Blackout in Spanien — ein von Spekulationen und Lügen verdecktes Warnzeichen

Von Giorgio Ferrari

Wie jedes ungewöhnliche Ereignis von einer gewissen Relevanz ist auch der spanische Stromausfall vom 28. April, der (mittlerweile) unkontrollierbaren Flut der Massenkommunikation zum Opfer gefallen.

Nahezu alles darüber wurde zunächst von den Medien verbreitet, falsch oder verfälscht mit dem Ergebnis einer derartigen Konfusion, dass der tatsächliche Ablauf – soweit er überhaupt irgendwann nachgewiesen wurde – keine Bedeutung mehr hatte. Aber der Reihe nach.

Der Ausfall war vor allem kein totaler, wie beim italienischen Blackout von 2003, bei dem sämtliche Generatoren getrennt wurden und einzeln neu gestartet werden mussten. Das beweist der erheblich kürzere Zeitraum bis zur Wiederherstellung des spanischen Netzes gegenüber dem von 2003 in Italien.

Hinsichtlich der Ursachen war die Rede von angeblichen atmosphärischen Extremsituationen, von Unterbrechung der Stromlieferung aus Frankreich (insbesondere von einem großen Atomkraftwerk), von der Anfälligkeit des europäischen Netzes, in das Spanien (wegen seiner geographischen Lage) nicht voll integriert sei, und natürlich von einem Angriff der notorischen russischen Hacker.

Lassen wir das Gerede vom Hackerangriff und den Wetterstörungen beiseite und schauen die über das europäische Netz verbreiteten Behauptungen genauer an.

Es handelt sich dabei um ein sehr weit gespanntes Verbundsystem der Übertragung der Elektroenergie, und der tatsächliche Energieaustausch zwischen den einzelnen europäischen Ländern betrifft nur einen geringen Prozentsatz der in Europa produzierten Energie; deshalb ist die Annahme völlig abwegig, dass bei einem Ausfall in einem Land automatisch das Nachbarland (ganz zu schweigen ganz Europa) allein auf Grund einer bestehenden Leitungsverbindung als Reserve dienen könnte.

Vor allem gibt es eine technische Grenze, die nicht überwunden werden kann: Jede elektrische Leitung verträgt nur eine bestimmte Belastung, weshalb der Austausch zwischen zwei Ländern von der Zahl der Verbindungen abhängt, und die sind aus Sicherheitsgründen nicht so zahlreich wie man denkt.

Ein elektrisches Netz besteht aus „Maschen“ mit dem doppelten Zweck einer ausgeglichenen Verteilung der Netzbelastung, und der Abgrenzung eines Bereichs, damit im Falle eines lokalen Schadens nicht das ganze Netz in Mitleidenschaft gezogen wird. So geschieht es im Fall örtlicher Stromausfälle, wenn in einem Teilgebiet das Licht ausgeht, während im Rest des Landes alles normal funktioniert. Würde dieses Konzept auf das gesamte europäische Stromnetz übertragen, entstünde durch eine vollständige Vernetzung der Länder mit zahlreichen Leitungen ein erhebliches Risiko. Ein Blackout wie der in Spanien könnte dann weitaus gravierendere Kettenreaktionen auslösen als jene, die bislang in Portugal und Frankreich beobachtet wurden.

Im Grunde ist für jedes Land eine Selbstversorgung durch ein autonomes Stromnetz anzustreben, um in jeglicher Situation bestehen zu können, inbegriffen die erneute Inbetriebnahme nach einem Blackout oder die Notwenigkeit, das System ohne äußere Energiezufuhr zu starten, indem alle Verbraucher vom Netz abgekoppelt werden.

Aber wozu dient dann ein europäisches Stromnetz? Abgesehen vom normalen Energieaustausch von Ländern, wie er in 24 Stunden vorkommt und grenznahe Zonen betrifft, findet keinerlei Übertragung von Energie über längere Strecken statt, da die Leistungsverluste für die normalen Wechselstromleitungen zu hoch wären.

Der deutlichste Vorteil der der europäischen Vernetzung liegt letztendlich in der Stabilisierung von Spannung und Frequenz: im europäischen Netz liegt die maximal zulässige Frequenzschwankung bei 1% (50 Hertz ± 0,5) und die Spannungsschwankung bei 10% (220 V± 22) allerdings für begrenzte Dauer.

Zu den Ursachen des Stromausfalls (in komplexen Systemen sollte von mehreren Ursachen gesprochen werden) gehört sicher eine außergewöhnliche Schwankung der Netzfrequenz. Sehen wir weshalb.

Schauen wir auf die Daten von Red electrica de España (dem Netzbetreiber). Am 28. April stand das Netz um 12:35 (3 Minuten vor dem Blackout) rechnerisch folgendermaßen: Leistungsabgabe 33.847 MW davon 26.758 (79%) aus erneuerbaren Quellen, und 7.084 MW (21%) aus nicht Erneuerbaren.

Um 12:35 dann dieser Stand: Von 13.786 verfügbaren MW kamen 12,652 MW (92%) aus erneuerbaren, und 1.161 (8%) aus nicht erneuerbaren Quellen, während um 13:40 der tiefste Stand erreicht war mit einer verfügbaren Leistung von 9.516 MW, wovon 8.676 aus erneuerbaren und lediglich 840 MW aus nicht erneuerbaren Quellen: das entspricht einem Gaskombikraftwerk von 326 MW und ein paar zusätzlichen Nebenanlagen.

Die verfügbare Leistung war um mehr als zwei Drittel abgesunken aber nicht auf Null, so dass die Wiederaufnahme des ganzen Netzbetriebes nach etwa zwanzig Stunden möglich war.

Der Ablauf dieses Vorgangs hat in ein paar Sekunden etwa 15.000 MW außer Betrieb gesetzt, davon etwa 80% der kombinierten Zyklen – 60% des Solarstroms und etwa 25% der Wind- und Wasserkraft.

Damit sind wir praktisch von einem Netz – in dem 79 % der Leistung aus erneuerbaren Quellen und 21 % aus nicht erneuerbaren stammte – übergegangen in ein noch größeres Ungleichgewicht mit 92 % aus erneuerbaren und 8 % aus nicht erneuerbaren Quellen.

Um das zu verstehen, müssen wir uns die spezifischen Merkmale klar machen, die mit der Gewinnung von Energie aus erneuerbaren und nicht erneuerbaren Quellen verbunden sind.

Abgesehen von Wasserkraftwerken erzeugt erneuerbare Energiegewinnung keinen Wechselstrom, sondern Gleichstrom; dieser muss zur Einspeisung ins Netz durch einen Wechselrichter in Wechselstrom umgewandelt werden. Im Gegensatz dazu erzeugen von nicht erneuerbaren Quellen betriebene Kraftwerke oder Wasserkraftwerke nicht nur Wechselstrom und bestimmen die Netzfrequenz, sondern umfassen zudem erhebliche rotierende Massen (Turbinen) deren Trägheit eine beachtliche Kraftreserve darstellt, welche im Fall einer plötzlichen Abschaltung der Stromerzeugung innerhalb gewisser Spielräume einen relativ entspannten Umgang mit dem Notfall erlaubt.

Je mehr Geräte mit rotierenden Teilen ein Netz umfasst, umso größer ist seine Zuverlässigkeit in puncto Frequenzstabilität als dem wichtigsten zu berücksichtigenden Faktor, indem wie gesagt lediglich eine Abweichung von 0,5 Hertz zulässig ist; wird dieser Wert überschritten, so löst das automatisch Netzsicherungen aus, die dann anfangen entweder die Nutzer oder andere Geräte der Stromerzeugung abzuschalten.

Im Fall von Spanien war – falls sich das Auftreten von Störungen in einigen Solaranlagen bewahrheitet – der geringe Anteil von rotierenden Geräten (also der immanenten Reserve) nicht in der Lage, der plötzlichen Anforderung nachzukommen; diese hat sich auf die Geräte wie ein Beschleuniger ausgewirkt und sofort die Umdrehungsgeschwindigkeit erhöht, bis im Netz der Ausschalter für Überschreitung der Frequenzschwankung, oder der für Maximalgeschwindigkeit ausgelöst wurde, sodass eine Kettenreaktion alle weiteren Geräte erfasste.

Ja, es gibt innovative Techniken für den Netzbetrieb; sie heißen FFR (Fast Frequency Response, Schnellreaktion bei Frequenzabweichung) und können die Trägheit rotierender Maschinen kompensieren, indem sie eine eventuelle Frequenzabweichung vorwegnehmen, der zu einer Störung führen könnte. Bei dem texanischen Netzbetreiber ERCOT mit einem Anteil erneuerbarer Energie von 55% ist aber der Empfindlichkeitsbereich für Frequenzabweichungen so gering, dass Warnsignale unnötige Netzunterbrechungen auslösen.

Trotz aller (echten) im Bereich komplexer Systeme erreichter Fortschritte und verführerischen Beschreibungen von Smart Grids (intelligenten Netzen) ist das Problem noch nicht gelöst, wie man ein Stromnetz sicher betreiben kann, das ganz oder überwiegend aus erneuerbaren Quellen gespeist ist.

Nicht von ungefähr oder aus ideologischen Vorurteilen gegenüber den Erneuerbaren (wie ich wiederholt geschrieben habe), schreibt der italienische Netzbetreiber Terna in seinen Berichten, man müsse bis mindestens 2030 eine 40.000 MW entsprechende Leistung weiterhin mit Turbinen erzeugen.

Das bedeutet nicht, wie die Gegner der Erneuerbaren angesichts des spanischen Falles schreiben, dass an allem der Solarstrom schuld ist; aber man darf auch nicht so tun, als ob das Problem hier und jetzt nicht bestünde, oder dass es mit den grandiosen Fähigkeiten des Kapitalismus gelöst werden könnte, falls wir irgendwann damit konfrontiert werden.

Der spanische Blackout ist als das zu nehmen, was es ist: Eine Warnung für alle, welche sich diese Energiewende unbesehen zu eigen gemacht haben in der Annahme, dass es zur Lösung des Problems des Klimawandels genügen würde, die fossilen Energiequellen durch erneuerbare zu ersetzen, um dann festzustellen, dass wie in der kapitalistischen Produktion jede Neuerung neue und kompliziertere Widersprüche mit sich bringt.

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Der Autor: 

Giorgio Ferrari, geboren 1944, machte seinen Abschluss als Experte für Kernenergie am Enrico-Fermi-Institut in Rom, der damals einzigen Schule in dieser Disziplin in Italien. Nach ersten Erfahrungen bei der Senn (Società Elettronucleare Nazionale), die gerade den Bau des Kernkraftwerks Garigliano abgeschlossen hatte, wechselte er zum CRN als Forschungsassistent auf dem ozeanographischen Schiff Bannock und anschließend zum Infam (Institut für Atmosphärenphysik und Meteorologie). 1967 trat er in den Nuklearsektor von Enel ein und widmete sich hauptsächlich der Entwicklung von Atomkernen und -brennstoffen, für die er die Fertigungskontrolle für alle Enel-Kraftwerke übernahm, eine Position, die er bis 1987 innehatte, als er nach dem Unfall von Tschernobyl aus Gewissensgründen verweigerte. Danach war er in verschiedenen Ländern Lateinamerikas, des Nahen und Fernen Ostens im Auslandssektor von Enel tätig. 1972 trat er dem Politischen Komitee von Enel bei, einer Basisorganisation, die in jenen Jahren begann, eine Kritik am herrschenden Energiemodell und insbesondere an der Kernenergie zu entwickeln, indem sie die Kämpfe der Anti-Atomkraft-Bewegung unterstützte und förderte. Als enger Mitarbeiter von Dario Paccino war er Mitherausgeber der Zeitschrift „rossovivo“ und gehörte 1977 zu den Gründern von „Radio Ondarossa“, mit dem er noch immer zusammenarbeitet.

 

 

 

 

 

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