In Deutschland sind offiziell 47,5 Millionen Menschen erwerbstätig, so viele wie nie zuvor. Das entspricht einer Quote von 77 Prozent aller Personen im Alter zwischen 15 und 65 Jahren. 35 Millionen von ihnen sind sozialversicherungspflichtig beschäftigt, doch arbeitet die Hälfte der erwerbstätigen Frauen, meist unfreiwillig, in unterbezahlter Teilzeit oder Minijobs. Dagegen sind 3,5 Millionen Menschen erwerbslos bzw. unterbeschäftigt bei 750.000 gemeldeten offenen Stellen.
Im vergangenen Jahr stieg die Arbeitsproduktivität gesamtwirtschaftlich um gut ein Prozent, im verarbeitenden Gewerbe um drei Prozent und in der Autoindustrie um mehr als fünf Prozent. Gleichzeitig erhöhte sich die Zahl registrierter arbeitsloser Menschen auf knapp 2,8 Millionen, ebenso die Anzahl der ausschließlich geringfügig Entlohnten auf 4,25 Millionen.
Während die Unternehmen lautstark einen Fachkräftemangel beklagen, bleiben 2,5 Millionen junge Menschen zwischen 20 und 34 Jahren ohne eine abgeschlossene Ausbildung zurück.
Laut dem Bundesinstitut für Berufsbildung gingen die Ausbildungsverträge 2024 um 0,5 Prozent gegenüber 2023 auf 486.700 zurück, gleichzeitig blieben aber fast 70.000 Ausbildungsplätze unbesetzt. Im vergangenen Jahr bildeten nur knapp 19 Prozent aller Betriebe aus.
Die Unternehmen denken hauptsächlich einzelbetrieblich, d.h. sie bilden nur dann aus, wenn sie Netto-Ausbildungserträge schon während der Ausbildung erwirtschaften oder nach der Ausbildung die Ausgebildeten an ihren Betrieb binden können. Ansonsten verlegen sie sich lieber auf eine Abwerbestrategie ausgebildeter Arbeitskräfte im In- und Ausland.
Verfehlte Bildungspolitik
Das Berufsbildungsgesetz (BBiG) von 1969 war ein Versuch zur teilweisen Vergesellschaftung der Berufsbildung. Damals hatte die sozialliberale Koalition – auch in Reaktion auf Lehrlingsproteste, investigative Presseartikel und kritische wissenschaftliche Studien – das Berufsbildungsgesetz und danach eine Reihe von Verordnungen (wie die Modernisierung der Ausbildungsordnungen oder die Ausbilder-Eignungsverordnung) erlassen. Ziel war eine Qualitätsanhebung der Ausbildung. Die Lehrlinge sollten von nun an nicht nur Auszubildende heißen, sondern auch Auszubildende sein.
Schon in den 1960er Jahren wurde ein Rückgang der Ausbildungsbereitschaft der Unternehmen befürchtet. Gegensteuern sollte eine überbetriebliche Finanzierung der Berufsausbildung, indem ein Ausbildungsfonds konzipiert wurde. Die organisierte Unternehmerschaft lehnte dies aber ab und versprach, dass es nicht zu einem Lehrstellenrückgang käme und die Politik verließ sich auf das Versprechen. Doch schon kurze Zeit später, wie vorausgesagt, kam es zu dem massiven Lehrstellenrückgang.
Die Bundesregierung reagierte darauf mit dem Ausbildungsplatzförderungsgesetz von 1976, das die Drohung einer Umlagefinanzierung der Berufsausbildung enthielt. Die gesetzliche Regelung sollte in den Jahren umgesetzt werden, in denen ein von der Bundesregierung erstellter Berufsbildungsbericht weniger als ein Überangebot von 112,5 pro 100 nachgefragten Ausbildungsplätzen feststellte. Das Gesetz ist 1980 durch eine Klage des Landes Bayern vor dem Bundesverfassungsgericht wegen der fehlenden Zustimmung des Bundesrates zu Fall gebracht worden und der Ausbildungsplatzmangel wurde zu einer Dauereinrichtung in der Bundesrepublik.
Seit den 1980er Jahren bis in die 2000er Jahre wurde der Dauermangel mit den „geburtenstarken Jahrgängen“, später mit der mangelnden Ausbildungseignung der Jugendlichen begründet. Anschließend beließ man es bei einer hilflosen Appellpolitik an die Betriebe. Von einer Vergesellschaftung der Ausbildung sprach man nur noch selten, wie z.B. von der zaghaften Verlagerung von Teilen der Ausbildung in überbetriebliche Ausbildungsstätten, die Verlängerung des Berufsschulunterrichts oder von den Ausbildungsprämien. Im Jahr 2023 gab es nur drei Prozent der gemeldeten Ausbildungsstellen als außerbetriebliche Angebote.
Der Ausbildungsplatzmangel ist somit bis heute der ständige Begleiter junger Menschen.
Im Koalitionsvertrag der damaligen Ampelregierung wurde 2021 versprochen: „Mit den Ländern bauen wir die Berufsorientierung und Jugendberufsagenturen flächendeckend aus. Wir wollen eine Ausbildungsgarantie, die allen Jugendlichen einen Zugang zu einer vollqualifizierenden Berufsausbildung ermöglicht, stets vorrangig im Betrieb. In Regionen mit erheblicher Unterversorgung an Ausbildungsplätzen initiieren wir bedarfsgerecht außerbetriebliche Ausbildungsangebote in enger Absprache mit den Sozialpartnern“.
Die von den Ampelparteien und der Bundesregierung beschlossene Ausbildungsgarantie ist aber an zahlreiche Bedingungen geknüpft, sodass man kaum noch von einer „Ausbildungsgarantie“ sprechen kann. Die Garantie soll sich keineswegs auf alle Jugendlichen erstrecken, sondern neben dem Nachweis „hinreichender Bewerbungsbemühungen“ nur für diejenigen gelten, die „in einer Region wohnen, in der die Arbeitsagenturen eine erhebliche Unterversorgung an Ausbildungsplätzen festgestellt haben“.
Die so definierte Unterversorgung liegt erst dann vor, wenn auf 100 gemeldete betriebliche Berufsausbildungsstellen mehr als 110 gemeldete Bewerber kommen. So eine Situation trifft nur auf 19 der insgesamt 150 Agenturbezirke zu, somit garantiert die Ausbildungsgarantie nur einem geringen Teil der bei der Ausbildungsplatzsuche leer ausgegangenen jungen Menschen einen Ausbildungsplatz.
Unter solchen Voraussetzungen wird sich am Ausbildungsmangel auch mit der neuen schwarz-roten Regierung nichts Wesentliches ändern.
Erschwerend kommt hinzu, dass in den Ministerien, Behörden, Parteien und den Medien kaum noch Leute anzutreffen sind, die sich mit dem Ausbildungssystem und der praktischen Berufsausbildung auskennen. Sie glauben den Unternehmen einfach, dass sie Auszubildende „händeringend“ suchen.
Betriebliche Ausbildung
Wer meint, dass die Betriebe angesichts des „Fachkräftemangels“ ihre Ausbildungsanstrengungen steigern würden, der täuscht sich, wie die Datenlage zeigt. Nicht einmal mehr jedes fünfte Unternehmen bildet hierzulande noch aus.
So irrt man, wenn man denkt, wenn ein Betrieb einen hohen Fachkräftebedarf hat, müsste er besonders viel ausbilden. Dagegen spricht, dass die Entscheidung für eine Ausbildung nicht nur vom Fachkräftebedarf, sondern von einer Vielzahl von Faktoren abhängt. So lautet die Generalthese, dass, wenn die Ausbildung einzelbetrieblich finanziert wird, kein rational handelnder Betrieb die Kosten dafür übernehmen wird.
Dies lässt sich mit unterschiedlichen theoretischen Ansätzen begründen:
Der Humankapitalansatz ist von Vertretern der marktradikalen neoliberalen Schule entwickelt worden. Er sagt, dass eine bessere Qualifikation von Arbeitskräften zwar höhere Erträge bringt, sie erfordert aber auch entsprechende Investitionen. Ein Unternehmen wird aber nur dazu bereit sein, wenn es die Arbeitskraft nicht generell, sondern spezifisch ausbilden kann. Allen Beteiligten ist bekannt, dass die generelle Qualifizierung einer Arbeitskraft ihre Produktivität in zahlreichen Betrieben verbessert und bei vollständiger Konkurrenz sich alle Betriebe um den Ausgebildeten bemühen und ihm ein Lohnangebot unterbreiten, das durch den Markt bestimmt wird. Bei einem Unternehmen allerdings, das die Kosten der Qualifizierung teilweise oder ganz übernommen hätte, könnte dem Ausgebildeten nur den Ausgebildetenlohn zahlen, also den Marktlohn abzüglich der Ausbildungskosten. Wenn es ihm jedoch den Marktlohn zahlen würde, könnte es keinen Vorteil mehr aus der generellen Qualifizierung ziehen.
Genauso wenig Erfolg hätte der Ausbildungsbetrieb, wenn er dem Beschäftigten nur den Ausgebildetenlohn zahlen würde. Die Arbeitskraft würde in diesem Fall zu einer Konkurrenzfirma wechseln, die den Marktlohn zahlen könnte, da sie ihre Qualifizierung nicht finanziert hat. Der Ausbildungsbetrieb hätte dann nicht nur einen Wettbewerbsnachteil, indem er die Kosten für die Ausbildung getragen hat, sondern auch dadurch, dass ein Konkurrent die Erträge aus seinen Qualifizierungsanstrengungen erzielen würde.
Im Ergebnis heißt das, dass rational handelnde Unternehmen bei vollständiger Konkurrenz nur dann generelle Qualifizierung durchführen, wenn sie die Kosten nicht zu tragen haben.
Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt man nach der Arbeitskrafttheorie von Karl Marx. Danach ist die Arbeitskraft im Kapitalismus doppelt frei: frei von Produktionsmitteln, aber auch frei, jederzeit das Unternehmen zu wechseln. Die Arbeitskraft gehört nicht dem Unternehmen, somit wird ein Unternehmen aber nicht in etwas investieren, das ihm nicht gehört.
Der Grundsatz lautet also: Wenn die Ausbildung einzelbetrieblich finanziert wird, wird kein ökonomisch rational handelnder Betrieb in eine generelle Ausbildung investieren.
Es stellt sich aber die Frage: Wie kann es sein, dass fast 20 Prozent der Unternehmen dennoch ausbilden?
Da gibt es zwei Ausnahmen vom Grundsatz:
- Nutzungsthese
Die besagt, bei der Ausbildung fallen keine Kosten für das Unternehmen an, sondern bereits während der Ausbildung werden (Netto-)Erträge erwirtschaftet. Das Interesse an der Arbeitskraftnutzung der Auszubildenden bereits während der Ausbildung steht besonders bei Kleinbetrieben im Vordergrund. Es führt aber zur Fehlausbildung in wenig zukunftsorientierten Berufen und geht zulasten der Ausbildungsqualität. Deswegen sind Indikatoren der Ausbildungsqualität wie der Ausbildungsabbruch und die Durchfallquoten in der Abschlussprüfung bei Kleinbetrieben am höchsten.
So haben Kleinstbetriebe mit einem bis neun Beschäftigten im Jahr 2020 nur 55 Prozent ihrer Ausgebildeten nach Beendigung der Ausbildung in eine Beschäftigung übernommen, bei Großbetrieben (mit 500 und mehr Beschäftigten) waren es stattdessen 88 Prozent. Versuche, die Ausbildungsqualität zu erhöhen, haben regelmäßig zu quantitativen Problemen in der Ausbildungsversorgung geführt, weil weniger Betriebe ausbildeten.
- Betriebsbindungsthese
Hier versuchen die Unternehmen, die Ausgebildeten an den Betrieb zu binden. Das wichtigste Mittel der Betriebsbindung ist vor allem eine betriebsspezifische Ausbildung, die verhindern soll, dass die Ausgebildeten nach dem Ende der Ausbildung den Betrieb verlassen. Konkurrierende Betriebe könnten mit den spezifischen Qualifikationen der Ausgebildeten wenig anfangen, sehr wohl aber der Betrieb, der die betriebsspezifische Ausbildung selbst durchgeführt hat. Eine betriebsspezifische Ausbildung und betriebliche Gratifikationen kann insbesondere in Großbetrieben realisiert werden.
Welche der beiden Ausnahmen von den Unternehmen bevorzugt wird, hängt von den jeweiligen konkreten inner- und außerbetrieblichen Bedingungen ab. Genannt seien hier die sachlichen und personellen Voraussetzungen für eine Ausbildung, die Branchenzugehörigkeit, die Berufsstruktur, die Betriebsgröße, die Konkurrenzsituation, der regionale Arbeitsmarkt, die Konjunkturlage und die gesetzlichen Bestimmungen.
Zusammenfassend kann man sagen, dass der Fachkräftebedarf für die Ausbildungsentscheidung eines Unternehmens nur eine untergeordnete Rolle spielt. So bilden einerseits sehr viele Betriebe nicht aus, obwohl sie einen Fachkräftebedarf haben, während umgekehrt Betriebe ausbilden, obwohl sie keinen Fachkräftebedarf haben.
Systemwechsel in der Berufsbildung erforderlich
Im Jahr 2024 bekamen nicht einmal 70 Prozent aller bei der Bundesagentur für Arbeit gemeldeten Jugendlichen einen Ausbildungsplatz. Weniger als jedes fünfte Unternehmen bildet hierzulande noch aus. Auf der anderen Seite gibt es aber ein riesiges Potenzial an jungen Menschen die keine Ausbildung finden. Über 220.000 Jugendliche stecken jedes Jahr in den sogenannten Übergangsmaßnahmen zwischen Schule und Ausbildung fest, hinzu kommen über 2,3 Millionen junge Menschen im Alter zwischen 20 und 34 Jahren, die keinen Berufsabschluss haben. Diesen Menschen droht ein Leben in prekärer Beschäftigung, Arbeitslosigkeit und Armut.
Quellen: destatis, Ausbildungsmarktstatistik, Berufsbildungsreport, BA, BDA, Hans Boeckler Stiftung, WAZ, Junge Welt, TAZ, Makroskop, Berufsbildungsgesetz, Bundesinstitut für Berufsbildung, Berufsbildungsbericht 2023 der Bundesregierung, EU-Studie Berufsausbildung, DGB-Jugend Bildbearbeitung: L.N.