Wer bis 1997 als junger Mensch einen Termin bei der Berufsberatung hatte, konnte davon ausgehen, dass er dort eine vernünftige, seinen Eigenschaften, Neigungen, Interessen und persönlichen Situation entsprechende Beratung erhielt. Die Belange einzelner Wirtschaftszweige und ihrer Berufe waren zweitrangig. Die gesetzlichen Rahmenbedingungen haben sich dann aber deutlich verändert. Als 1998 das Sozialgesetzbuch III (SGB III) in Kraft trat, sollte die Berufsberatung die Erteilung von Auskunft und Rat zur Lage und Entwicklung des Arbeitsmarktes und der Berufe umfassen.
Seit dem Inkrafttreten des Job-AQTIV-Gesetzes zu Beginn des Jahres 2002 musste mit den jungen Ratsuchenden sogar eine schriftliche Eingliederungsvereinbarung abgeschlossen werden, in der das Eingliederungsziel und konkrete Eigenbemühungen mit Nachweisen festgehalten werden. Wenn dann eine Einigung über die Ziele nicht möglich ist, sind „erforderliche Eigenbemühungen durch Verwaltungsakt“ festzusetzen. Das ist schockierend für die jungen Menschen, die eigentlich nur etwas Unterstützung bei der Berufswahl erwarten und nicht der Wucht einer Behörde ausgesetzt sein möchten.
Die Berufsberatung für Jugendliche hat sich von einer an den individuellen Bedürfnissen ausgerichteten Vermittlungshilfe zu einem marktorientierten Steuerungsinstrument entwickelt. Der Staat übt über die Berufsberatung einen erheblichen Anpassungsdruck auf die jungen Menschen aus. Dem neuen Konzept liegt ein Menschenbild zugrunde, das Jugendliche maßlos überschätzt. Sie werden als jemand verstanden, der nach rein rationalen Kriterien seinen individuellen Vorteil aus einer Vielzahl diverser Möglichkeiten wählen kann, Entscheidungen treffen muss, die für mehrere Perioden seines Lebens gelten werden und den staatlichen Interessen dienen muss, ob er selbst für sich sorgen oder von staatlichen Transferleistungen abhängig sein wird. Die Wünsche, Hoffnungen, Träume, aber auch Ängste und Zukunftsbangen des 16. bis 21.-jährigen Menschen werden gar nicht mehr berücksichtigt und seine konkrete Lebenssituation wird völlig ausgeblendet.
Die Berufsberatung für Jugendliche der Bundesagentur für Arbeit hat sich von einer an den individuellen Bedürfnissen ausgerichteten Vermittlungshilfe zu einem marktorientierten Steuerungsinstrument entwickelt. Dadurch übt der Staat über die Beratung einen nicht zu unterschätzenden Druck auf junge Menschen aus.
Die Neujustierung der Berufsberatung macht sich an folgenden zentralen Veränderungen deutlich:
Gesetzliche Rahmenbedingungen
Die gesetzlichen Rahmenbedingungen für die Berufsberatung waren von 1969 bis 1997 durch das Arbeitsförderungsgesetz (AFG) bestimmt. Im AFG hieß es in §26 und § 27 noch, dass die Berufsberatung die Lage und Entwicklung des Arbeitsmarktes und der Berufe angemessen zu berücksichtigen hat, sie soll die Belange einzelner Wirtschaftszweige und Berufe allgemeinen wirtschaftlichen und sozialen Gesichtspunkten unterordnen und die Eigenschaften, Neigungen und persönliche Verhältnisse des Ratsuchenden berücksichtigen.
Im SGB III, das zu Beginn des Jahres 1998 in Kraft trat, ist nicht mehr von „angemessener Berücksichtigung“ des Arbeitsmarktes die Rede, sondern in § 30 heißt es nun, dass die Berufsberatung die Erteilung von Auskunft und Rat zur Lage und Entwicklung des Arbeitsmarktes und der Berufe umfasst. Die Neuausrichtung der Berufsberatung folgte den Managementkonzepten, die Grundlage für die Umstrukturierung der Bundesagentur für Arbeit im Rahmen der sogenannten Hartz-Gesetze war. Die bedürfnisorientierte Entscheidungs- und Vermittlungshilfe sollte durch die marktorientierte Steuerung ersetzt werden.
Nach dem Inkrafttreten des Job-AQTIV-Gesetzes zu Beginn des Jahres 2002 muss dann außerdem eine schriftliche Eingliederungsvereinbarung abgeschlossen werden, in der das Eingliederungsziel und konkrete Eigenbemühungen mit Nachweisen festgehalten werden. Wenn eine Einigung über die Ziele nicht möglich ist, sind erforderliche „Eigenbemühungen durch Verwaltungsakt“ festzusetzen.
Beratungskonzepte
Vergleicht man die Beratungskonzepte, wird schnell die neue Richtung der Berufsberatung sichtbar, aber auch die wortgewaltige Sprachschöpfung, die diesen Prozess begleitete. In den 1970er Jahren sah das Beratungskonzept 3 Säulen vor, die Informations-, Entscheidungs-, und Realisierungsberatung.
1992 wurde ein neues Beratungskonzept eingeführt, dass eine flexiblere Gesprächsführung vorsah. Auch sollte das oftmals emotional geprägte Berufswahlverhalten besser berücksichtigt und die Handlungskompetenz der jungen Leute gestärkt werden.
Dann kam 2002 mit den Kürzeln „R A T“ – Richtig beraten – Anregungen – Techniken die Kehrtwende, Beratung und Vermittlung wurden anders als früher, zunehmend als Einheit oder als zwei Seiten einer Medaille gesehen und die Beratung sollte eine aktivierende Vermittlungsstrategie unterstützen und den Grundsatz des Förderns und Forderns berücksichtigen.
Aber erst mal blieb das nur eine Absichtserklärung, denn im Konzept selbst waren noch die alten Beratungsgrundsätze enthalten.
Mit der Einführung der „BEKO“ – der Beratungskonzeption der Agentur für Arbeit – wurde 2010 die Beratung mittels zentraler Bearbeitungsschritte im Kontext eines 4-Phasen-Modells systematisiert. Die einzelnen Schritte waren: 1. Problemanalyse 2. Zielsetzung 3. Strategie und 4. Umsetzung der Strategie. Jetzt sollte von den Stärken der Ratsuchenden ausgegangen werden und bei der Beratung sollte es nicht um die Bearbeitung von Schwierigkeiten in der Persönlichkeitsentwicklung, dem Entscheidungsunvermögen, kognitiven Verzerrungen oder existenziellen Krisen gehen.
Nun gab es 2 Beratungsformate, die Orientierungs- und Entscheidungsberatung (OEB) für Unentschlossene, die noch keinen klaren Zielberuf haben und die Integrationsberatung (IBB) im Falle der Ausbildungsvermittlung.
Es sollten jetzt 5 Dimensionen (Problembewusstsein, Selbsteinschätzung, Informationsstand, Entscheidungsverhalten und Realisierungsaktivitäten) überprüft werden, woraus dann Handlungsbedarfe identifiziert wurden. Der Schein der Flexibilität sollte bewahrt bleiben, deshalb sollte die Abklärung der Dimensionen fallbezogen erfolgen. Die jungen Menschen wurden nun „Kunden“ genannt, deren Mitwirkung nur am Rande gewünscht war, aber falls die „Kunden“ mit einer bestimmten „Lösungsstrategie“ nicht einverstanden sind, sollte bei der Beratung auf einer bestimmten Vorgehensweise beharrt werden und wenn das nicht fruchtete, sollte das Gespräch beendet werden.
Die ganze Standardisierung hatte den alleinigen personalpolitischen Sinn, dass so die Voraussetzung für die in großem Umfang auch angelernten Beratungskräfte einzusetzen.
Die Praxis zeigt bis heute, dass bei komplexen Anforderungen, wie dies in Beratungsgesprächen mit jugendlichen Ratsuchenden die Regel ist, so ein Konzept zum Scheitern verurteilt ist.
Die Kolleginnen und Kollegen in der Berufsberatung
Wie in anderen Behörden auch, steht heute nicht mehr der Ratsuchende im Mittelpunkt, sondern es geht um die Erfüllung der vorgegebenen Vermittlungszahlen, wobei die „Schlagzahlen“ immer wieder angehoben werden.
Die Beschäftigten in der Berufsberatung werden daran gemessen, ob sie im Geschäftsjahr eine vorgegebene Anzahl von Ausbildungssuchenden zur Zielerreichung vorweisen können. Dazu kommen die starren Dokumentationsvorgaben die den eigentlichen Arbeitsalltag bestimmen.
Wurden sie früher noch im Rahmen eines Studiums an der BA-Fachhochschule bzw. die mehrmonatige Qualifizierung von Seiteneinsteigern mit externem Studium qualifiziert, wird nun das neue methodisch starre Verfahren und die entsprechende starre Sicht auf den „Kunden“ in kurzen Schnell-Lehrgängen vermittelt.
Die Grundeinstellung des Beraters, aktuelle Berufswahltheorien, individuelle Berufswahlprozesse und flexible Vorgehensweisen werden nicht mehr gelehrt und eingeübt, jetzt spielt im neuen Konzept der Berufsberatung die Bedürfnisorientierung keine Rolle mehr.
Auch wenn nun die Argumente der jungen Ratsuchenden bedeutsam sind, verbleibt die Entscheidungskompetenz beim Berater, zumutbare Integrationsziele und Aktivitäten müssen konsequent eingefordert und nachgehalten werden.
Kommt es in der Beratung zu Konflikten, werden dann diese „erfolgskritische Felder“ identifiziert und nach den Lösungshinweisen, die im Handbuch geschildert werden, entschärft.
Die jungen Menschen erleben Berufsberatung nicht mehr als partnerschaftliche Hilfestellung auf gleicher Augenhöhe in einem offenen Prozess, sie müssen sich der Institution Berufsberatung unterwerfen, die letztendlich entscheidet, was für sie erforderlich und sinnvoll ist und war nicht.
Trotz 30 Jahre hoher Erwerbslosigkeit und Berufsausbildungsnot von 2 Generationen junger Menschen wurde die Berufsberatung durch die Arbeitsagenturen stetig zurückgefahren.
Der gesetzliche Auftrag, Auskunft und Rat zu erteilen, unabhängig davon, ob eine Vermittlung stattfindet oder auch nur erwünscht ist, geriet völlig aus dem Blick. Die ausschließliche Ausbildungsvermittlung als einziges wichtiges Tätigkeitsfeld mit überhöhten Fallzahlen trat an diese Stelle. Die inhaltliche Ausrichtung der Berufsberatung wird seit über 10 Jahren der besonderen Situation Jugendlicher nicht mehr gerecht.
Seit 2011 gibt es keine neuen Arbeitshilfen oder geänderte Richtlinien, das gesamte System ist starr und verkrustet. Bei den Kolleginnen und Kollegen in der Beratung, die früher engagiert und emphatisch berieten, geht es aufgrund des großen Drucks nur noch darum, dass skrupellos getrickst wird und Zahlen frisiert werden müssen.
Selbst die Kritik ist verstummt.
Das ist umso trauriger, zumal die im Grundgesetz garantierte Würde des Menschen und die freie Berufswahl für junge Menschen nicht mehr gilt.
Quellen: Gegenblende, Handbuch für Berufsberaterinnen und Berufsberater – Beratungskonzeptionen der Bundesagentur für Arbeit;
Bild: imageberater-nrw.de