Von Cornelia Heintze, Rainald Ötsch und Axel Troost
Seit Anfang der 1990er Jahre fand im öffentlichen Dienst ein massiver Personalabbau statt, der von einer systematischen Entstaatlichungspolitik geprägt wurde. Dies machte selbst vor staatlichen Kernaufgaben wie der Sicherheits- und der Bildungspolitik nicht halt. Die negativen Folgen dieser Politik sind heute unübersehbar, wobei Care- und Pflegeleistungen besonders von personellem Notstand betroffen sind. Insgesamt zeigt sich ein Verlust von Gestaltungs- und Kontrollmacht.
Während in Deutschland im öffentlichen Dienst aktuell 58 Personen (Vollzeit und Teilzeit) und bei öffentlichen Arbeitgebern insgesamt 74 Personen auf 1.000 Einwohner*innen beschäftigt sind, arbeiten in den skandinavischen Staaten im öffentlichen Sektor mehr als doppelt so viele Personen (Finnland: 123, Dänemark: 153, Schweden: 148 und Norwegen: 159). Während in den skandinavischen Staaten mehr als 30 Prozent der Beschäftigten einen öffentlichen Arbeitgeber haben, sind es in Deutschland nur 15 Prozent. Eine gewisse Rolle spielt dabei, dass viele soziale und gesundheitliche Leistungen in Deutschland traditionell von kirchlichen und freigemeinnützigen Trägern erbracht werden. Darüber hinaus ist der Einfluss renditeorientierter Unternehmen in den vergangenen Jahren stark gewachsen.
In der Europäischen Union belegt Deutschland bei den Ausgaben für das Personal im öffentlichen Dienst relativ zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) nur den vorletzten Platz. Entgegen der verzerrten deutschen Selbstwahrnehmung waren die Ausgaben schon Mitte der 1990er Jahre gering, sind seitdem aber weiter gesunken. Um den BIP-Anteil von 1995 zu erreichen, hätte der deutsche Staat im Jahr 2017 fast 40 Milliarden Euro mehr an Personalausgaben tätigen müssen, zur Erreichung des EU-Durchschnitts fast 80 Milliarden Euro und für ein skandinavisches Niveau von rund 14 Prozent über 200 Milliarden Euro.
Die vorgenommene Auswertung von Studien und amtlichen Statistiken offenbart in Bereichen, wo die Beschäftigtenzahlen schon jetzt deutlich dem gesellschaftlichen Bedarf hinterherhinken und sich ein weiter dynamisch wachsender Bedarf erwarten lässt, ein Potenzial von weit über einer bis zu nicht ganz vier Millionen zusätzlicher Beschäftigter.
Schon allein im Bereich der Kinderbetreuung – von Krippen bis Horten – sind gegenüber heute gut 400.000 rechnerische Vollzeitkräfte an pädagogischem Personal mehr erforderlich, wenn zur Bedarfsdeckung auch noch die Durchsetzung der fachlich empfohlenen Personalschlüssel hinzutritt. Rechnet man die Bereiche Verwaltung, Verpflegung, Reinigung, Supervision usw. hinzu, liegt das Potenzial an zusätzlicher Beschäftigung noch deutlich höher.
Im Bildungsbereich besteht Personalmangel von den Schulen über die Hochschulen bis zur Weiterbildung.
Mit Blick auf konkrete Bedarfe, wie pädagogischen Ansprüchen genügende Ganztagsschulen, bessere Betreuungsverhältnisse, mehr Schulsozialarbeit und Inklusion, kann ein Potenzial von mehreren Hunderttausend Vollzeitstellen festgestellt werden. Im Bereich Gesundheit und Sozialwesen gibt es einen erheblichen ungedeckten Personalbedarf in der Krankenhaus- und Altenpflege. In der Krankenhauspflege beläuft er sich auf mindestens 100.000 rechnerische Vollzeitkräfte; in der Altenpflege ist er perspektivisch noch wesentlich höher. Würde bezogen auf die heute Pflegebedürftigen bei konstanter Versorgung durch pflegende Angehörige die Personalausstattung so gestärkt, dass fachliche Standards nicht nur auf dem Papier stehen, wären mehrere Hunderttausend Kräfte zusätzlich nötig. Tendenz zukünftig stark steigend.
Auch im Bereich der kulturellen Dienste gibt es einen nicht unerheblichen Bedarf. Dieser bewegt sich im Bereich von 100.000 Stellen aufwärts. Eine große Rolle käme professionell geführten, zu kommunalen Begegnungsstätten ausgebauten öffentlichen Bibliotheken zu.
Beschäftigungspolitisch gibt es in den großen öffentlichen Bedarfsfeldern Bildung, Soziales, Gesundheit und Kultur in der Perspektive bis 2030 und darüber hinaus ein so großes Potenzial an Mehrbeschäftigung, dass damit die Arbeitsplatzverluste, die es bei einer sozialökologischen Transformation im Verarbeitenden Gewerbe gäbe, gut ausgeglichen werden könnten.
Die mit einer Hinwendung zu den genannten Dienstleistungsfeldern verbundene Binnenmarktorientierung ist auch aus gesamtwirtschaftlichen Gründen wichtig. Denn die exorbitanten Leistungsbilanzüberschüsse, die Deutschland seit Jahren aufweist, unterminieren die gesamtwirtschaftliche Stabilität, da sie nur durch fortgesetzte Verschuldung anderer Volkswirtschaften gegenüber der deutschen aufrechterhalten werden können und somit die Entstehung von Wirtschafts- und Finanzkrisen befeuern. Eine Reduktion der Leistungsbilanzüberschüsse setzt aber zwingend eine stärkere Binnenwirtschaft voraus, wie sie mit einem massiven Ausbau sozialer Dienste einherginge.
Nicht zuletzt käme der Personalaufbau in öffentlichen und gemeinwohlorientierten Dienstleistungsfeldern auch dem Ziel der Vollbeschäftigung zugute. Trotz der in den vergangenen Jahren gesunkenen Arbeitslosigkeit gibt es nach wie vor in erheblichem Umfang offene und verdeckte Arbeitslosigkeit und ungewollte Teilzeit.
Ohne eine Anhebung der Staatsausgabenquote auf das Niveau von Mitte der 1990er Jahre kann nicht ansatzweise mit der Hebung des dargestellten Potenzials gerechnet werden. Im Jahr 2018 lag die Staatsausgabenquote Deutschlands bei 44,6 Prozent des BIP gegenüber 49,4 Prozent des BIP im Jahr 1996 (verglichen mit rund 51 Prozent im skandinavischen Mittel). Höhere Steuern auf Gewinne, große Einkommen und Vermögen sowie die Einbeziehung aller in die Sozialversicherungssysteme wären sinnvolle Sofortmaßnahmen.
Mehr öffentliche Leistungen und Beschäftigung sind notwendig, um eine «Fundamentalökonomie» (Streeck) zu realisieren, die den gesellschaftlichen Zusammenhalt befestigt und in den zentralen Bereichen der sozialen Reproduktion den seit Jahren beklagten Mangel beseitigt, um den Bedürfnissen und Nöten der Kinder, der Alten, der Kranken und der gesamten Bevölkerung zu entsprechen.
Downloads: Die Beschäftigungslücke in der sozialen Infrastruktur RLS-Studie 2-2020 STUDIEN 2/2020 wird herausgegeben von der Rosa-Luxemburg-Stiftung V. i. S. d. P.: Alrun Kaune-Nüßlein Franz-Mehring-Platz 1 · 10243 Berlin · www.rosalux.de