Der Envio Prozess wurde eingestellt und Dortmund schweigt

Es war so, als hätte man eine lästige Fliege, die tagtäglich nervte, endlich erledigt.

Das Kapitel Envio ist zu den Akten gelegt, das Verfahren vor dem Landgericht gegen die Geschäftsführer der Firma, die den PCB-Skandal auslöste, ist eingestellt.

Das Stillschweigen in der Stadt zeigt, dass hier am ganz großen Rad gedreht wurde, bei der die Bundesregierung, die frühere Landesregierung, Bezirksregierung und die Stadt Dortmund viel tiefer verwickelt sind, als bekannt ist.

Die Firma Envio im Dortmunder Hafen hat über Jahre bei ihrem Betriebsablauf die Umwelt mit dem Gift PCB verseucht. Die Behörden haben Envio und deren Nachbarbetriebe gewähren lassen, eine Kontrolle fand faktisch nicht statt. Neben dem Hafen sind auch die angrenzenden Kleingartenanlagen, der Fredenbaumpark, der Kanal und das umliegende Wohn­gebiet davon betroffen. PCB ist eins der gefährlichsten Umweltgifte, man kann es nicht riechen, sehen oder schmecken. Der PCB-Skandal ist einer der größten Umweltskandale der letzten 10 Jahre in Deutschland. Er wurde erst im Mai 2010 bekannt, als ein mutiger Beschäftigter von Envio sich an die Presse wandte.

Das Recyclingunternehmen Envio hatte sich auf die Entsorgung von PCB-haltigen Transformatoren spezialisiert. Diese wurden aber unsachgemäß entsorgt, wobei das Gift in die Umgebung gelangte. Bei den Beschäftigten wurde später zum Teil eine PCB-Belastung gemessen, die bis zum 25.000-fachen über der Durchschnittsbelastung der Bevölkerung liegt. Viele leiden heute schwer unter den gesundheitlichen Folgen. Bei rund 300 Bewohnern im Umfeld, darunter auch Kinder, entdeckten die Ärzte ebenfalls erhöhte PCB-Blutwerte.

 

Als zum Jahresende 2013 seitens des gewerkschaftsforum-do.de einmal Bilanz gezogen wurde, zeigt sich deutlich, dass nichts Gravierendes zur Aufklärung des Skandals in den letzten 3 ½ Jahren geschehen ist. So stellte sich die Situation wie folgt dar:

– die strafrechtliche Verfolgung der Verantwortlichen ist zwar angelaufen, der Prozess zieht sich aber schleppend hin, er wurde bis in das Jahr 2014 terminiert und ist jederzeit von der Einstellung des Verfahrens bedroht

– die Sicherung des Betriebsgeländes ist nach wie vor nicht ausreichend gegeben

– das Insolvenzverfahren ist seit dem 05.12.2011 eröffnet, doch hat der Insolvenzverwalter noch nicht mit der Verwertung des Materials auf dem Betriebsgelände begonnen. Mit der Reinigung der verwertbaren Güter kann erst im neuen Jahre begonnen werden

–  die Sanierung kann erst nach der Verwertung beginnen, der Steuerzahler soll mit rund 7,5 Millionen Euro an den Kosten für die Sanierung beteiligt werden, der Verursacher der Umweltvergiftung kann voraussichtlich nicht belangt werden

– es ist davon auszugehen, dass weitere PCB-Quellen, außerhalb des Envio-Geländes vorhanden sind. Im Hafen und in seinem Umfeld gibt es immer noch Probleme mit hohen PCB-Immissionsbelastungen, seien sie verursacht durch Abwehungen vom Betriebsgelände um den ehemaligen Envio-Standort oder seien sie verursacht durch andere Emittenten, die mit PCB belasteten Metallen arbeiten

– die Bezirksregierung hat dem kasachischen Umweltministerium zwischen Dezember 2007 und Mai 2009 zwei Importgenehmigungen für PCB-haltige Kondensatoren im Gesamtumfang von 745 Tonnen erteilt. Envio legte der Bezirksregierung Entsorgungsbestätigungen vor, wonach insgesamt aber nur sechs Transporte mit 197 Tonnen Kondensatoren bei Envio angeliefert wurden. Die Westfälische Rundschau hat aber aufgedeckt, dass das kasachische Umweltministerium erklärt habe, insgesamt seien 400 Tonnen Kondensatoren verschickt worden. Wo sind die Tonnen geblieben, vielleicht noch im Hafenbereich in Dortmund bzw. bei derzeit noch nicht bekannten PCB-Metall-Entsorgungsbetrieben? Diese Fragen konnten bisher auch nicht in den entsprechenden Ratsausschüssen beantwortet werden

und

es gibt nach wie vor eine negative Verzehrempfehlung in den umliegenden Kleingartenanlagen.

 

Eine besonders traurige Rolle im PCB-Skandal spielte der DGB mit seinen Einzelgewerkschaften in Dortmund.

Die Gewerkschaften hätten von Anfang an lautstark die Arbeitsbedingungen in vielen Betrieben auf dem Hafengelände anprangern müssen, auch um den Beschäftigten in anderen Betrieben zu signalisieren, dass sich ihre Bedingungen durch Aufarbeitung des PCB-Skandals verbessern werden.

Während sich die DGB Vorsitzende auch nach fast einem Jahr nach Bekanntwerden des Skandals noch nicht positionieren und das in Auftrag gegebene Prognos-Gutachten erst abwarten wollte, war ihr Vorgänger schon Monate vorher in die „Mitmachfalle“ getappt und Moderator des „Runden Tisch PCB“ geworden. Er konnte in dieser Rolle kaum die Interessen der Beschäftigten vertreten oder die Arbeitssituation in vielen Betrieben im Dortmund Hafen thematisieren.

In einem Gespräch mit der DGB Vorsitzenden wurden gar die Aktivisten der Bürgerinitiative gescholten, die Arbeitsplätze im Hafengebiet durch ihr zu forsches Vorgehen zu gefährden, dh. dies wurde den langjährig aktiven ehrenamtliche Gewerkschaftern und auch den vom Envio-Gift betroffenen Arbeitern, die an dem Gespräch teilnahmen, ins Gesicht gesagt.

Was waren das denn für Arbeitsplätze?

Ein paar Beispiele:

– in dem Betrieb waren zum überwiegenden Teil Leiharbeiter in schlecht bezahlten Arbeitsverhältnissen unter hohen Gesundheitsbelastungen tätig, Mindestarbeitsschutzstandards wurden nicht eingehalten und sogar vorsätzlich unterlaufen, über 50 Beschäftigte wurden jahrelang hochgiftigen Polychlorierten Biphenylen (PCB) und Dioxinen ausgesetzt. Als Lohn zahlte Envio 7,50 Euro die Stunde

– bei der Demontage ausrangierter Transformatoren und Kondensatoren aus Umspannwerken kamen die Arbeiter mit hochgiftigem PCB-Öl und -Trockenstaub in Kontakt. Im Blut einiger Betroffener fand sich 25.000 mal mehr PCB als beim Durchschnitt der Bevölkerung

– der Arbeitsschutz und die Arbeitsmedizin wurden mit Füßen getreten und das bei einem Marktführer mit erheblichen Gewinnmargen. Es gab nicht mal Berufskleidung für die Beschäftigten, gearbeitet wurde in Privatkleidung, die Zuhause gewaschen wurde, mit der Folge, dass sich ganze Familien mit den giftigen Stoffen kontaminierten

– es gab keinen Betriebsrat, der auch für die Sicherheit der Beschäftigten gesorgt hätte, dafür gab es zersplitterte Belegschaftsstrukturen, die der kriminellen Geschäftspolitik nichts entgegenzusetzen hatten

– es gab keinen Akteur, der die fragwürdigen betriebsärztlichen Untersuchungen moniert hätte

– Berufsgenossenschaft und staatliche Behörden scheinen in dem Fall ihrer eigentlichen Verantwortung und Aufsichtspflicht in Sachen Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin nicht nachgekommen zu sein

– auch nach bekanntwerden der katastrophalen Verhältnisse im Betrieb und der PCB Belastungen der Beschäftigten waren diese vereinzelt und auf sich alleine gestellt

– es gab keinen Ansprechpartner für ihre Belange, Ängste, Sorgen und Nöte

– der Betrieb war nicht in der Lage alle Adressen (ehemals) Beschäftigter herauszugeben, so konnten z.B. dem Gesundheitsamt die Anschriften nicht bekannt gemacht werden

und

nach der Betriebsschließung durch die Bezirksregierung wurden die Mitarbeiter in den Zwangsurlaub geschickt. Ihre (berufliche) Zukunft erscheint bis heute sehr ungewiss.

 

 

Der Fall Envio hätte eine Chance für den Deutschen Gewerkschaftsbund und insbesondere für die IG Metall und die IG BCE sein können, um

– auf die betroffenen Leiharbeitnehmer aktiv zuzugehen

– als Sprachrohr und durch Vernetzungsarbeit konkrete Hilfe zu leisten und damit die Interessen der Beschäftigten wirksam zu vertreten

– mit aufzuklären, welche anderen Unternehmen in den Skandal verwickelt sind

Mitwirkung an der Aufarbeitung der strukturellen und personellen Verflechtungen des „Envio-Systems“, sowie der aufsichtsrechtlichen, umwelt- und arbeitsschutzrechtlichen Versäumnisse

– Aufarbeitung der arbeitsschutzrechtlichen Bedingungen mit Blickrichtung auf Schaffung von „guter Arbeit“

– Kontaktaufnahme zu den Belegschaftsmitgliedern und Benennung einer Ansprechperson für Leiharbeiter, als konkreter Beitrag zur Unterstützung und Stärkung von Leiharbeitern generell

– ausnahmsweise die Gewährung/Ausweitung der kostenlosen Rechtsberatung und in begründeten Ausnahmefällen auch des Rechtsschutzes für die geschädigten Arbeitnehmer bzw. für die Nichtmitglieder der DGB-Gewerkschaften, die in den verseuchten Hafenbetrieben gearbeitet haben

– Einforderung von Mitbestimmungsrechten gemäß den Möglichkeiten des Betriebsverfassungsgesetzes, auch bei Envio-Neugründungen (z.B.: aus „Envio Biogas“ wurde „Bebra“)

– auch in den anderen Hafenbetrieben dafür sorgen, dass die Beschäftigten den Schutz durch ihre gewählten Vertreter erhalten, auch um neuen Giftskandalen vorbeugen zu können

– Positionierung in der Öffentlichkeit und die Nutzung der gewerkschaftlichen Öffentlichkeitsarbeit und Kampagnefähigkeit, um die eklatanten Verstöße seitens der Firma Envio anzuprangern

– Einforderung einer tragfähigen Ansiedlungspolitik und Gewerbebestandspolitik im Dortmunder Hafen.

Von alledem war und ist vom DGB, der IG Metall und der IG BCE nichts zu hören.

 

Nun, weitere 3 ½ Jahre später, wurde nach exakt 1.790 Tagen nach der Verlesung der Anklageschrift der Envio Prozess am Landgericht Dortmund eingestellt, gegen Zahlung von 80.010 Euro an die 21 Nebenkläger.

Am 9. Mai 2012 ließ Dirk Neupert und die 3 Mitangeklagten verlauten: „Es gab überhaupt keinen PCB-Skandal“.

Sie waren angeklagt wegen Körperverletzung und Umweltverstößen.

Der Klagepunkt Körperverletzung wurde brüchig, da die Gutachter und Experten nicht den sicheren Nachweis führen konnten, dass die Beschwerden der betroffenen Arbeiter allein auf das PCB zurückzuführen seien.

Die Umweltverstöße wurden dadurch abgebügelt, dass das Gericht davon ausging, dass für eine Verurteilung nicht die tatsächliche Menge des freigesetzten PCB, sondern die Frage, wie sehr sich diese von der Menge abhebt, die der Betrieb auch bei Einhaltung sämtlicher Genehmigungsvorschriften ohnehin freigesetzt hätte.

Den Ausschlag aber gaben die vom Gericht bestellten Gutachter. Ein Arbeitsmediziner sah sogar überhaupt keine Verbindung zwischen einer PCB Kontaminierung und den Erkrankungen der Beschäftigten. Andere „Sachverständige“, unter anderem für die BASF tätig, fanden auch keine Zusammenhänge zwischen der festgestellten PCB Menge im Blut und den Arbeitsbedingungen, auch bestritten sie ein erhöhtes Krebsrisiko durch die Umweltgifte, die bei Envio freigesetzt waren.

Ganz im Sinne der Verteidigung der Envio Geschäftsführung lehnte das Gericht einen Gutachter der Nebenkläger ab und unterstellte, dass der Mann befangen sei, weil er auf einem Umweltkongress zusammen mit einem geschädigten Arbeiter an einer Diskussion teilgenommen hatte.

Solche Abläufe sind geläufig, wenn es um Nichteinhaltung von Arbeits-, Gesundheits- und Umweltschutz durch Unternehmen geht. Envio konnte über Jahre schalten und walten, weil Politik und Aufsichtsbehörden nicht handelten. Die Vergiftung der Arbeiter und der Anwohner spielte für das Gericht im größten Umweltstrafverfahren der letzten Jahre keine Rolle. Auf Wunsch der Verteidiger der Angeklagten gab es eine Einstellung des Verfahrens, der Richter spielte mit und drängte auf eine Beendigung des Prozesses und die Staatsanwaltschaft zog mit.

Doch für viele Betroffene und Beobachter war klar: Da geht es um Weisungsbefugnisse gegenüber der Staatsanwaltschaft, Waffendeals, Transformation von Sanierungskosten des privaten Verursachers in die öffentliche Hand und in die Hände der Opfer, Wildwuchs im Kontrolldickicht beim Regierungspräsidenten Arnsberg und anderer Behörden, personelle Ausdünnung von Aufsichtspersonal durch die damalige Landesregierung, Vorrang von prekärer Beschäftigung vor dem Schutz der Beschäftigten und Anwohnern, also der ganze Negativkatalog der Auswirkung von neoliberalen Wirtschaftens in der Dortmund Nordstadt.

Seit Bekanntwerden des PCB-Skandals fühlte sich Dirk Neupert ganz sicher, das war nicht nur dem Autor und den Mitstreitern der Bürgerinitiative (BI) verdächtigt – jeder fragte sich, woher nimmt der Mann diese Sicherheit. Er hatte keine Angst davor, dass die BI und die geschädigten Arbeiter ihn in seinem Jaguar in eine Sackgasse leiten bzw. ihm mal einen Hausbesuch abstatten.

Er war sich deshalb sicher, weil er gestützt und beschützt wurde und nur ein Rädchen in einem großen Getriebe internationaler Politik war.

So ist auch der Prozess zu bewerten, der anfangs noch wegen des öffentlichen Drucks von Betroffenen, BI und Bewohnern der Nordstadt eröffnet wurde, dann recht schnell ins Stocken geriet, wobei die Angeklagten immer mehr aus ihrer Verantwortung entlassen wurden.

 

Zu dem Envio-Skandal ist nun auch noch ein Justiz-Skandal hinzugekommen, weil genauso wie vor dem Jahr 2010 als der Skandal bekannt wurde, Politik und Behörden wegtauchen, sich keiner Verantwortung stellen und dadurch das Ganze erst möglich machen.

 

Quelle: BI zur Aufklärung des PCB Skandals, WAZ 

Bild: der Westen.de