„Die Tatsache, dass das Wirtschaftsleben rund um den Globus mittlerweile denselben Prinzipien unterworfen ist – dezentral koordinierte Produktion mit Gewinnziel unter Einsatz von Privatkapital und gesetzlich freien Lohnarbeitern –, ist historisch beispiellos. […] sieht man von Randzonen ab, […] existiert heute nur noch der Kapitalismus.“[1] Mit dieser Einschätzung leitet der Ökonom Branko Milanovic seine Betrachtung des gegenwärtigen Kapitalismus ein.
Welche Folgen sich hieraus für die von dieser wirtschaftlichen Ordnung geprägten Gesellschaften ergeben, skizzieren Noam Chomsky und Marv Waterstone in ihrem kürzlich auf Deutsch erschienen Buch „Konsequenzen des Kapitalismus“, dessen Lektüre den Ausgangspunkt dieses Beitrags bildet. Die Gliederung des Buches orientiert sich an einer Seminarreihe der Autoren, die diese an der Universität von Arizona gehalten haben. Hieraus ergibt sich eine Strukturierung entlang Themenfelder, auf denen die namensgebenden Konsequenzen des Kapitalismus aufgezeigt werden: die ideologische Grundlage des Kapitalismus, sein Verhältnis zu Militarismus, Umwelt, Globalisierung, Finanzialisierung und die Entstehung von und Reaktion auf Widerstand gegen das herrschende System. Dabei handelt es sich weniger um eine systematische Studie, sondern vielmehr um eine essayistische Behandlung diverser, die jeweiligen Themenfelder betreffender Aspekte und Folgeerscheinungen des Kapitalismus. Der Schwerpunkt der Betrachtungen liegt auf der Entwicklung in den USA, wobei die Autoren betonen, dass sich ihre Schlussfolgerungen auch darüber hinaus verallgemeinern lassen.
Der vorliegende Beitrag bezieht sich primär auf Überlegungen aus den Kapiteln zum Verhältnis von Kapitalismus und Militarismus (insbesondere denen von Waterstone) und entwickelt daran anknüpfend einige Überlegungen zur Rolle der Rüstungsindustrie im gegenwärtigen Kapitalismus.
Zum Verhältnis von Kapitalismus und Militarismus verweist Waterstone auf die „ursprüngliche Akkumulation“ bei Marx. Unter diesem Stichwort arbeitete Marx heraus, dass die Durchsetzung des Kapitalismus – entgegen anderslautenden Erzählungen – mit enormer Gewalt und Repression einherging. Ein solcher Prozess lässt sich auch heute noch beobachten, wenn bspw. vormals öffentliche Güter gegen den Willen der Bevölkerung privatisiert und der kapitalistischen Verwertungslogik unterworfen werden.
Phasen des Imperialismus
Hinsichtlich des Verhältnisses zwischen Kapitalismus und Militarismus bezieht sich Waterstone wie folgt auf die Entwicklung des Imperialismus: Unter Bezug auf das Buch „Der neue Imperialismus“ von David Harvey attestiert Waterstone drei Phasen des Imperialismus, die sich grob über die Zeiträume 1870-1945, 1945-1970 und 1970-2008 erstrecken. Die Ausführungen zu diesen Entwicklungsphasen werden im Folgenden zusammengefasst, anschließend wird diskutiert, welche Rückschlüsse sich hieraus unter Rückgriff auf weitere Autor*innen für das Verhältnis von Rüstungsindustrie und Kapitalismus ziehen lassen.
Die erste Phase des Imperialismus war von einer Überakkumulationskrise des Kapitals geprägt, in der dieses keine ausreichenden Investitions- und Verwertungsmöglichkeiten mehr fand und daher zunehmend auf Investitionen außerhalb der nationalen Landesgrenzen angewiesen war. Waterstone folgert, dass sich als Konsequenz hieraus die expansive geopolitische Doktrin imperialistischer Nationalstaaten entwickelte: „In dieser Situation musste das Kapital die Staaten zur Entwicklung einer geopolitischen Logik bewegen, die seiner eigenen expansionistischen Logik entsprach.“[2] Zur ideologischen Legitimation eines solchen Expansionismus dienten Rassismus, Nationalismus, Patriotismus und Chauvinismus. Die Konkurrenz zwischen den mächtigsten imperialistischen Staaten führte schließlich zu einer Beschleunigung des Kolonialismus und Anfang des 20. Jahrhunderts in den Ersten und – wohlgemerkt unter anderen Umständen – den Zweiten Weltkrieg.
Für die Betrachtung der folgenden Periode von 1945-1970 werden vorwiegend die USA als Beispiel herangezogen, welche im Zuge des beginnenden Kalten Krieges ein beispielloses Aufrüstungsprogramm vorantrieben und mittels der ideologischen Unterfütterung durch den Antikommunismus sowohl eine offensive Bekämpfung progressiver Kräfte im Innern als auch die anhaltende Bekämpfung unliebsamer (demokratischer) Regierungen und Gesellschaften auf dem gesamten Globus. Hierfür stellt der Krieg in Vietnam das wohl bekannteste, aber bei weitem nicht das einzige Beispiel dar. In dieser Phase verorten die Autoren auch die Entstehung des militärisch-industriellen Komplexes (siehe unten).
Die dritte Phase ab Beginn der 1970er Jahre wird mit dem Ende des Bretton-Woods-Regimes (der Bindung des US-Dollars als globale Leitwährung an den Goldstandard) eingeleitet. In der Folgezeit wird die unter dem Schlagwort Neoliberalismus bekannte Form eines aggressiven Wirtschaftsliberalismus durchgesetzt, wobei neben (teils verdeckten) militärischen Interventionen auch globale Finanzinstitutionen wie IWF, Weltbank und WTO Bedeutung für die Durchsetzung US-amerikanischer Interessen gewinnen. Ziel ist es dabei, die Entwicklung anderer weniger marktradikaler Wirtschaftsordnungen um jeden Preis zu verhindern.
Der obigen Einteilung stellt Waterstone eine Zusammenfassung von Lenins Definition des Imperialismus voraus, die kurz gesagt folgende Elemente umfasst: Zunehmende Bedeutung von Monopolen in der Wirtschaft auf Kosten der freien Konkurrenz zwischen kapitalistischen Akteuren, Entstehung des Finanzkapitals, Zunahme des Kapital- gegenüber dem Warenexport, Aufteilung der Welt unter monopolistischen Kapitalistenverbänden und das Ende der territorialen Aufteilung der Erde durch die kapitalistischen Großmächte.
Trotz des prominenten Bezugs auf Lenin bleiben die Autoren in der Begriffsverwendung z.T. diffus bis widersprüchlich. So stellt Waterstone bspw. Lenins Imperialismusbegriff den Hannah Arendts gegenüber, ohne eindeutig zu benennen, auf welchen er sich eigentlich wo bezieht. Ähnliches lässt sich über die Verwendung der Begriffe Imperialismus und Militarismus sagen und ihr Verhältnis zueinander, das nicht eindeutig geklärt wird. Bezüglich der obigen Entwicklungsphasen des Imperialismus fällt auf, dass zunächst allgemein die historische Entwicklung imperialistischer Mächte und ihrer Konkurrenz untereinander dargestellt wird und anschließend vorwiegend auf die US-amerikanische Politik im 20. Jahrhundert Bezug genommen wird, ohne dass ersichtlich wird, ob es sich hier um eine allgemeine ‚Konsequenz des Kapitalismus‘ oder einen Sonderfall handelt.
Imperialismus und Militärisch-industrieller Komplex
Den definitorischen Unschärfen zum Trotz greifen die Autoren zwei für die Verortung der Rüstungsindustrie zentrale Konzepte auf, die nun näher betrachtet werden: den Imperialismus und den Militärisch-industriellen Komplex (MIK). Der Bezug auf Lenin ermöglicht es, sehr viel genereller die Frage nach dem Verhältnis von Krieg und Kapitalismus aufzuwerfen. Lenins Analyse in der Schrift „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus“ (aus der auch die obige Definition stammt) erklärt zum einen die ökonomischen Entwicklungen, die zum Ersten Weltkrieg führten. Darüber hinaus sah er in Krieg und militärischer Gewalt eine inhärente Eigenschaft des Kapitalismus, wenn dieser das monopolkapitalistische Stadium des Imperialismus erreicht hat. Mit der Auflösung der ‚freien kapitalistischen Konkurrenz‘ auf Kosten monopolistischer Unternehmen und Verbände setzt eine Konkurrenz zwischen Monopolen und den zugehörigen Staaten ein, welche im Kampf um Absatzmärkte und Ressourcen immer wieder in die zwischenstaatliche militärische Eskalation führen kann. So äußert er sich im Vorwort zur deutschen und französischen Ausgabe seines Buches wie folgt: „Und diese Ergebnisse zeigen, daß auf einer solchen wirtschaftlichen Grundlage, solange das Privateigentum an den Produktionsmitteln besteht, imperialistische Kriege absolut unvermeidlich sind.“[3] Ergänzend hierzu warnt der bei Chomsky und Waterstone wiederholt zitierte David Harvey davor die Interessen und Handlungslogiken von (imperialistischem) Staat und Kapital unmittelbar gleichzusetzen und attestiert beiden eine enge Wechselbeziehung. So argumentiert er am Beispiel des Krieges in Vietnam, dass dieser keinen unmittelbaren ökonomischen Nutzen gebracht habe. Langfristig diente er aber dem Projekt, die Entstehung von Staaten zu unterdrücken, welche sich dem Paradigma des freien Kapitalflusses entziehen und damit der Aufrechterhaltung der (ökonomischen) US-Hegemonie.[4] Folgt man diesen Einschätzungen, dann ist die Existenz der Rüstungsindustrie eine essenzielle Voraussetzung für die Politik imperialistischer Staaten und die im monopolkapitalistischen Stadium des Kapitalismus angelegte Tendenz zur militärischen Konfrontation. Der von Waterstone und Chomsky ebenfalls thematisierte Militärisch-industrielle Komplex wiederum kann als naheliegende Konsequenz einer Politik gesehen werden, die für einen imperialistischen Interventionismus auf einen wachsenden Militärapparat und zugehörigen Rüstungssektor angewiesen ist. Die Entstehung dieses Komplexes in den USA folgt auf das massive Aufrüstungsprogramm zur militärischen Stützung der expansionistischen US-Außenpolitik nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und der Aufrechterhaltung militärischer Dominanz gegenüber der Sowjetunion. Der Begriff geht auf eine Rede des US-Präsidenten und ehemaligen Generals Dwight D. Eisenhower zurück, die dieser 1961 kurz vor dem Ende seiner Amtszeit hielt. Darin warnte er vor einem zunehmenden Einfluss von Militär und Rüstungsindustrie auf die politischen Institutionen und vor der Verselbstständigung der entsprechenden Strukturen.
Folglich kann die Rüstungsindustrie sowohl als Folge und Bedingung der zwischenstaatlichen imperialistischen Konkurrenz gesehen werden als auch als Teil einer innerstaatlichen Dynamik zunehmenden Einflusses von Militär und Industrie auf die Politik.
Im Folgenden wird beispielhaft die Rolle des MIK in Deutschland und der EU diskutiert, ehe unter Bezug auf Chomsky und Waterstone abschließend die Folgen seiner Entwicklung für die Gesellschaft diskutiert werden.
Die Rolle des MIK in Deutschland und der EU
Die Antwort auf die Frage, ob bzw. in welcher Form ein solches autonomes Machtzentrum mittlerweile auch in der Bundesrepublik zu beobachten ist, hängt laut Dorothea Schmidt davon ab, welchen Aspekt eines solchen Komplexes man in den Blick nimmt.[5] Sie definiert Beschaffungswesen, Rüstungsexporte und den Einfluss der Geheimdienste als mögliche wissenschaftliche Untersuchungsfelder. So verortet sie im Beschaffungswesen der Bundeswehr ein variierendes Gewicht des Einflusses der Rüstungsindustrie, in Abhängigkeit von der Anzahl der um Aufträge konkurrierenden Unternehmen. Angesichts wiederholter Lieferschwierigkeiten und defektem Gerät bei militärischen Großaufträgen sei deren praktischer Nutzen für die Bundeswehr zwar fraglich, die Bezahlung der jedes Mal explodierenden Kosten durch den Bund aber zweifellos im Sinne der Rüstungsindustrie. Die Ausfuhr von Rüstungsgütern und die laxe Kontrolle selbiger (trotz stets anders lautender Selbsteinschätzungen der wechselnden Bundesregierungen) sprechen laut Schmidt für eine enge Verzahnung zwischen Rüstungsindustrie und Politik. Diese wird noch verstärkt durch geheime Waffenexporte, welche durch den Bundesnachrichtendienst – einem weiteren Akteur im MIK – organisiert wurden, u.a. auch unter Umgehung von durch die Nato verhängten Embargos. Das Ausmaß dieser Aktivitäten lässt sich allerdings schwer einschätzen, da sie nur punktuell durch journalistische Recherchen offengelegt werden konnten.
Hinsichtlich des Beschaffungswesens seien hier noch zwei Aspekte ergänzt. Neben der Nachfrage-Seite also der Frage an welches Land Waffenlieferungen genehmigt werden, sind diese auch grundsätzlich notwendig, zur Aufrechterhaltung einer „starken rüstungsindustriellen Basis“[6] als Grundlage der eigenen Machtpolitik, da sich die Rüstungsindustrie nicht allein aus nationalen Aufträgen finanzieren könnte. Was die wiederholten Probleme militärischer Beschaffungs-Großprojekte betrifft, so mögen diese aus militärischer Sicht problematisch sein, befördern aber zugleich auf diskursiver Ebene die Erzählung der kaputtgesparten und ungenügend ausgerüsteten Bundeswehr, welche nun seit Jahren die deutsche Aufrüstung begleitet und mal als Sorge, mal als Running Gag quer durch alle politischen Lager reproduziert wird.
Auf europäischer Ebene wird die Konsolidierung im Rüstungssektor politisch vorangetrieben, um den Markt auf wenige international konkurrenzfähige Großkonzerne zu reduzieren. Dieses Vorgehen soll u.a. Kosten sparen und gemeinsame Beschaffungsprojekte erleichtern.[7] Die hierüber geschaffene monopolistische Struktur dürfte den bereits immensen Lobby-Einfluss der Rüstungsindustrie auf europäischer Ebene zusätzlich verstärken, wenn immer weniger alternative Anbieter für die Bedürfnisse eines zunehmend europäisierten Militärapparates zur Verfügung stehen. Verschiedene Studien verweisen auf den steigenden Einfluss der Rüstungsindustrie in Brüssel, welcher sich nicht bloß auf die Auftragsvergabe, sondern auch die Ausgestaltung der Sicherheitspolitik auswirkt und die Ausweitung selbiger auf immer neue Einsatzfelder. Besonders eindrücklich lässt sich diese Entwicklung gegenwärtig im fortschreitenden Ausbau des militarisierten EU-Grenzregimes beobachten.
Rüstung statt Soziales
Die weltweite Zunahme der Rüstungsbudgets wirkt sich u.a. negativ auf die staatlichen Sozialausgaben aus. Das gilt nicht nur für die USA, wo diese bereits extrem gering sind, sondern lässt sich auch gegenwärtig in Deutschland beobachten, wo das massive Aufrüstungspaket für die Bundeswehr finanziert wird, während nötige Sozial- und Infrastrukturausgaben auf der Strecke bleiben (was durch das Festhalten an der Schuldenbremse noch verstärkt wird). Eine Folge dieser Entwicklung, die Waterstone und Chomsky skizzieren ist der Rückgang der Legitimität des Staates auf Basis der ökonomischen Absicherung seiner Subjekte.[8] Mit der parallelen Stärkung des Militärisch-industriellen Komplexes verschiebt sich auch die Legitimationsgrundlage des Staates. Dieser legitimiert sich zunehmend über die Gefahrenabwehr, also den militärischen Schutz der Bevölkerung, was durch den Trend verstärkt wird, immer mehr gesellschaftliche Probleme als militärisch relevant zu definieren – mitsamt der entsprechenden „Lösungsmöglichkeiten“. Die hierfür notwendigen Bedrohungen bieten laut Waterstone und Chomsky wechselnde Feindbilder wie ehemals Kommunisten, seit 2001 Terroristen und verschiedene marginalisierte Bevölkerungsgruppen. Ergänzen lässt sich die anhaltende Konstruktion Russlands und Chinas als Feindbild, welche bereits lange vor dem russischen Angriff auf die Ukraine einsetzte. Gleichzeitig bietet diese Logik die argumentative Grundlage, um weitere Aufrüstung und die fortschreitende Finanzierung von Rüstungsprojekten gegen immer neue Bedrohungen zu rechtfertigen.
Anmerkungen:
1 Milanovic, Branko (2021) Kapitalismus global. Über die Zukunft des Systems, das die Welt beherrscht. Bpb: Bonn. S. 14.
2 Chomsky, Noam; Watersone, Marv (2022) Konsequenzen des Kapitalismus. Der lange Weg von der Unzufriedenheit zum Widerstand. Westend: Frankfurt am Main. S. 134.
3 Lenin, Wladimir Iljitsch (2016) Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus. Kritische Neuausgabe mit Essays von Dietmar Dath und Christoph Türcke. Verlag 8. Mai: Berlin. S. 46.
4 Harvey, David (2003) The new imperialism. Oxford University Press: Oxford. S. 29-30.
5 Schmidt, Dorothea (2020) Gibt es in Deutschland einen militärisch-industriellen Komplex? In: PROKLA. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaften 50/4. S. 617-641.
6 Wagner, Jürgen (2019) Europäischer Türöffner. Die Neuauflage der Rüstungsexportrichtlinien. IMI-Analyse 2019/021.
7 Haydt, Claudia; Wagner, Jürgen (2018) Die Militarisierung der EU. Der (un)aufhaltsame Weg Europas zur militärischen Großmacht. Edition berolina: Berlin. S. 190ff.
8 Chomsky/Waterstone (2022) S. 98-99, 154f.
Quelle: https://www.imi-online.de/ Bild: www.koop-frieden.de