Der Sozialstaat ist nicht mehr finanzierbar. Aber die Bürgerschaft kann sich beruhigen: Die Einschränkungen treffen nur die Unanständigen.
Von Suitbert Cechura
Die Unzufriedenheit mit der Regierung ist im Lande weit verbreitet und daher ist es für die Regierenden umso wichtiger, den Grund für die unbefriedigenden Lebensverhältnisse weg von den Machern und hin auf diverse Problemgruppen zu schieben. So soll das Übel bei der Rente aufs Konto der Alten gehen, die sich ein schönes Leben auf Kosten der Jungen machen – die Mär vom „Generationenvertrag“ leistet da ihre guten Dienste. Die Kranken lassen es sich im Krankenhaus gut gehen und so steigen die Krankenkassenbeiträge – statt dass „Patientensouveränität“ mit viel Eigenverantwortung um sich greift. Andere machen sich in der Arbeitslosigkeit einen Lenz und plündern die Sozialkassen – und nirgendwo wird mehr in die Hände gespuckt, um das Bruttosozialprodukt zu steigern.
Wenn der Kanzler den Sozialstaat für unbezahlbar erklärt und den Kahlschlag beim Bürgergeld ankündigt, spielt die zuständige SPD-Ministerin die Opposition in der Regierung und erklärt das Ganze für „Bullshit“. Was nicht heißt, dass sie sich damit gegen die Sparankündigungen des Kanzlers (und seines SPD-Finanzministers) stellt. Schließlich teilt sie das Anliegen der Einsparungen, will nur das Übel der hohen Sozialaufwendungen und seine Ursachen anderweitig ausgemacht haben: Sie sieht kriminelle Banden am Werk, die den Sozialstaat ausnutzen.
Kaum haben sich die Politiker geäußert, wie sie die angekündigten Reformen verstehen, greifen die Journalisten von Bild am Sonntag (21.9.25) die Parolen auf und setzen den politischen Imperativ ins Bild. Vermüllte Hauseingänge und Straßen sollen dem Leser deutlich machen, dass es hier um den Kampf gegen Menschen geht, die sich nicht benehmen können, den Sozialstaat ausnutzen und einfach nicht in unsere schöne Republik gehören. So weiß das Blatt die Moral des anständigen Bürgers für die Anliegen der Politik zu mobilisieren.
Dabei wird einiges vermischt, was nicht unbedingt zusammen passt, sondern erst passend gemacht werden muss; aber so geht eben Journalismus – nicht nur – aus dem Hause Springer.
Viele Ausländer = viele Probleme
Der Bild-Artikel steigt gleich mit den entsprechenden Parolen ein: „In den 50er Jahren trugen Gastarbeiter zum Wirtschaftswunder in Deutschland bei, gerade an Rhein und Ruhr. Heute fühlen sich die Menschen von Migranten überrannt … Brennpunkt Hagen: Ob-Kandidat Dennis Rehbein (36, CDU) erzählt bei ‚Markus Lanz‘ (ZDF), dass viele der 190.000 Einwohner die Stadt als ‚Angstraum‘ empfinden. Die Bahnhofsgegend ist der Kriminalitätsschwerpunkt und wird ‚Klein-Bukarest‘ genannt. Mehr als 7000 Zuwanderer aus Rumänien und Bulgarien leben in Schrottimmobilien. ‚Alles besser als Heimat. Alles zahlt Jobcenter‘, sagt einer zum BILD-Reporter.“
Schöner als der CDU-Kandidat, der das Oberbürgermeisteramt gewonnen hat, könnten es Vertreter der AfD auch nicht formulieren. Wann sind eigentlich Ausländer heute im Unterschied zu früher zu viel? Oder liegt es gar nicht an der Anzahl, sondern daran, dass sie von der Politik nicht bestellt worden sind im Gegensatz zu den Gastarbeitern damals? Und dass die Ausländer für die Kriminalität in der Stadt verantwortlich sind, dafür bedarf es keines Beweises, ihre Anwesenheit am Bahnhof spricht da einfach für sich.
Die Frage, warum diese Menschen hierher kommen und ein Leben in Schrottimmobilien besser finden, als in der Heimat zu bleiben, stellt sich diesen investigativen Journalisten erst gar nicht. Denn sonst müssten sie ja nicht nur die Betroffenen fragen, sondern sich mit der Politik auseinandersetzen, die Rumänien und Bulgarien zu EU-Staaten gemacht hat; was den dortigen Bürgern kein Glück beschert hat, das sie stattdessen in den Zentren der EU suchen. Schließlich ist es nicht schwer zu bemerken, dass der Einbezug dieser Länder in die EU die Lebensgrundlagen für viele Menschen zerstört hat, deren Wirtschaft sich der überlegenen Konkurrenz aus Deutschland und anderen Ländern stellen musste und nicht standhielt. Die Einbeziehung dieser Länder hat dem Kapital den Zugriff auf deren Märkte und billigen Arbeitskräfte beschert. Diejenigen, die nicht über Kapital verfügen, sondern nur über die eigene Person, erhielten dann das grandiose Recht auf Freizügigkeit, sich überall anbieten zu können.
Diese Freiheit hat einen doppelten Haken. Frei über seine Person zu verfügen bedeutet eben auch, dass der Besitzer dieser Freiheit – sofern er kein Vermögen hat – erstens gezwungen ist, Geld zu verdienen; diesem Zwang kommt keiner aus, denn alles, was zum Leben nötig ist, trägt schließlich ein Preiskärtchen. Dabei ist der Zwang kein persönlicher Akt, sondern tritt als Sachzwang auf. Es ist eben so eingerichtet in unserer Marktwirtschaft, dass der Wille zur Arbeit zum Leben nicht ausreicht, der Anbieter bzw. Verkäufer seiner „Ware Arbeitskraft“ (Marx) ist zweitens darauf verwiesen, dass jemand diese Kraft ausnutzen will, um aus seinem Geld mehr Geld zu machen. Das macht ein Leben von Arbeit per se zu einer unsicheren Angelegenheit. Ohne staatliche Regelungen können dann die Arbeitskraftbesitzer wegen der berühmten Notfälle des Lebens – Krankheit, Arbeitslosigkeit und Alter – nicht überleben.
Und so ist die eingeräumte Freizügigkeit für Arbeitnehmer innerhalb der EU auch nur so weit von Nutzen für die Betroffenen, wie es der eigene Geldbeutel oder die staatliche Unterstützung einem erlauben, sich auf die Reise zu begeben und während der Arbeitssuche zu überleben.
Inanspruchnahme staatlicher Leistungen = Missbrauch
Damit nicht allzu viele Bürger aus den in die EU aufgenommenen Armenhäusern wie Rumänien und Bulgarien von ihrem Freizügigkeitsrecht Gebrauch machen und sich in Deutschland auf die Arbeitssuche begeben, hat man vorgesorgt: EU-Ausländer, die zum Zweck der Arbeitssuche nach Deutschland einreisen und bedürftig sind, haben keinen Anspruch auf Sozialleistungen und verlieren nach sechs Monaten ihr Aufenthaltsrecht, wenn sie in diesem Zeitraum keine Arbeit gefunden haben. Das liefert diese Menschen ganz dem Wohlwollen derer aus, die damit nicht nur über das Einkommen ihrer Beschäftigten, sondern auch deren Aufenthaltsrecht entscheiden.
Doch Not macht erfinderisch, und so wenden sich deutsche Politiker nicht gegen die Armut, sondern gegen die Armen: „Laut Rehbein gehen 1100 dieser Zuwanderer einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung nach und zahlen in das Sozialsystem ein. 55 Prozent dieser Personen sind Jobcenter-Aufstocker. Heißt: Sie verdienen ein bisschen Geld, damit sie Anspruch auf staatliche Unterstützung haben. CDU-Politiker Rehbein im TV: ‚Es gibt einen Fall, da haben 20 Leute aus Hagen bei einem Friseur in Berlin gearbeitet. Für 200 Euro im Monat, jeweils. Damit haben sie Zugang zum Sozialsystem und komplett die Leistungen aufgestockt.“ (BILD)
Mit dem berichteten Einzelfall, bei dem sich die Betroffenen mittels Scheinbeschäftigung ein Einkommen an der Armutsgrenze verschafft haben, stehen Arbeitsmigranten automatisch unter Verdacht, sich widerrechtlich staatliche Leistungen verschafft zu haben. Und damit sind sie schuld, dass Kinder in der Kommune keinen Schulplatz bekommen: „Laut Sozialdezernentin leben in Hagen 250 Kinder, die keinen Schulplatz haben.“ (BILD) Und so sind nicht die Politiker verantwortlich, die über die Mittel entscheiden, wie z.B. der CDU-Mann Rehbein, sondern die Arbeitsmigranten: „Zu BILD sagte Rehbein: ‚Es gibt auch Fälle, wie den einer Grundschule, in der die Kinder im Winter mit Jacken in der Klasse sitzen mussten‘.“
Doch nicht nur beim Bürgergeld betrügen diese verabscheuungswürdigen Menschen, sondern auch beim Kindergeld. So weiß der Oberbürgermeister von Duisburg Sören Link (SPD) zu berichten: „Wir haben 26.000 Bulgaren und Rumänen in der Stadt. Darunter über 9000 Kinder, die auf dem Papier existieren… Für sie müssen wir Schulplätze und Kitaplätze vorhalten – und dann kommen die gar nicht.“ (BILD) Während Hagen wegen der EU-Ausländer zu wenig Schulplätze hat, ist es in Duisburg genau umgekehrt, dort wird viel zu viel in Schulen und Kitaplätze investiert. Das müsste die dortigen Bürger doch freuen, wenn ihre Kinder sich in kleinen Klassen wiederfinden und es keine Probleme bei der Suche nach Kitaplätzen gibt?
Davon ist in den Medien allerdings nichts zu hören. Glaubwürdig erscheint die Darstellung des OB aus Duisburg nicht gerade. Doch genau umgekehrt sollen es die Leser sehen und die Schuld bei den Ausländern suchen, wenn in Duisburg Fehlinvestitionen auftreten. Es mag ja sein, dass Rumänen und Bulgaren beim Amt Kinder angeben, um über Kindergeldzahlungen ihren Lebensunterhalt irgendwie zu bestreiten, weil ihnen der Anspruch auf „Existenzsichernde Leistungen“ wie Bürgergeld oder Sozialhilfe verweigert wird. Dass sich damit nicht gut leben lässt, wird ihnen auch vorgeworfen: „Mehr als 7000 Zuwanderer aus Rumänien und Bulgarien leben (in Hagen) in Schrottimmobilien.“ Dass das Ausnutzen des Angewiesen-Seins auf ein Dach über dem Kopf ein angesehener Geschäftszweig in der Marktwirtschaft ist, wird hier nicht zum Skandal. Auch nicht das Ausnutzen des Elends dieser Leute, die sich keine gescheite Wohnung leisten können, sondern dass diejenigen, die unter anormalen Verhältnissen leben müssen, sich nicht an die normalen Anstandsregeln halten.
OB-Link in BILD: „Auch das Verhalten, was da an den Tag gelegt wird, da wird Müll aus dem Fenster geworfen, Kinder sind nachts auf der Straße und nicht in der Schule, das können wir nicht akzeptieren, das dürfen wir nicht akzeptieren.“ Den Maßstab ernst genommen, den der Duisburger OB da aufmacht, dürfte ein Großteil der deutschen Bürger schlecht aussehen. Da findet sich an den Straßenrändern viel Müll, den auch Einheimische wegwerfen werfen, und die Straßenwärter dürfen ihn mühsam auflesen, damit die Republik nicht zum Himmel stinkt. Von den vielen wilden Müllkippen in den Wäldern ganz zu schweigen.
Aber für die Hetze gegen Ausländer ist eben jedes Mittel recht. Da wird den Leuten einmal unterstellt, sie lassen es sich von den Sozialleistungen gut gehen, obwohl die allenfalls ein Leben in Armut gewähren. Dann wiederum wird ihnen vorgehalten, dass sie sich als Billiglöhner auf dem Arbeiterstrich anbieten. Nicht die Anwender dieser Tagelöhner stehen damit in der Kritik, sondern die Elendsfiguren, die Arbeit zu jedem Preis anbieten müssen und noch nicht einmal sicher sein können, dass sie ihren Lohn auch wirklich bekommen. Sich in diesen Verhältnissen durchzuschlagen, geht nicht ohne Hilfe, die ihnen aber staatlicherseits verweigert wird.
Auch das noch: Rechtsberatung ohne Anwaltszulassung
Die meisten der EU-Zuwanderer aus Bulgarien und Rumänien verfügen nur über geringe Sprachkenntnisse und geringe Qualifikation. Sie haben daher auch keine Kenntnisse in Sachen deutscher Sozialgesetzgebung und sind damit auf die Unterstützung von Landsleuten angewiesen. Doch wie alles in der Marktwirtschaft ist auch das ein Geschäft. Während betuchte Bürger sich bei Steuerberatern und Rechtsanwälten Auskunft einholen, wie sie Steuerzahlungen vermeiden bzw. reduzieren oder wie sie beim Staat oder der EU Fördergelder und Subventionen bekommen können, haben die Berater der Armutsmigranten keine staatliche Zulassung und ihr Geschäft mit der Not gilt als kriminell. Und so verlassen sie sich bei der Bezahlung ihrer Dienstleistungen auch nicht auf die Polizei, sondern auf ihre eigene Gewalt.
Auch aus der Hilfe bei der Antragsstellung beim Jobcenter, der Kindergeldstelle, der Vermittlung von geringfügiger, eventuell sogar Scheinbeschäftigung oder der Vermietung von Schrottimmobilien kann man ein Einkommen beziehen. Dass sich damit jedoch ein Milliardengeschäft machen lassen würde, wie BILD behauptet, gehört zu den Übertreibungen und Lügen, mit denen die Springerpresse ihr Milliardengeschäft betreibt. Und so sind es in den Augen der beflissenen Schreiber nicht nur die EU-Ausländer, die den Staat betrügen; hinter jedem üblen Geschäft können sie zudem Südländer, Araber oder andere dunkle Gestalten ausmachen, sei es bei Pflegebetrug, Scheinselbständigkeit, Insolvenz oder Ähnlichem. Registrierkassen fallen da nur in Shisha-Bars aus, die von Migranten betrieben werden, und sogar in Immobiliengeschäften sollen diese Elemente involviert sein. So lässt sich jeder kriminelle Akt wie auch jedes normale Geschäft gegen die Anwesenheit von Ausländern verwenden – wenn man es denn will. Und so weiß dann auch ein Bundesvorsitzender der Deutschen Polizeigewerkschaft, der seine Tätigkeit nicht von seinem Verein, sondern als Beamter finanzieren ließ: „Schuld ist eine Gesetzgebung, die zum Missbrauch einlädt.“ Ein Vorwurf, den der Gesetzgeber natürlich nicht auf sich sitzen lässt.
Wenn Täter zu Opfern werden
Mit ihrer Kriegs- und Aufrüstungspolitik haben die Politiker ihren Bürgern Preissteigerungen bei sinkenden Löhnen beschert. Die eingetretenen Notlagen werden ja auch gar nicht verschwiegen: So beläuft sich die Inflation bei Lebensmitteln seit der Vor-Corona-Zeit auf 37 Prozent (SZ, 26.9.25). Und da überbieten sich die regierenden Politiker jetzt darin, dem Fußvolk des Standorts weitere Einschränkungen bei den sozialen Leistungen anzukündigen. Ursache dafür soll ein genereller Sparzwang bzw. die Überforderung des Sozialstaats sein und nicht die politische Prioritätensetzung mit dem Ziel, Deutschland zu einer führenden Militärmacht in Europa zu machen. Die Milliarden-Ausgaben für Rüstung kann der Haushalt verkraften, aber der Missbrauch von Sozialleistungen durch EU-Arbeitsmigranten bringt ihn in die Klemme.
Mit dieser Hetze gegen Ausländer hoffen die regierenden Parteien, den Wahlerfolgen der AfD begegnen zu können, indem sie die Rechten in Sachen Ausländerhetze zu überbieten versuchen, allen voran die Vertreter der SPD im Namen des braven & anständigen kleinen Arbeitsmannes.(SZ, 25.9.25) Dabei wird die Welt auf den Kopf gestellt: Dass sich viele Migranten aus den neu aufgenommenen EU-Ländern hier einfinden, soll nicht das Ergebnis der EU-Großmachtpolitik in Richtung Osten sein. „Wir“ sind vielmehr Opfer einer Überflutung von kriminellen Elementen, derer sich die Politik mit gesetzlichen Regelungen endlich erwehren muss.
Damit wollen die Politiker unterstreichen, wie sehr sie sich in den Dienst Ihrer dienstbereiten Bürger stellen, deren Anstand und Leistung sie zu würdigen wissen. Kürzungen und Einschränkungen müssen aber sein, um die Unanständigen zu bestrafen. Als Verarschung fasst das offenbar keiner auf, sonst müsste es gegen diese Sorte Politik und ihre mediale Begleitung einen ganz anderen Protest geben, als das Kreuzchen mal bei einer anderen (eventuell einer Protest-)Partei zu machen.
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Der Autor:
Suitbert Cechura ist Hochschullehrer für Sozialmedizin im Ruhestand.
Der Beitrag erschien auf https://overton-magazin.de/ und wird mit freundlicher Genehmigung des Autors hier gespiegelt. Bild: wiki commens