Die Republik atmet auf: Nächstes Jahr geht der GDL-Vorsitzende Claus Weselsky in Rente. Dabei ist es schade, der Mann wird diesem Land fehlen.
Diesen Bahnwarnstreik muss man noch überstehen, vielleicht auch noch einen richtigen Streik, aber dann geht Claus Weselsky 2024 endlich in Rente. Man spürt, wie viele im Lande – angefangen bei den angebotsorientierten Journalisten in den bedeutenden Redaktionen Deutschlands – tief durchatmen. Nicht mehr lange, dann hat man diesen Querulanten los, der mit einem Fingerschnippen die Republik lahmzulegen vermag.
Die Wut köchelt noch, aber nicht mehr ganz so brutal wie vor einigen Jahren. Damals druckte manches Revolverblatt die Anschrift und Telefonnummer von Claus Weselsky auf ihre Seiten. Man möge ihn anrufen, ausschimpfen, mal ordentlich den Marsch blasen. Dazu verfolgungsbetreute man ihn, seine Angehörigen: Vor einigen Jahren galt der GDL-Vorsitzende als schlimmste Gefahr für den öffentlichen Frieden – kaum eine positive Nachricht gab es zu seiner Person. Bis neulich, als man verkünden konnte: Er geht in Rente.
Das Anti-Weselsky-Gesetz
Eine Verhandlungsrunde gilt es noch zu überstehen. Werktätige und Pendler schielen auf das, was sich da abzeichnet, fürchten sich wieder vorm Stillstand – befeuert wird diese Angst von den Medien, die klarmachen, wer die Verantwortung trägt: Die GDL, besser gesagt der starke Mann an der Spitze der Lokführergewerkschaft. Dass an einem Verhandlungstisch stets zwei Parteien sitzen, in diesem Fall eben die GDL mit der Deutschen Bahn, die sich ziert und verweigert, versucht sich möglichst billig aus dieser Affäre zu stehlen, bleibt jedoch ungesagt.
Das Tarifeinheitsgesetz sollte vor einigen Jahren, Andrea Nahles war noch Bundesarbeitsministerin, die Macht kleiner Duodezgewerkschafter bändigen. Das Gesetz wurde nach einer Streikwelle der GDL forciert und sollte in Betrieben, in denen es mehrere Gewerkschaften gibt, diejenige als maßgeblich einordnen, die die meisten Mitglieder aufzubieten hat.
Es funktionierte zum Glück, wie fast alles, was die letzten Bundesregierungen gesetzlich anpackten, nicht ganz rund – in etlichen Betrieben der DB ist weiterhin unklar, wer die Mehrheit der Mitglieder in Anspruch nehmen kann: Die GDL – oder die eher der Bahn verpflichtete EVG?
Im Zuge der Debatten um die Gesetzesforderungen nahm man Weselsky ins Visier. Für viele im Lande war dieses Gesetzesvorhaben ein Anti-Weselsky-Gesetz. Nie wieder sollte ein einzelner Mann in Deutschland die Macht haben, den Verkehr anzuhalten und das Wirtschaftsleben zu lähmen. Dass der Mann eine Freude an seiner Machtausübung hat, galt gemeinhin als klarer Fall. Etwas Diabolisches heftete man ihm an, etwas Größenwahnsinniges und viel Elitäres, denn schließlich nehme er auf die Belange der fleißig arbeitenden Menschen im Lande keinerlei Rücksicht.
Klassenlose Gesellschaft?
In einem Interview (leider nicht mehr verfügbar) fragte er, ob man denn besser nachts streiken solle – damit es keiner merkt. Der Streik spielt natürlich immer mit den Belangen derer, die Leistungen in Anspruch nehmen. Das Kalkül ist, dass so bemerkbar gemacht wird, dass es eine Schieflage gibt. Die Reaktion derer, die dann die Folgen eines Streiks ausbaden müssen, können demnach zwischen Ärger und Verständnis variieren, also zwischen GDL- oder DB-Verurteilung. Dass es die GDL und namentlich Claus Weselsky sein sollen, die die Empörung ernten, dafür sorgte in den letzten Jahren – wie bereits erwähnt – eine breite Medienfront.
Über viele Jahrzehnte hat man dieser Gesellschaft im Zuge der Neoliberalisierung eingeimpft, dass es keine Klassen mehr gäbe. Die klassenlose Gesellschaft: Das war und ist eine der strategischen Lügen des Marktradikalismus.
Jene vermeintliche Klassenlosigkeit kanalisiert Aufbegehren und bettet die Partikularinteressen der arbeitenden Menschen in ein Weltbild, in dem alle an einem Strang ziehen: Arbeitgeber und Arbeitnehmer, Chef und Untergebener, Milliardär und Habenichts. Dass die Interessen gemeinhin allerdings entgegenstehen, bemäntelt man mit dem Kniff, die Klassengesellschaft zu leugnen. Sie simuliert den Burgfrieden am Arbeitsmarkt und in der Sozialpolitik. In dem oben genannten Interview machte Weselsky seinerzeit klar, dass die Arbeitswelt kein Schlaraffenland sei, dort fliegen Hühnchen nicht in die Mäuler. Man muss um sie kämpfen.
Zudem konnte diese Auslegung der gesellschaftlichen Dynamiken dazu genutzt werden, um Gewerkschaften schwach zu reden. Insbesondere ihre Streikbereitschaft als längst überkommene Praxis zu stigmatisieren. Der Streik sei demnach ein Gefährder, weil er unser aller Interesse unterminiere. Unternehmen schwäche – und auch jenen schade, die sich vielleicht noch ausgemalt hätten, von den Früchten eines Streikes profitieren zu können. Der Streik sei ja nämlich ein Eingriff in den freien Markt – und da nur und ausschließlich er wisse, wie man die Belange am besten regelt, könne eine ausgeweitete Streikkultur einfach nicht mehr hingenommen und akzeptiert werden. Als Folklore nimmt man Streik vielleicht noch hin, als zweistündigen Warnstreik etwa – als Volksfest geht das. Nicht aber als Arbeitskampf.
Gewerkschaften und die Individualisierung
Diese Ideologisierung hat gefruchtet. Über Jahre lasen wir, wie schädlich Gewerkschaften für uns sein könnten. Man verwies auf Großbritannien, wo Mrs. Thatcher die Interessensvertretungen der Arbeiterschaft zerschlagen hat – und wo angeblich die Wirtschaft deshalb brummte. So sollte man es hier auch halten, dann gehe es aufwärts. Streiken sei von gestern. Und zudem hundsgemein, denn der Streik hindert uns alle an der freien Entfaltung, steht unserem individuellen Lebensmodell im Wege.
Aber genau darum geht es eben im Gewerkschaftswesen: Man ist nicht alleine, nicht vereinzelt – man schließt sich zusammen und bündelt die Kräfte im Kampf gegen »die da oben«, gegen diejenigen, die am längeren Hebel der Wirtschaft sitzen. Gewerkschaften dienen eben nicht dem Individualismus. Sie sind geradezu das Gegenteil davon. Verstehen sich als Kollektiv.
Genau diese Grundidee war es ja, die die neoliberalen Reformer so eine Kampagne gegen das Gewerkschaftswesen starten ließ. Dass dabei sogar noch einer wirklich streikt, die Logik des Arbeitskampfes ohne falsche Zurückhaltung auslebt und seiner kleinen Gewerkschaft der Lokführer Selbstbewusstsein einflößt: Dagegen musste man gesetzlich vorgehen – das konnte einfach nicht angehen.
Zuvor probierte man es mit Rufmord, mit Belagerung und Druck. Versuchte die Wut in der Bevölkerung auf Weselsky zu lotsen. Nicht ganz unerfolgreich. Aber der GDL-Vorsitzende ließ sich nie beeindrucken – sein sächsisches Gemüt half ihm sicher dabei, in der Spur zu bleiben, sich nicht von äußeren Faktoren beeinflussen zu lassen.
Weselsky wird uns fehlen
Dabei war Claus Weselsky sicher kein ganz einfacher Typ in all den Jahren. Mancher Spruch ging daneben und würde, brächte er ihn heute, mit striktester Cancel Culture geahndet. Nicht so bei der GDL, denn der Vorsitzende hat sich über Jahre die Anerkennung und Zufriedenheit seiner Gewerkschaftsmitglieder verdient. Einen wie ihn, das wissen und das fürchten sie, werden sie nicht mehr an die Spitze ihrer Gewerkschaft bekommen. Denn Leute wie er sind Auslaufmodelle, nicht nur bei der GDL, sondern bei allen Parteien.
Claus Weselsky ist vielleicht der letzte Gewerkschafter im Lande. Treppenwitz dieser Geschichte: Er kommt nicht aus dem linken Lager, sondern ist Mitglied der CDU. Man betrachte nur das Personal anderer Gewerkschaften: Dem DGB sitzt zum Beispiel Yasmin Fahimi vor, eine SPD-Karrieristin, die Anfang des Jahres von der Kriegswirtschaft salbaderte – Gewerkschaften vertreten gemeinhin die kleinen Leute, die Kriege ausbaden müssen. Wie kann sie es also nur wagen, so einen Unsinn von sich zu geben? Solche Ja-Sager sind wohl leider das Zukunftsmodell der Gewerkschaften. Fahimi erklärte damals unter anderem auch, dass Dividendenausschüttungen auch bei Unternehmen gelten sollten, die mit Steuergeldern gerettet wurden. Arbeitskampf ist mit solchen Leuten nicht machen …
Mag ja sein, dass viele, die über den Tellerrand zu gucken nicht erzogen wurden, nun mit Erleichterung dem baldigen Renteneintritt Weselskys entgegensehen. Ob sie jemals begreifen werden, dass uns dieser Mann fehlen wird? Sein knorriger Charakter, seine Standfestigkeit und seine Sturheit? Ob sie noch einmal an jenen Claus Weselsky denken werden, wenn sie sich nicht am Wachstum beteiligt fühlen? Sein Abgang mag nicht weniger als eine Zäsur sein. Denn wenn er nicht mehr streiken lässt, ist dieses Land endgültig ein weichgespülter Arbeitsmarkt.
Weselsky hat für seine Gewerkschaftsgenossen gestreikt, keine Frage – aber indirekt hat er der ganzen Republik gezeigt, welche Haltung eine Gewerkschaft an den Tag legen muss, um ihren Anspruch und den Ansprüchen ihrer Mitglieder gerecht zu werden. Und da ist keiner mehr, die in diese Rolle zu schlüpfen imstande oder bereit ist.
Der Beitrag erschien auf https://overton-magazin.de/ und wird mit freundlicher Genehmigung des Autors und der Redaktion hier gespiegelt. Bild: Martha Doerfler – RLS, Rosa Luxemburg-Stiftung, CC BY 2.0