Die offizielle Arbeitslosenquote in Deutschland ist auf ihrem tiefsten Wert seit der Wiedervereinigung angekommen. Das Wirtschaftswachstum entwickelt sich robust. Die „schwarze Null“ im Bundeshaushalt steht, auch die Bundesländer üben sich in Ausgabendisziplin. Selbst unter Beteiligung der SPD an einer GroKo werde es, so der designierte Finanzminister, daran keine Abstriche geben. Dabei werden in verschiedenen Bereichen durch das neue Regierungsbündnis sogar Mehrausgaben angekündigt.
Dass diese Politik mit unverantwortlichen Politik-, Versorgungs- und Verteilungsdefiziten einhergeht, wird allenfalls am Rande thematisiert. Die beabsichtigten Ausgabenprogramme erweisen sich dabei als „Tropfen auf den heißen Stein“. Obendrein entpuppen sich die bei weitem zu gering dimensionierten Maßnahmen noch als strukturell unterfinanziert, da sie aus konjunkturellen Mehreinnahmen und vor allem aus massiven Ersparnissen bei den Zinsausgaben und damit aus temporären Effekten bezahlt werden sollen.
Dringend notwendige Alternativen gegen Verteilungsdefizite und Versorgungslücken
Vor dem insgesamt skizzierten Hintergrund erkennt die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik in vielen Feldern einen erheblichen und vor allem weit über die von der GroKo angedachten Maßnahmen hinausgehenden Reformbedarf.
Maßnahmen für Europa
Zur Wiederbelebung der europäischen Idee und zum Überwinden des allgegenwärtigen Nationalismus ist ein Sieben-Punkte-Plan notwendig:
- Der sinnlosen, über die EU vermittelten Austeritätspolitik ist ein Ende zu setzen. Eine aktive Finanzpolitik ist ein Anker für staatliche insbesondere sozialstaatliche Stabilität. Dazu gehört auch, den Fiskalpakt abzuschaffen und im Stabilitäts- und Wachstumspakt dem Wachstumsaspekt für einen sozial-ökologischen Umbau viel größeres Gewicht einzuräumen. Hierbei bedarf es des verstärkten Einsatzes gemeinsamer EU- Finanzmittel für Investitionen.
- Die chronischen Leistungsbilanzungleichgewichte gefährden die Gemeinschaft und sind nicht weiter zu tolerieren. Eine Abkehr von nationalen Exportstrategien ist dringend erforderlich. Insbesondere der deutsche Staat muss durch ohnehin überfällige eigene Investitionen die Binnennachfrage beleben, ebenso wie die Gewerkschaften eine ambitioniertere Tarifpolitik betreiben müssen. Das Überwachungsverfahren der EU-Kommission, unter dem Deutschland wegen der Verursachung makroökonomischer Ungleichgewichte steht, muss „Biss“ erhalten. Im „präventiven Arm“ sollten die Eingriffsschwellen abgesenkt werden. So wie bei einem Leistungsbilanzdefizit müsste die Kommission auch bei einem Überschuss bereits bei maximal vier Prozent und nicht erst bei sechs Prozent des Bruttoinlandsprodukts aktiv werden. Im „korrektiven Arm“ bedarf es bei Überschüssen eines Sanktionsmechanismus. Insgesamt dürfte aber die Problematik heterogener Strukturen in der Eurozone längerfristiger Natur sein. Vor diesem Hintergrund erscheint der Übergang in eine „Ausgleichsunion“ unvermeidbar, in der die starken die schwachen Euro-Partner beim Aufbau ihrer Wettbewerbsfähigkeit durch ein Abschöpfen von Leistungsbilanzüberschüssen finanziell stärker als bisher unterstützen. Dies würde den ursprünglichen Konvergenzgedanken im europäischen Integrationsprozess wiederbeleben. Deutschland, das als Volkswirtschaft lange Zeit von den Überschüssen profitierte, wäre so verstärkt in die Verantwortung einzubinden.
- Zukunftssicherung gelingt nicht über Niedriglöhne, sondern über eine produktivitätsorientierte Lohnentwicklung. Der Umverteilung zugunsten von Kapitaleinkommen muss ein Ende gesetzt werden, um der wachsenden Ungleichheit entgegenzutreten. Koordination und verbesserte Harmonisierung sind besser als sinnloser Politikwettbewerb in Form einer Abwärtsspirale bei Steuern und Löhnen. Hierzu kann europäische Politik insbesondere die arbeitsmarkt- und steuerpolitischen Rahmenbedingungen schaffen.
- Mit einer gemeinsamen, koordinierten Schuldenaufnahmepolitik ist der Spekulation mit staatlichen Anleihen auf dem Kapitalmarkt entgegenzutreten. Dies kann auch ein Ansatzpunkt für eine neu zu schaffende und mit einem ausreichenden Finanzvolumen auszustattende EU-Finanzpolitik sein.
- Eine europäische Sozialunion muss die sozialen Sicherungssysteme stärken. Einen Einstieg dazu kann die europäische Arbeitslosenversicherung bieten.
- Das Euro-Geldsystem ist eine wichtige Infrastruktur, die nicht der Spekulation ausgeliefert sein darf. Die EU-Finanzmarktregulierung hat weit über die Bankenunion hinauszugreifen.
- Alles in allem geht es um die Lebensbedingungen der Menschen in der EU. Ohne eine zunehmende Partizipation der Menschen am Wohlfahrtsanstieg besteht die Gefahr, dass sich immer mehr enttäuschte Bürgerinnen und Bürger von nationalstaatlichen Populistinnen und Populisten Problemlösungen erhoffen. Tatsache ist allerdings, dass die Zeiten, in denen sich durch den nationalen Wettbewerb Wohlstand generieren ließ, zu Ende gehen. Kooperation ist gefragt. Damit die Ergebnisse der Zusammenarbeit auch eine breite Bevölkerung erreichen, ist eine weitere sichtbare Demokratisierung der EU-Organe dringend geboten.
Maßnahmen für Deutschland
Die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik weist seit nunmehr 43 Jahren auf die dringende Notwendigkeit einer anderen Wirtschaftspolitik auch auf der nationalen Ebene hin. Die reichliche Überschussliquidität der Vermögenden und Unternehmen setzt auch den Staat immer mehr unter Druck, die öffentliche Daseinsvorsorge für profitorientierte Unternehmen zu öffnen und zu privatisieren. Eine weitere wesentliche Triebkraft für die Finanzmarktorientierung ist hier auch die Privatisierung der Altersvorsorge. Eine „Riester- und Rürup-Rente“ hätte es nie geben dürfen. Drohende Altersarmut wird damit nicht bekämpft. Für die Alterssicherungssysteme müsste stattdessen eine deutliche (Rück-)Verlagerung der privaten Altersvorsorge in die gesetzliche und solidarische Sozialversicherung mit Umlagefinanzierung herbeigeführt werden. Ergänzend dazu ist zur Reduktion des gesamtwirtschaftlichen Arbeitsangebots das generelle Renteneintrittsalter wieder auf 65 Jahre abzusenken, bei besonders belasteten Beschäftigungsgruppen auf 63 Jahre. Die Beitragsbemessungsgrenze in der Rentenversicherung ist merklich anzuheben, und die Angleichung der Renten zwischen Ost- und Westdeutschland muss unverzüglich durchgesetzt werden. Auch Selbstständige sind in das Rentensystem zu integrieren.
Die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik hat zudem immer wieder aufgezeigt und vorgerechnet (zuletzt ausführlich im MEMORANDUM 2017), dass eine Rückkehr zur Vollbeschäftigung ohne eine drastische kollektive Arbeitszeitverkürzung in Richtung 30-Stunden-Woche bei vollem Lohn- und Personalausgleich nicht mehr möglich ist. Zusätzlich ist der Aufbau eines öffentlich geförderten Beschäftigungssektors nötig, um vor allem Langzeitarbeitslosen einen Einstieg in den Arbeitsmarkt zu ermöglichen Die neu zu schaffenden mindestens 500.000 Stellen müssen sozialversicherungspflichtig sein und ein existenzsicherndes Einkommen garantieren. Dabei muss es sich um neue gemeinwohlorientierte Stellen handeln, die von regionalen Beiräten zu vergeben sind.
Eine Arbeitszeitverkürzung ist dabei gleichzeitig auch ein Instrument zur Abschöpfung der hohen funktionslosen und völlig ungleich verteilten Nettogeldvermögensbildungen in den privaten Haushalten und Unternehmen. Dadurch würde sich zwar die Rentabilität der Unternehmen verschlechtern. Diese bewegt sich aber auf einem sehr hohen Niveau. Es bliebe auch bei einer Absenkung der Profitrate hinreichend Geld für innovative Investitionen übrig. Der geringeren Rentabilität stünden höhere Einkommen bei den abhängig Beschäftigten sowie weniger Arbeitslosigkeit gegenüber – und damit eine Nachfragebelebung und infolgedessen Wohlstandsmehrung insgesamt.
Eine Umverteilung der Wertschöpfung zu den abhängig Beschäftigten verlangt auch, neben verteilungsneutralen Reallohnsteigerungen, nach Gewinn- und Kapitalbeteiligungen. Dabei würden die abhängig Beschäftigten an den versteuerten Gewinnen der Unternehmen beteiligt, sodass sie danach den erhaltenen Gewinn auch in Kapitalbeteiligungen umwandeln könnten. Dies wäre ein taugliches Instrument zur Bekämpfung der kontraproduktiven hohen Vermögenskonzentration.
Die Einführung eines von Anfang an mit 8,50 Euro brutto je Stunde zu niedrig angesetzten gesetzlichen Mindestlohns hat zu wenig zur Verbesserung der prekären Lage an den Arbeitsmärkten und der allgemeinen Lebenssituation beigetragen. Zwar ist die Zahl der Beschäftigten mit Niedriglöhnen von 20 Prozent (2014) auf 17 Prozent (2016) zurückgegangen. Doch trotz des Gesetzes bekamen 2016 rund 2,7 Millionen Beschäftigte in Deutschland nicht den gesetzlichen Mindestlohn, wie gerade eine Studie des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Instituts (WSI) herausgefunden hat. So verdienten 2016 rund 43 Prozent der Beschäftigten in privaten Haushalten weniger als 8,50 Euro pro Stunde. Im Hotel- und Gaststättengewerbe waren es 38 Prozent, im Einzelhandel etwa 20 Prozent. Auch wenn der zurzeit geltende gesetzliche Mindestlohn von 8,84 Euro zum Jahreswechsel 2018/2019 voraussichtlich um 4,8 Prozent auf 9,19 Euro steigen sollte, ist er immer noch ein Armutslohn. Die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik fordert deshalb einen Mindestlohn von brutto 12,00 Euro die Stunde. Dies würde bei einer 35-Stunden-Woche einem Bruttoarbeitsentgelt von 1.806 Euro pro Monat entsprechen. Für den dringend notwendigen sozial-ökologischen Umbau wiederholt die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik die schon alte Forderung nach einem staatlichen Investitions- und Ausgabenprogramm von jährlich 120 Milliarden Euro. Die Ausgaben verteilen sich auf die Bereiche Bildung (25 Milliarden Euro), Verkehrsinfrastruktur und Digitalisierung (15 Milliarden Euro), kommunale Ausgaben (10 Milliarden Euro), sozialer Wohnungsbau und energetische Gebäudesanierung (20 Milliarden Euro), lokale Pflegeinfrastruktur (20 Milliarden Euro) und zusätzliche Arbeitsmarktausgaben (30 Milliarden Euro), inklusive der Mittel für eine Erhöhung der Hartz-IV-Sätze.
Zur sofortigen Finanzierung des Investitions- und Ausgabenprogramms wird dringend eine staatliche Kreditaufnahme angemahnt. Zum Investitionsstau hat die Schuldenbremse massiv beigetragen. Dringend geboten ist eine Rückkehr zur „goldenen Regel“ der Finanzpolitik: Der Staat muss sich im Umfang seiner Nettoinvestitionen wieder fremdfinanzieren können. Damit würde er seine Ausgabenflexibilität erhöhen und zu aktuell überaus niedrigen Zinsen Investitionen mit hoher gesellschaftlicher Rendite anstoßen können.
Ergänzend muss es endlich zu einer gerechten Steuerpolitik kommen:
• Zur Abschöpfung der in Deutschland reichlich vorhandenen Liquidität, einer „räuberischen Ersparnis“ (John Maynard Keynes), ist eine einmalig auf zehn Jahre gestreckte Vermögensabgabe von 20 Prozent einzuführen. Zusätzlich ist wieder eine dauerhafte Vermögensteuer einzuführen. Der Steuersatz ist auf 2 Prozent des gesamten persönlichen Nettovermögens (Geld- und Sachvermögen) von mehr als 500.000 Euro zu erheben.
• Bei der Besteuerung von Kapitalunternehmen ist der Körperschaftsteuersatz von derzeit 15 auf 30 Prozent anzuheben. Ausgeschüttete Gewinne aus der Veräußerung von inländischen Unternehmensbeteiligungen sind nicht länger steuerfrei zu stellen.
• Die Gewerbesteuer ist in eine Gemeindewirtschaftsteuer auszubauen. Hier sind u.a. auch alle freien Berufe mit Befreiungsgrenzen in die Steuerpflicht zu nehmen.
• Die Kapitaleinkünfte sind wieder mit dem persönlichen Einkommensteuersatz zu besteuern. Um die Besteuerung von Einkommen gerechter zu gestalten, fordert die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik, den Tarifverlauf bei der Einkommensteuer (Grenzsteuersatz) oberhalb eines deutlich erhöhten Grundfreibetrages beginnen zu lassen und durchgehend linear bis zu einem Spitzensteuersatz von 53 Prozent festzuschreiben. Das Ehegattensplitting sollte abgebaut und auf die Übertragung des nicht ausgeschöpften Freibetrages der Ehepartnerin bzw. Ehepartners begrenzt werden.
• Der Solidaritätszuschlag muss bleiben. Die Einnahmen werden zur Förderung strukturschwacher Regionen in Ost und West benötigt. Dauerhafte Armutsgebiete und die massenhafte Abwanderung von Arbeitssuchenden müssen verhindert werden.
• Um die Personalnot in den Finanzverwaltungen, insbesondere im Bereich der Betriebsprüfung, zu beseitigen, fordert die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik eine Aufstockung der Beschäftigten entsprechend der Personalbedarfsplanung.
• Im Rahmen der europäischen und weltweiten Besteuerung sind die Einführung einer Finanztransaktionsteuer und die bedingungslose Schließung sämtlicher Steueroasen mehr als überfällig. Die Bundesregierung und die EU-Kommission versagen hier auf ganzer Linie.
Abschließend verweist die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik hier noch einmal auf die allgemeine ordnungspolitische Forderung nach Wirtschaftsdemokratie. Dazu hat sie bereits im MEMORANDUM 2007 geschrieben: „Das dominant gewordene System eines Finanzmarkt-Kapitalismus verlangt nach einer grundsätzlichen Korrektur. Mit Reformen oder einer ausschließlichen makroökonomischen Politik ist den kapitalistischen Verwerfungen nicht mehr beizukommen.“
© März 2018 Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik