Artikelserie zu Formen gesellschaftlicher Arbeit und Klassenpolitik: (II – Industriearbeit)

Von Ingo Schmidt

Früher war Proletariat, heute ist Prekariat. Bestenfalls. Mit der Industrie hat der Kapitalismus nicht nur ungeahnte Produktiv- bzw. Profitkräfte geschaffen, sondern auch seinen Totengräber, Massen verelendeter Proletarier, die sich zu einer Klasse vereinigen und die industriellen Produktivkräfte in eigener Regie übernehmen würden. So wollte es die Theorie. Doch soweit ist es nicht gekommen.

Immerhin reichten die Kämpfe und Organisation verschiedener Arbeitergruppen, mehrheitlich, aber nicht ausschließlich in der großen Industrie beschäftigt, zur Durchsetzung sozialer Reformen: Arbeitszeitregelungen und die Verknüpfung von Lohnarbeit und dem Erwerb von Versorgungsansprüchen im Falle von Krankheit, Arbeitsunfähigkeit und Alter schufen das Normalarbeitsverhältnis, aus dem die heutigen Prekarier ausgeschlossen sind – eine Minderheit, die in Teilzeit arbeitet, oft befristet, mit begrenztem oder gar keinem Zugang zur Sozialversicherung.
In den letzten Jahren haben eine Reihe linker Akademiker und Aktivisten die Prekarier als potenzielle Basis einer neuen sozialen Bewegung entdeckt. Von Massen, gar einer breiten Mehrheit der Bevölkerung, deren historische Mission die Überwindung von Ausbeutung und Klassenherrschaft sei, ist dabei allerdings nicht die Rede. Das Prekariat wird in die anderen, gegenüber der alten proletarischen Bewegung weiterhin als neu bezeichneten sozialen Bewegungen eingereiht. Ein weiteres Steinchen der Mosaiklinken, von der niemand weiß, was sie im Innersten zusammenhält. Es ist ein Fortschritt, sich nicht an die Vorstellung von Klasseneinheit und dem unaufhaltsamen Übergang zum Sozialismus zu klammern, wenn Klassenfragmentierung und Niederlagen proletarischer und anderer sozialer Bewegungen die reale Welt kennzeichnen.

Aber es ist nur ein Schritt zum Verständnis der Gegenwart. Denn frei nach Marx lastet die Tradition aller toten Klassenkämpfer wie ein Alp auf dem Gehirn der Lebenden. Aus dem Schatten einer vorgestellten Vergangenheit herauszutreten ist schwer. Kaum, dass irgendwo gestreikt wird, werden in der Berichterstattung Bilder bemüht, in denen schwielige Hände entschlossen ihre – vermutlich roten – Fahnen schwenken. Ein Hauch von Klassenkampf liegt in der Luft. Auch wenn die Streikenden lediglich unternehmensseitige Forderungen nach Lohnabbau oder längeren Arbeitszeiten abzuwehren versuchen und ihre Arbeit kümmernde, feinfühlige und geschickte statt schwieliger Hände erfordert.

Die Bilder geballter Fäuste und roter Fahnen entstammen einer imaginierten, empirisch nicht gedeckten Vergangenheit. An der klassenkämpferisch überhöhten Vergangenheit kann sich die Gegenwart nur blamieren. Zukünftige Klassenkämpfe werden undenkbar. Minderheitenpolitik wird zur einzigen Option in einer Welt, in der die vielen unter der Herrschaft der wenigen leiden.

Nach den Gewissheiten über historische Missionen und dem unvermeidbaren Übergang zum Sozialismus müssen auch die Mythen von Klasseneinheit und dem dauernden Kampf gegen das Kapital verabschiedet werden, um praktische Schritte zu einer solchen Einheit, oder moderner: verbindender Klassenpolitik zu ermöglichen. Was rückblickend als Einheit verklärt wird, war stets ein Mosaik verschiedener Gruppen arbeitender Menschen, objektiv zusammengehalten durch die gesellschaftliche Arbeitsteilung, zu kollektivem Handeln fähig, soweit es in ideologischen und praktischen Kämpfen gelang, neben den Interessen spezieller Gruppen ein subjektives Verständnis gemeinsamer Belange herzustellen. Auch in der Vergangenheit waren nicht nur schwielige, sondern auch kümmernde, feinfühlige und geschickte Hände samt den dazugehörenden Herzen und Hirnen an der Herstellung von Klasseneinheit und Kampf gegen das Kapital beteiligt.
Der Mythos der Klasseneinheit drehte sich um Fabrik und Großkonzerne. Konzentration und Zentralisation des Kapitals würde immer mehr Arbeiter unter einem einheitlichen Kommando zusammenfassen. Die damit einhergehende Vergesellschaftung der Arbeit würde aber auch der Übernahme und gemeinschaftlichen Verwaltung der Produktionsmittel durch die Arbeiter den Weg bereiten. Diese Vorstellung von industrieller Entwicklung war nicht nur in der Arbeiterbewegung populär, sondern auch in bürgerlichen Kreisen. In der sachlichen Sprache kapitalistischer Manager wurden kapitalistische Zentren zu Industriegesellschaften, die als Vorbild für die (post)koloniale Welt der Entwicklungsländer dargestellt wurden. Viele antikoloniale Bewegungen setzten auf nachholende Entwicklung bzw. Industrialisierung unter sozialistischen Vorzeichen. Trotz unüberbrückbarer Gegensätze in der Eigentumsfrage teilten die meisten Kapitalisten und Sozialisten die universalistische Vorstellung, die industrielle Massenproduktion sei der Schlüssel zu menschlichem Fortschritt.

Die neue Frauenbewegung der 1960er und 1970er Jahre widersprach vehement. Die weibliche Hälfte des Himmels komme in den industriellen Männerwelten gar nicht vor. Richtig an dieser Kritik war, dass Männerwelten die fast durchgängig von Frauen geleistete, unbezahlte Hausarbeit nicht wahrnahmen, die dort erbrachten Leistungen aber ganz selbstverständlich in Anspruch nahmen. Nur wenigen Aktivistinnen der neuen, von der alten sozialistischen weitgehend unabhängigen Frauenbewegung war bewusst, dass die industriellen Welten von Männern und Frauen bewirtschaftet wurden: Das Problem der Fabrikarbeiterinnen war nicht, dass sie von industrieller Beschäftigung ausgeschlossen waren, sondern dass sie diese unter prekären Bedingungen ausführen und »nebenbei« eine zweite Schicht als Hausarbeiterinnen verrichten mussten.
Mit Blick auf die Industriearbeit ist festzuhalten: Die Fabrik war niemals ein Gleichmacher, sondern zu allen Zeiten von innerbetrieblichen Hierarchien in Sachen Löhnen, Arbeitsplatzsicherheit, Zugang zu sozialer Sicherung jenseits der Beschäftigung und Autonomie bzw. direkter Kontrolle am Arbeitsplatz bestimmt. Zumeist waren und sind bestimmte Segmente des innerbetrieblichen Arbeitsmarkts für bestimmte demographische Gruppen vorgesehen. Oft genug bekämpften sich diese Gruppen(Männer–Frauen, Einheimische–Einwanderer, Gelernte–Ungelernte) untereinander mehr als den von sozialistischen Theoretikern ausgemachten gemeinsamen Feind.

Auch auf seiten des Kapitals war es mit der Klasseneinheit im Normalfall nicht weit her. Konkurrenz innerhalb einer Branche, unterschiedliche Interessen von Groß- und Kleinbetrieben sowie zwischen produktivem, Handels- und Geldkapital stellten ebenso viele Schwachpunkte in der kapitalistischen Klassenfront dar. Proletarische Erfolge entlang der Konfliktlinie Lohnarbeit–Kapital gab es nur, wenn verschiedene Beschäftigtengruppen wenigstens ansatzweise eine »vielfältige Einheit« herstellen konnten. Das erforderte viel Agitations- und Organisationsarbeit. Klasseneinheit, soweit es sie überhaupt gab, war kein automatisches Nebenprodukt industrieller Entwicklung. Das Kapital hat nicht das Proletariat als seinen Totengräber geschaffen, sondern viele, und keinesfalls gleichgestellte, Proletarier, die sich als kollektiver Akteur, als Klasse für sich, organisieren konnten, dies aber nur ansatzweise getan haben.
Die Beschäftigung mit den Mythen der Industriearbeit scheint anachronistisch, wurde das einstige Vorbild industrieller Entwicklung doch mittlerweile durch die Realität postindustrieller Gesellschaften abgelöst. So behaupten es zumindest eine Mehrheit, auch linker, Wissenschaftler, Journalisten, Politiker und Sprecher von Dienstleistungs-, Medien- und, allen voran, IT-Konzernen. Aber auch das ist ein Mythos.
Schon vor der ersten industriellen Revolution gab es die utopische Vorstellung, Maschinen würden die Menschheit von aller Plackerei befreien und das Paradies auf Erden schaffen. Diese Utopien wurden mit der Verbreitung radikaler technologischer Innovation immer wieder aktualisiert, standen aber stets im Widerspruch zur Realität der Industriearbeit.

So hat das Kapital die industrielle Produktion in einer Weise umgebaut, die den organisatorischen Zentren der Arbeiterbewegung ihre Basis entzog. Dazu gehört auch eine neue Welle der Automatisierung, die ideologisch als die lang erwartete Verwirklichung des postindustriellen Paradieses überhöht wurde. Obwohl ihr Anteil an der gesamten Beschäftigung und Wertschöpfung gesunken ist, ist die Industriearbeit aus den kapitalistischen Zentren nicht verschwunden. Und im Weltmaßstab arbeiteten nie so viele Menschen in der Industrie wie heute.

Die Ideologen des Postindustrialismus in den Zentren nehmen diese Arbeit ebenso wenig wahr, wie die nahezu ausgestorbenen Ideologen des industriellen Fortschritts unbezahlte Hausarbeit wahrgenommen haben. Weiterhin wird letztere erst wahrgenommen, soweit sie durch Lohnarbeit in Lebensmittel- und Pflegeindustrien ersetzt wird. In den verbliebenen Industrien ist die Arbeit alles andere als ein Paradies, vor allem nicht für den erheblich gestiegenen Anteil der prekär Beschäftigten. Für die Massen von Industriearbeitern in den Peripherien, in die ganze Branchen oder Fertigungsabschnitte aus den Zentren verlagert wurden, ist sie jedoch die Hölle.

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Der Autor:

Ingo Schmidt ist marxistischer Ökonom und lebt in Kanada und in Deutschland.

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Von der Artikelserie zu Formen gesellschaftlicher Arbeit und Klassenpolitik ist bereits erschienen:

  1. Artikelserie zu Formen gesellschaftlicher Arbeit und Klassenpolitik – Unsichtbare Hände (I) | gewerkschaftsforum.de

 

 

 

 

 

Bild: pixabay cco