Von Axel Hemmerling und Ludwig Kendzia, MDR
Am Bundesarbeitsgericht haben bis in die 1980er-Jahre Richter mit NS-Vergangenheit Recht gesprochen. Bis heute hängen ihre Fotos im Gericht in Erfurt. Eine systematische Aufarbeitung fand nach MDR-Recherchen bislang nicht statt.
Das Leben von Ferdinand Hans endete am 6. Oktober 1942. Um 5 Uhr wurde er zum Schafott in der Haftanstalt Stuttgart geführt. Sieben Minuten später war er tot, vom Scharfrichter enthauptet.
Hans‘ Verbrechen war der Diebstahl von Uhren, Schmuck, Schnaps, Tabak oder anderen Lebensmitteln. Als Beamter der Deutschen Reichspost hatte er sie aus Paketen gestohlen. Er war dort für den Transport von Paketen in einem Postzug verantwortlich. Dabei flog er auf, wurde geschnappt und gestand seine Taten. Dafür kam Hans vor das Sondergericht Mannheim. Diese Sondergerichte waren von den Nazis 1933 geschaffen worden und ein wichtiger Bestandteil des politischen Unterdrückungsapparates im Dritten Reich.
Bei ihrem Todesurteil beriefen sich die Richter auf die Verordnung des Reiches für sogenannte Volksschädlinge: „Zur wirksamen Abschreckung und gerechten Sühne ist daher nach gesundem Volksempfinden (…) die Todesstrafe erforderlich“, heißt es im Urteil vom August 1942. Geschrieben hatte es der damals 35 Jahre alte Richter am Sondergericht, Willy Martel.
Ahnengalerie mit belasteten Richtern
14 Jahre später begann für Martel eine neue Karriere. Das Ex-NSDAP-Mitglied wurde Richter am neu geschaffenen Bundesarbeitsgericht an seinem damaligen Sitz in Kassel. Bis heute hängt sein Bild ohne einordnenden Kommentar in der Ahnengalerie in einem Gebäude auf dem Erfurter Petersberg, wohin das Gericht 1999 umgezogen ist.
Daneben gibt es Fotos von zwölf weiteren Richterinnen und Richtern, die nach Recherchen von MDR Thüringen eine ähnlich belastete NS-Vergangenenheit hatten, für die rund 4000 Dokumente aus verschiedenen deutschen und europäischen Archiven ausgewertet wurden.
Grundlage für die Auswertungen waren unter anderem die Forschungsarbeiten des promovierten Juristen Martin Borowsky. Der Richter am Erfurter Landgericht forscht seit Jahren über die NS-belasteten Richter am Bundesarbeitsgericht. Dabei orientiert sich Borowsky bei der Definition von Belastung am Richter und Rechtswissenschaftler Georg Falk, der 2017 die NS-Vergangenheit des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main untersucht hatte.
Für Falk, der in Hessen seit 1979 das Projekt „Justiz im NS-Staat“ leitet, war nicht einzig die Mitgliedschaft in der NSDAP ausschlaggebend, sondern vielmehr die berufliche Karriere im Dritten Reich, die Art der Tätigkeit und vor allem die konkreten Entscheidungen, so wie beispielsweise im Fall des Richters Martel.
„Den Nazis angedient“
NS-Belastungen in der beruflichen Karriere treffen auch zu auf den ehemaligen Richter am Bundesarbeitsgericht, Georg Schröder. Der NS-Jurist war ab 1940 Chef der Abteilung „Feindvermögen“ in den damals besetzten Niederlanden. Unter seiner Leitung wurden die jüdischen Unternehmen „arisiert“ und jüdisches Vermögen beschlagnahmt.
Der Historiker Raul Hilsberg stellte später in Untersuchungen fest, dass in den Niederlanden wie in keinem anderen Land in vergleichbarem Maße jüdisches Vermögen konfisziert wurde. Schröder startete 1956 eine neue Karriere am Bundesarbeitsgericht, dem er bis 1973 als Richter angehörte. Sein Bild hängt ebenfalls ohne Hinweis auf seine NS-Vergangenheit in Erfurt.
„Es ist in der Tat so, das führende Eliten, Juristen ebenso wie Journalisten oder Professoren sich den Nazis wirklich angedient haben“, sagte der Potsdamer Historiker Manfred Görtemarker im Interview mit MDR-Thüringen.
Görtemarker untersuchte mit anderen Forschern die NS-Vergangenheit des Bundesjustizministeriums im „Rosenburg-Projekt“. Nach seiner Einschätzung spielten Juristen eine entscheidende Rolle für das Funktionieren des Staates. Das sei im Dritten Reich nicht anders gewesen, so Görtemarker. Doch diese Richter machten in vielen Fällen wieder Karriere in der Bundesrepublik. Was, so sind sich Wissenschaftler einig, damals vor allem mit einer „Schlussstrich-Mentalität“ zusammenhing.
„Kein akuter Handlungsbedarf“
Die MDR-Thüringen-Recherchen zeigen auch, dass es bis heute im Bundesarbeitsgericht keine Aufarbeitung dieser Vergangenheit gegeben hat. Das macht sich unter anderem an den Bildern in der Ahnengalerie fest, die kommentarlos in einem großen Konferenzraum hängen, in dem Ehrengäste wie Botschafter oder auch der Bundespräsident empfangen werden. Selbst als die Bundesregierung auf eine Anfrage der Linksfraktion 2011 mitteilte, dass sogar 15 Richter am Bundesarbeitsgericht als belastet gelten dürften, geschah nichts.
Das Bundesarbeitsgericht selber will sich einer Aufarbeitung seiner personellen NS-Vergangenheit grundsätzlich nicht verschließen, sieht aber derzeit keinen akuten Handlungsbedarf. Präsidentin Ingrid Schmidt sagte MDR Thüringen, das Bundessozialgericht als Schwestergericht erarbeite ein Konzept. Dabei solle geklärt werden, wie sich die NS-Belastung auf die Rechtsprechung der Nachkriegszeit ausgewirkt habe. Das müsse von Historikern und Rechtshistorikern dann aufgearbeitet werden. „Wenn dieses Konzept steht, dann werden wir überlegen, inwieweit sich das auf uns übertragen lässt“, so Schmidt.
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Über dieses Thema berichtete MDR Aktuell am 02. Dezember 2020
Quelle: https://www.tagesschau.de/ Bild: pixabay cco