Auch nach dem Urteil des BVerfG bleiben Sanktionen immer Strafe und Legitimation zugleich

Im Laufe der Jahre relativiert sich alles. So könnte man die Reaktionen der sonst so hartgesottenen Hartz-IV-Kritiker auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes (BVerfG) zu den Sanktionen zur Durchsetzung von Mitwirkungspflichten bei Bezug von Arbeitslosengeld II vielleicht erklären.

Es ist schon erstaunlich. Da gibt man sich damit zufrieden oder feiert es sogar, dass die BVerfG- Entscheidung vom 5.11.2019 Sanktionen in Gestalt eines Leistungsentzugs von bis zu 100 Prozent oder auch 60 Prozent und pauschal bis zu 3 Monate lang verfassungsrechtlich „unverhältnismäßig“ einstuft.

Nicht mehr und nicht weniger. Wäre das Gericht weitergegangen, hätte man das ganze Hartz-IV-System in Frage gestellt und wahrscheinlich völlig abstürzen lassen müssen.

Das Gesamtsystem der Sanktionen, die Strafe und gleichzeitig Legitimation der schon 2005 verfassungswidrigen „Hartz-Reformen“ ist, wird weiterhin nicht in Frage gestellt.

Mit dem Urteil werden die wichtigsten Säulen des Hartz-Systems beibehalten. Das sind nach wie vor

  • die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe, die sich an der vorherigen früheren Lohnhöhe ausrichtete und durch die Arbeitslosengeld-2-Zahlungen ersetzt wurde, nun aber unabhängig von dem früheren Verdienst.
  • die Erwartung an die betroffenen Menschen, sich für die Zahlung der Leistung dem Niedriglohnsektor zur Verfügung stellen

und der Wegfall des Berufs- und Qualifikationsschutzes und damit auch die Ungültigkeit der grundgesetzlich garantierten Berufsfreiheit.

Das Urteil untermauert auch, dass schon seit 14 Jahren ganz bewusst gegen Artikel 1 und Artikel 20 des Grundgesetzes (GG), neben der Verletzung der Gewährleistungspflicht des Existenzminimums und damit auch des Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit, gleichfalls noch gegen die grundgesetzlich garantierte Berufsfreiheit durch die Sanktionen verstoßen wird.

Sanktionen zur Durchsetzung von Mitwirkungspflichten bei Bezug von Arbeitslosengeld II

Die einzelnen Regelungen sehen vor, dass Sanktionen bei Pflichtverletzungen und Meldeversäumnissen möglich sind:

Zu den Sanktionen bei Pflichtverletzungen gehören beispielsweise

  • Weigerung zur Erfüllung der Pflichten, die in der Eingliederungsvereinbarung festgelegt wurden,
  • nicht genug Bewerbungen schreiben,
  • Maßnahmen zur Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt dürfen nicht abgelehnt werden,
  • Ablehnung, Abbruch oder Vereitelung der Aufnahme einer zumutbaren Arbeit, Ausbildung, Arbeitsgelegenheit oder geförderten Arbeit,
  • Ablehnung, Abbruch oder Veranlassung für den Abbruch einer zumutbaren Maßnahme zur Arbeitseingliederung.

Weitere Minderungstatbestände sind beispielsweise

  • zielgerichtete Verarmung,
  • Forstsetzung unwirtschaftlichen Verhaltens

und Sperrzeiten.

Für die unter 25-jährigen wird das Arbeitslosengeld II bei einer Pflichtverletzung auf die Bedarfe für Unterkunft und Heizung beschränkt, bei der ersten Wiederholung wird die Regelleistung ganz gestrichen. Nach Ermessen kann wieder für Unterkunft und Heizung gezahlt werden, wenn der junge Mensch sich bereit erklärt, seinen Pflichten nachzukommen.

Sanktionen für ein Meldeversäumnis können ausgesprochen werden, wenn der Leistungsberechtigte einen Termin beim Jobcenter oder beim ärztlichen oder psychologischen Dienst ohne wichtigen Grund versäumt. Hier werden für drei Monate um zehn Prozent und bei weiterem Verstoß weitere zehn Prozent für weitere drei Monate einbehalten.

Da eine Überlappung der Sanktionszeiträume möglich ist, können auch die zusammengerechneten Sanktionen keine Auszahlung mehr bewirken. Auch wenn man die Meldung nachholt, führt das nicht zur Beendigung des Sanktionszeitraums. Die Meldeversäumnisse haben den größten Anteil mit 68 Prozent an den Sanktionen.

Ergebnisse der Tacheles Online-Befragung zu Folgen und Wirkungen von Sanktionen

Als Ergebnis der Onlinebefragung kann zusammengefasst werden: „86,9 Prozent aller Befragten hielten Sanktionen nicht für geeignet, um eine dauerhafte Integration in den Arbeitsmarkt zu gewährleisten. Vielmehr führen die Sanktionen nach Meinung von 80 Prozent der Umfrageteilnehmer*innen zu schlechter entlohnten und prekären Jobs. Fast genauso viele (79,2 Prozent) sehen eine konkrete Disqualifizierung für ihre weitere erfolgreiche berufliche Laufbahn.

Dass Sanktionen auch ganze Haushalte, sogenannte Bedarfsgemeinschaften, treffen sehen 83,9 Prozent der Befragten. Besonders betroffen sind demzufolge mit rund 77,9 Prozent alleinerziehende Eltern von sanktionierten Jugendlichen/jungen Erwachsenen sowie deren Geschwister.

Weit über die Hälfte (64,9 Prozent) der Befragten bestätigten, dass Sanktionen zu Wohnungsverlust geführt haben und 69,6 Prozent haben in diesem Zusammenhang Kenntnis von Stromsperren. Für rund drei Viertel der Teilnehmenden (70,3 Prozent) waren/sind die Geldkürzungen der Beginn einer Verschuldungsspirale und mehr als jeder Zweite (56,3 Prozent) hat erlebt, dass Sanktionen zum Verlust des Krankenversicherungsschutzes geführt haben.

63,3 Prozent aller Befragten erklärten, dass Sanktionen zu Resignation und Motivationsverlust führen. Als Gründe gaben 44,5 Prozent < Überforderung aufgrund psychischer Erkrankung/Belastung > an. Dass eine Zuweisung für eine berufliche oder persönliche Qualifikation nicht immer passgenau ausgeführt wird, bemängeln 40 Prozent der Teilnehmenden.

Mängel bei der Beratung der Jobcenter vor Ort kritisieren 37,4 Prozent der Befragten und mehr als jeder Dritte (38,0 Prozent) erlebte < rechtswidriges oder willkürliches Verhalten > durch die Jobcenter“.

Ausmaß der Sanktion

Im Paragraf 31 des SGB II ist regelt, welche Strafmaßnahmen für welche Verfehlungen vorgesehen sind, mit fatalen Auswirkungen.

Tatsächlich wurden 2017 bundesweit 953.000 Sanktionen an rund 420.000 Menschen teils mehrfach jeweils drei Monate mit gekürzter Grundsicherung verhängt. Das betraf etwa jeden zehnten Leistungsberechtigten zwischen 15 und 65 Jahren.

Das Mittel der Sanktionierung wird in den Bundesländern unterschiedlich streng angewendet. Am härtesten straften Berliner Jobcenter. In der Hauptstadt lag die Sanktionsquote im Dezember bei 5,3 Prozent, gefolgt von Sachsen (3,8 Prozent) sowie Thüringen, Sachsen-Anhalt, Rheinland-Pfalz und Hamburg mit je 3,4 Prozent. Nur jeder zehnte Sanktionierte hatte eine Maßnahme oder einen Job abgelehnt oder abgebrochen. In knapp 83.400 Fällen attestierten Jobcenter einen Verstoß gegen die Eingliederungsvereinbarung, beispielsweise, dass weniger Bewerbungen nachgewiesen wurden als verlangt. Mehr als drei Viertel aller Sanktionen (733.800) verhängten Jobcenter hingegen wegen eines versäumten Termins.

In den Jahren 2009 bis 2017 ist die Zahl der jährlich neu ausgesprochenen Sanktionen um 300.000 auf rund eine Million angestiegen.

Bei den unter 25-jährigen liegt der Anteil „Sanktionierten“ bei 26 Prozent und hier wird die Frage der Legitimität der Strafmaßnahmen für diese Gruppe der Leistungsbezieher besonders deutlich. Bei den jungen Leuten will man verhindern, dass Arbeitslosigkeit besonders schwere Folgen für das weitere Erwerbsleben des betreffenden Menschen hat, die auch langfristig zu hohen gesellschaftlichen Kosten führen können.

Die Summe der Sanktionen, die die deutschen Jobcenter in den vergangenen zehn Jahren verhängt und nicht ausgezahlt haben, beträgt 1,9 Milliarden Euro.

Sanktion ist immer Strafe und Legitimation zugleich

Auch in Zukunft stehen die Menschen, die im Hartz-IV-Bezug sind, permanent unter Druck möglicher Sanktionen, weil jeder Vermittlungsvorschlag des Jobcenters ein „nicht ablehnbares Angebot“ sein kann. Die Freiheit der Berufswahl gibt es für sie nicht.

Die Leistungen, die sie beziehen, werden nur gewährt, wenn sie sich als Empfänger „würdig“ erwiesen haben und müssen alles tun, um an der „Überwindung der Hilfebedürftigkeit aktiv mitwirken“. Damit wird den Menschen weiterhin unterstellt, selbst für ihre Lage verantwortlich zu sein.

Sanktion ist immer Strafe und Legitimation zugleich. Einmal wird bestraft und zum anderen den Menschen gezeigt, dass der Staat dazu das Recht hat, dass er das tun darf. Ohne Sanktionen würde das Hartz-4-System seine Effektivität und Abschreckung als Mittel zur Lohnsenkung verlieren.

 

 

Quellen: BVerG, Tacheles Online-Befragung, Statistisches Bundesamt,BA
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