

Nun, so heißt es in einem Artikel in Die Zeit vom 8. Juli 2020, soll nicht einmal die während des Lockdowns zugesagte Prämie an alle Pflegekräfte ausgezahlt werden.

Ganz anders die Situation in Belgien. Dort blieb es nicht bei „billigen“ symbolischen Unterstützungen, wie einem Artikel auf Flanderninfo vom 8. Juli 2020 zu entnehmen ist. Unter der Überschrift „Sozialabkommen: 6 % mehr Lohn für das Pflegepersonal in Belgien“ berichtet das belgisch Nachrichtenportal von kräftigen Lohnerhöhungen im belgischen Krankenhaussektor, die im Durchschnitt 6 % betragen und die noch vor der Sommerpause in Kraft treten sollen. Es gibt allerdings nicht nur Lohnerhöhungen. Zudem sollen bis zu 4.000 neue Stellen geschaffen werden, um die Arbeitsbedingungen in Krankenhäusern familienfreundlicher zu gestalten.

Für diese Verbesserungen der Arbeitsbedingungen plant der belgische Staat zum einen, 600 Millionen Euro zunächst für zwei Jahre zur Verfügung zu stellen. Zudem wurde bereits ein Pflegepersonalfond in Höhe von 400 Millionen Euro jährlich bereitgestellt.

Diese Verbesserungen gelten zunächst nur für die Krankenhäuser, da sie in die Zuständigkeit des belgischen Föderalstaates fallen. Pflege- und Altenheime fallen hingegen in die Zuständigkeit der Regionalparlamente und Parlamente der Sprachgemeinschaften. Die werden sich aber nicht den Vorgaben der föderalen Ebene entziehen können und müssen in den nächsten Monaten wohl nachziehen mit Lohnerhöhungen und Verbesserungen der Personalausstattung.

Hier stellt sich nun die Frage, weshalb in der Bundesrepublik seit Jahrzehnten keine Verbesserungen der Arbeitsbedingungen im Gesundheits- und Sozialbereich stattfinden und in Belgien innerhalb weniger Wochen Lohnerhöhungen, von denen in der Bundesrepublik nur geträumt werden kann, durchsetzbar sind und auch eine beachtliche Stellenausweitung.

Die Antwort ist simpel. In Belgien gibt es auch im Gesundheits- und Sozialbereich handlungsfähige Gewerkschaften. In der Bundesrepublik fordert die zuständige Gewerkschaft Verdi – mit Unterstützung der Linken – zwar schon lange Verbesserungen der Arbeitsbedingungen in diesem Sektor. Nur der Organisationsgrad in diesem Sektor ist viel zu gering, um den nötigen politischen Druck erzeugen zu können.

Zum einen galt dieser Sektor in einer von Männern dominierten Industriegesellschaft lange als „Zuverdienstsektor“ für „mitarbeitende“ Ehefrauen. Diese Haltung förderte nicht gerade die Bereitschaft, sich gewerkschaftlich zu organisieren.

Zum anderen galt den auf die Industriearbeiterschaft fokussierten Sozialdemokraten und der Wirtschaft der Gesundheits- und Sozialsektor als unproduktiver Sektor und folglich als Verhandlungsmasse, um die so genannten Lohnnebenkosten – also den Anteil der Löhne, der in die Sozialkassen fließt und aus dem ein großer Teil dieses Sektors finanziert wird – zu senken und die bundesdeutsche Wirtschaft international wettbewerbsfähiger zu machen. Das war vor allem das erklärte Ziel der so genannten Agenda-Politik von Bundeskanzler Gerd Schröder ab 1998. Und diese Politik ist von den folgenden Regierungskoalitionen unter der Kanzlerschaft von Angela Merkel fortgesetzt worden.

Es gibt aber noch einen dritten, vielleicht noch wichtigeren Faktor: die Kirchen. Die Kirchen dominieren den Gesundheits- und Sozialsektor in der Bundesrepublik. Etwas 1,5 Millionen Beschäftigte zählen die Kirchen und vor allem die kirchlichen Wohlfahrtsverbände Caritas und Diakonie.

Die Kirchen unterliegen aber nicht dem regulären Arbeitsrecht in der Bundesrepublik. Vielmehr haben sie unter der Führung der evangelischen Kirchen in der Gründungsphase der Bundesrepublik für sich einen arbeitsrechtlichen Sonderweg durchgesetzt. Dieser arbeitsrechtliche Sonderweg der Kirchen, den es so in keiner anderen europäischen Gesellschaft gibt, firmiert unter dem Titel „Dritter Weg“ und ist charakterisiert durch das Konzept der „Dienstgemeinschaft“.

Der Begriff „Dienstgemeinschaft“ ist dem nationalsozialistischen Arbeitsrecht entnommen. Ebenso das gesamte Konzept, das ab 1934 durchgesetzt wurde. Kernpunkte waren die Zerschlagung der Gewerkschaften und die Durchsetzung des Führerprinzips in den Betrieben der Privatwirtschaft („Betriebsgemeinschaft) und des öffentlichen Dienstes („Dienstgemeinschaft“). Mehr zum nationalsozialistischen Hintergrund des so genannten “Dienstgemeinschaft” findet sich auf der Webseite „verhängnisvolle Dienstgemeinschaft“.

Mit der Übernahme diese Konzeptes haben die Kirchen vor allem die Gewerkschaften und eine unternehmensbezogene Mitbestimmung aus kirchlichen Einrichtungen und Unternehmen herausgehalten. Und an Stelle von Tarifverhandlungen und Streik gibt es in kirchlichen Einrichtungen eine so genannte Zwangsschlichtung.

Unter diesen Bedingungen konnte sich nie eine umfassende gewerkschaftliche Organisierung der Mitarbeitenden in diesem Sektor entwickeln.

In den 1950er Jahren hatte das noch keine große gesellschaftliche Relevanz. Mittlerweile ist der Gesundheits- und Sozialsektor aber zu einem der größten Beschäftigungssektoren geworden und die Kirchen – vor allem die kirchlichen Wohlfahrtsverbände – sind nach dem öffentlichen Dienst der zweitgrößte Arbeitgeber in der Bundesrepublik.

Hinzukommt, worauf Friedericke Hadering in ihrem Interview mit der Süddeutschen Zeitung verweist: „Gerade in der Pflege gibt es hohe Burnout-Raten. Ihre Arbeit ist den Beschäftigten sehr wichtig und gleichzeitig sind die Rahmenbedingungen schlecht. Das kann gefährlich werden, körperlich, aber auch mental. Der Ethnologe David Graeber geht sogar davon aus, dass manche Tätigkeiten besonders schlecht bezahlt werden, weil man weiß, dass man immer jemanden findet, der den Job aus einer gesellschaftlichen Verantwortung heraus machen wird. Im Zweifel sogar, ohne dafür Geld zu bekommen.“

Gerade diese von Graeber beschriebene Haltung wird von einem fragwürdigen kirchlichen Verständnis von Nächstenliebe untermauert und gefördert. Dass Pflege- und soziale Arbeit Teil gesellschaftlicher Arbeitsteilung ist und somit eben vor allem auch Erwerbsarbeit, wird unter dem Vorzeichen der Nächstenliebe ausgeblendet. Das führt aber dazu, wie Friedericke Harding sehr treffend beschreibt, dass letztlich unter dem Deckmantel der Nächstenliebe ausbeuterische Arbeitsverhältnisse organisiert werden. Und deren Organisatoren – das ist an dieser Stelle zu ergänzen – sind die Kirchen und ihre Wohlfahrtsverbände mit ihrem nationalsozialistischen Arbeitsrechtskonstrukt der „Dienstgemeinschaft“.

Zumindest die evangelischen Kirchen sind sich dieses Problems durchaus bewusst. In der Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) von 2015 „Solidarität und Selbstbestimmung im Wandel der Arbeitswelt“ formuliert die EKD eine Würdigung des Streiks, die auch in Kirche und Diakonie zu neuem Nachdenken führen sollte: „Der Streik ist kein Selbstzweck. Er dient der Erzwingung einer Einigung, die sonst blockiert wäre. Insofern manifestiert sich im Streikrecht die Zivilisierung des Konflikts … Sozialethisch ist das Streikrecht deswegen von hoher Dignität, da es die Schwächeren im Konflikt schützt.“ (S. 80) Aus dieser Würdigung folgt für die Denkschrift die Forderung: „Ein allgemein verbindlich geltender Flächentarifvertrag Soziale Dienste ist eine … wichtige Option.“ (S.129)

Die Corona-Krise hat die seit Jahrzehnten bekannten und ignorierten Probleme des Gesundheits- und Sozialsektors in den öffentlichen Fokus gerückt. Die beiden großen Kirchen in der Bundesrepublik müssen sich jetzt darüber klar sein, dass sie mit ihrem arbeitsrechtlichen Sonderweg die Hauptverantwortung für einen gesamtgesellschaftlichen Missstand tragen (zu den Missständen vgl. das Interview mit dem Frankfurter Arzt Bernd Hontschick in der Frankfurter Rundschau vom 24. Juni 2020).

Bundestag, Wirtschaft und und die bundesdeutsche Rechtssprechung haben mit Blick auf die deutschen Exporte (die nebenbei bemerkt im Zentrum der EU-Krise stehen) kein Interesse daran, diesen Missstand zu beseitigen. Die beiden großen Kirchen haben aber die Möglichkeit, die Voraussetzungen für eine starke Interessenvertretung der Beschäftigten in diesem Sektor zu schaffen, indem sie auf ihren arbeitsrechtlichen Sonderweg, der auf eine Schwächung der Gewerkschaften zielt, verzichten und sich damit endlich von diesem unsäglichen nationalsozialistischem Erbe emanzipieren. Das entspräche den oben zitierten Einsichten der EKD-Denkschrift von 2015.

Durch Symbolpolitik lassen sich die Missstände im Gesundheits- und Sozialsektor nicht verändern. Dazu bedarf es einer gesellschaftlichen Machtverschiebung, die es ohne Gewerkschaften nicht geben wird. Es reicht nicht, dass die Kirchen über gesellschaftliche Verantwortung nachdenken, sie müssen sie auch wahrnehmen dort, wo sie als dominante Akteuere in der Gesellschaft aktiv sind.

In den Verhandlungen in der ersten Hälfte der 1950 Jahre zur Durchsetzung des arbeitsrechtlichen Sonderweges der Kirchen betonte der damalige Präsident der EKD Kirchenkanzlei Heinz Brunotte gegenüber der Adenauer-Regierung: „Das die Kirche hierbei allen berechtigten sozialen Anforde-rungen gegenüber den bei ihr Beschäftigten in vollem Umfange nachkommt, ist selbstverständlich.“ (Heinz Brunotte als Präsident der EKD Kirchenkanzlei in einem Brief an den damaligen Bundesarbeitsminister vom 12. 06. 1950). Und wenig später bekundete Rechtsanwalt Eichholz, der die Innere Mission im Rahmen der Verhandlungen zum Bundespersonalvertretungsgesetz vertrat: „Gerade aus dem Geist der Dienstgemeinschaft heraus sind wir nicht bestrebt, weniger als die anderen zu tun.“ (Kurzprotokoll der 15. Sitzung des Unterausschusses Personalvertretung vom 20. September 1954 in Bonn, Deutscher Bundestag.)

Die beiden Kirchenvertreter haben der Adenauer-Regierung zugesagt, auf keinen Fall hinter den Arbeitsbedingungen in der freien Wirtschaft zurückzubleiben. Wenn diese Zusage noch immer gilt, dann reicht es unter den heutigen Bedingungen im Gesundheits- und Sozialsektors nicht mehr aus, dass die Kirchen auf ihren gewerkschaftsfeindlichen arbeitsrechtlichen Sonderweg verzichten, sondern sie müssen zudem eine vollständig paritätische Unternehmensmitbestimmung einführen, weil es sich hier um eine gesellschaftliche Aufgabe handelt, wie in dem oben erwähnten Interview mit Bernd Hontschick in der Frankfurter Rundschau dargelegt wird, und sie müssen sich dafür einsetzen, dass der Gesundheits- und Sozialsektor nicht weiterhin einer marktwirtschaftlichen Logik unterworfen wird, sondern wieder der Logik der öffentliche Daseinsvorsorge folgt.

Das ergibt sich aus den Erfahrungen der Corona-Krise.

 

 

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