Interessenvertretung ohne Streikrecht

Interview mit Ingrid Artus geführt von Sophie-Marie Aß

Die betriebliche Mitbestimmung ist in Deutschland seit Jahrzehnten gesetzlich verbrieft. Doch viele Beschäftigte nehmen ihr Recht auf die Gründung eines Betriebsrats nicht wahr. Ingrid Artus ist Professorin für Soziologie und forscht seit vielen Jahren zu sozialer Ungleichheit, Mitbestimmung und Tarifpolitik. Im JACOBIN-Interview erklärt sie, wie sich die betriebliche Mitbestimmung historisch entwickelte, mit welchen Strategien Unternehmen die Gründung von Betriebsräten verhindern und wie Gewerkschaften darauf reagieren können.

Die Institution des Betriebsrats ermöglicht Beschäftigten in Deutschland eine gewisse demokratische Partizipation. Dennoch haben nur etwa 10 Prozent der betriebsratsfähigen Betriebe einen Betriebsrat. Woran liegt das?

Sie haben Recht: In 92 Prozent aller betriebsratsfähigen Betriebe existiert kein Betriebsrat. Das klingt nach absolut horrenden Zuständen. Doch ungefähr 40 Prozent der Beschäftigten werden durch einen Betriebsrat vertreten. Betriebsratsfähig sind ja alle Betriebe ab fünf Beschäftigten. Darunter fallen also auch sehr kleine Betriebe.

Eine Betriebsratswahl ist rechtlich gar nicht so einfach. Und wenn man in einem kleinen Betrieb arbeitet und auch einfach zu dritt zum Chef gehen kann, wird man sich gut überlegen, ob man wirklich einen Betriebsrat wählen will. Interessanter wird es dann bei Betrieben ab etwa fünfzig Beschäftigten. In Deutschland ist die Wahl eines Betriebsrats jedoch ein Recht, das aktiv ergriffen werden muss. Man könnte es auch so machen wie in Frankreich, wo die Einrichtung eines comité d’entreprise verpflichtend ist. Der Arbeitgeber muss sich dort darum kümmern. In Deutschland müssen sich hingegen die Beschäftigten dazu entschließen. Das setzt eine gewisse Entschiedenheit und Durchsetzungskraft voraus. Und dazu braucht man zumeist die Gewerkschaft.

»Der Betriebsrat hat keine Mitentscheidungs­rechte bei wirtschaftlichen Angelegenheiten, was ja auch Adenauers Ziel war.«

Zusätzlich haben wir in den letzten dreißig Jahren einen Branchenwandel erlebt. Wir haben immer einen gewissen Prozentsatz von Betrieben, die einfach wegbrechen. Vor allem im Bereich der prekären Dienstleistungen sind viele neue Unternehmen gegründet worden. Hier sind die Gewerkschaften zum Teil nicht sehr präsent. Historisch gibt es eine stärkere Verankerung im Bergbau, im verarbeitenden Gewerbe und im Metallbereich.

Wie hat sich die betriebliche Mitbestimmung in Deutschland entwickelt?

Wir haben ein duales System industrieller Beziehungen in Deutschland. Das heißt, es gibt zwei Säulen der Interessenvertretung. Die eine ist die Betriebsverfassung, die durch das Betriebsverfassungsgesetz gesetzlich geregelt ist. Die andere ist die Tarifautonomie als Aufgabe der Gewerkschaften.

Das ist die Krux, wenn wir über das Betriebsverfassungsgesetz sprechen. Die Betriebsverfassung ist von Anfang an – seit der Weimarer Republik – als von den Gewerkschaften getrennt konzipiert worden. Das heißt, die demokratische Mitbestimmung in den Betrieben und auch die Rechte des Betriebsrats sind formal gesehen völlig gewerkschaftsunabhängig verfasst. In vielen anderen Ländern gibt es entweder eine Verknüpfung der beiden Instanzen, sodass die Gewerkschaften etwa für die Wahl der betrieblichen Vertretungen ein Vorschlagsrecht haben. Oder die Gewerkschaften sind direkt in den Betrieben repräsentiert. So war es beispielsweise in der DDR; in Großbritannien oder den USA ist es bis heute so.

In der Praxis kooperieren die Betriebsräte aber mit den Gewerkschaften. 

Natürlich. Die meisten Betriebsräte sind Gewerkschaftsmitglied und die Gewerkschaften bieten Schulungen für sie an. Viele der ehrenamtlichen Tätigkeiten in den Geschäftsstellen der Gewerkschaften werden von Betriebsräten übernommen. Aber rein formal haben die Gewerkschaften in Deutschland nur ein sehr beschränktes Zugangsrecht zu den Betrieben. Die Gewerkschaften sind also auf die Kooperation der Betriebsräte angewiesen, auch was die Mitgliederwerbung angeht.

Umgekehrt haben die Betriebsräte kein Streikrecht und formal nichts mit den Tarifverträgen zu tun. Sie dürfen keine Betriebsvereinbarungen über Löhne und die Länge der Arbeitszeiten abschließen. Das fällt in den Zuständigkeitsbereich der Gewerkschaften.

Und dieses System der dualen Interessensvertretung geht auf die Weimarer Republik zurück?

Richtig. In den Anfangsjahren des Deutschen Kaiserreichs hatten Arbeiter und Arbeiterinnen überhaupt keine Form der Repräsentation und der Mitsprache über ihre Ausbeutungsbedingungen. Während des ersten Weltkriegs gab es erstmals eine Einbeziehung der Gewerkschaften in die Kriegswirtschaft. Aber das Stinnes-Legien-Abkommen nach der gescheiterten deutschen Revolution 1918 ist die eigentliche Geburtsstunde der formalen Anerkennung der Gewerkschaften.

Hugo Stinnes war ein Schwerindustrieller und führte die Arbeitgeberseite an. Carl Legien war der Vorsitzende der Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands, der Vorgängerorganisation des DGB. Sie haben letztendlich ein Tauschgeschäft vollzogen. Die Gewerkschaften und auch die SPD wandten sich gegen die Revolution. Die Produktionsmittel wurden nicht enteignet. Dafür wurden die Rechte der Arbeiterinnen und Arbeiter gestärkt, der Achtstundentag eingeführt und die Abmachung getroffen, in Zukunft Kollektivvereinbarungen zu beschließen. Der Tarifvertrag als Institution ist damals anerkannt worden und wurde dann später rechtlich verfasst.

Die Gewerkschaften haben sich damals zwar durchgesetzt, aber mit dem Ziel, ihren Vorrang an Verhandlungsmacht nicht an die Arbeiter und Arbeiterinnen der radikalen Betriebsrätebewegung abtreten zu müssen. Aus diesem Grund gibt es das juristische Streikmonopol der Gewerkschaften. Die Betriebsräte haben kein Streikrecht. Man hatte Angst vor einer Basis, die man nicht kontrollieren kann. Im Grunde stammt das Betriebsrätegesetz aus der Feder der SPD und der SPD-Gewerkschaften.

Zu dieser Zeit gab es große Kämpfe in der Arbeiterbewegung. Während der Verhandlungen um das Betriebsrätegesetz, im Januar 1920, gab es einen Sturm auf den Reichstag, eine große Demonstration unter dem Motto »Heraus zum Kampf gegen das Betriebsrätegesetz, für das revolutionäre Rätesystem«. Die Sicherheitskräfte haben geschossen. Man weiß nicht sicher, wie viele Tote es gab. Das Betriebsrätegesetz wurde damals also gegen den Willen der linksradikalen Betriebsrätebewegung und der USPD verabschiedet.

Wie sah die Konstellation nach dem Zweiten Weltkrieg aus?

Nach dem Ersten Weltkrieg gab es ein Gegeneinander der radikal linken Betriebsrätebewegung und den von der SPD dominierten Gewerkschaften. Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es zwar auch linke Bewegungen, aber nicht im selben Ausmaß.

In den 1920er Jahren hatte Fritz Naphtali eine Konzeption der Wirtschaftsdemokratie als eine Art Weiterentwicklung des Stinnes-Legien-Abkommens entwickelt: Die Gewerkschaften sollten auf Augenhöhe mit dem Kapital die Wirtschaft regulieren. Die Grundidee war also keine revolutionäre Bewegung, sondern eine gleichrangige Einbeziehung der Gewerkschaften in die Regulierung der wirtschaftlichen Prozesse. Der Kapitalismus sollte demokratisch kontrollierbar werden.

Nach dem zweiten Weltkrieg vertrat die Labour Party in Großbritannien ähnliche Ideen. Unter der Labour-Regierung von Clement Atlee hatte Großbritannien damals als Besatzungsmacht in Deutschland großen Einfluss. Das Ruhrgebiet stand unter britischer Verwaltung. Für die Montanmitbestimmung hat das eine wichtige Rolle gespielt. Zunächst wurde sie unter Besatzungsrecht verabschiedet, bevor sie 1951 in das Montanmitbestimmungsgesetz gegossen wurde. Im Bergbau und der Stahlindustrie war die Notwendigkeit zur demokratischen Regulierung durch die Verbindung zur Waffenindustrie am klarsten. So wurde die paritätische Mitbestimmung in der Montanindustrie eingeführt.

»Inzwischen gibt es Anwaltskanzleien, die Kurse anbieten, in denen man gezielt darin geschult wird, wie man Betriebsrats­gründungen verhindert.«

Aber die Gewerkschaften wollten diese Prinzipien auf die gesamte Wirtschaft übertragen. Da war das Betriebsverfassungsgesetz von 1952 natürlich eine Niederlage, denn damit wurden den Betriebsräten lediglich ein paar mehr Rechte als in der Weimarer Republik zugesichert und die Ein-Drittel-Beteiligung im Aufsichtsrat eingeführt. Das Betriebsverfassungsgesetz wurde unter Adenauer verabschiedet, die Gewerkschaften konnten ihre Vorstellungen nicht umsetzen.

Wurde das Betriebsverfassungsgesetz danach nochmal verändert?

Ja, aber nur in recht beschränktem Umfang. Willy Brandt wollte eigentlich »mehr Demokratie wagen«. Da haben die SPD und die Gewerkschaften einen Anlauf gemacht, dieses sehr stark beschränkte Mitbestimmungsgesetz auszuweiten. Damals hat sich die FDP dem Vorhaben entgegengestellt. Es gab bescheidene Reformen, aber wieder in Form eines Kompromisses.

Die paritätische Mitbestimmung betrifft die Ebene des Aufsichtsrats. Welche Rechte und Aufgaben hat der Betriebsrat?

Der Betriebsrat hat vor allem Rechte in sozialen und in personellen Angelegenheiten, zum Beispiel darf er über Mehrarbeit mitbestimmen. Das war eine wesentliche Neuerung gegenüber dem Betriebsrätegesetz aus der Weimarer Republik. Damals hatten Betriebsräte nur Mitwirkungsrechte, aber keine echten Mitbestimmungs- und Vetorechte. Bei personellen Fragen oder einer Ausweitung der Arbeitszeit gibt es ein Zustimmungsverweigerungsrecht des Betriebsrats. Das heißt, wenn die Zustimmung des Betriebsrats nicht eingeholt wird, dann kann er die Anordnungen der Geschäftsführung juristisch anfechten.

Aber es müsste wieder eine Politisierung stattfinden. Der Betriebsrat hat keine Mitentscheidungsrechte bei wirtschaftlichen Angelegenheiten, die unternehmerische Freiheit ist vom Betriebsrätegesetz unangetastet geblieben, was ja auch Adenauers Ziel war. Wenn es um Investitionen, die Umstrukturierung des Unternehmens, Unternehmensverkäufe und Outsourcing geht, hat der Betriebsrat nichts zu sagen.

Wir kennen die Vorfälle des Union Bustings bei Amazon in den USA. Wie verbreitet ist dieses Vorgehen in Deutschland? Wie werden Betriebsratsgründungen blockiert?

Ob die Union-Busting-Strategien wirklich zugenommen haben oder ob sie schlicht mehr wahrgenommen werden, kann ich nicht mit Sicherheit sagen. Vor zwanzig Jahren gab es Union Busting auf jeden Fall auch schon. Aber die Gewerkschaften haben der Thematik wenig Aufmerksamkeit geschenkt, weil alle immer annahmen, bei uns funktioniere die Sozialpartnerschaft. Union Busting wurde als Ausnahme von der Regel dargestellt.

Aber inzwischen ist bei den Gewerkschaften, gerade bei Ver.di, auf jeden Fall angekommen, dass es Konzerne und natürlich auch kleinere Einzelbetriebe gibt, die strategisches Union Busting betreiben.

Es ist also gerade in den prekären Dienstleistungen, die bei Ver.di organisiert wären, sehr verbreitet?

Genau, und auch bei der NGG. Natürlich gab es schon immer Klein- und Mittelbetriebe, wo der Chef einen Betriebsrat bis auf das Messer bekämpft hat. Aber dabei handelte es sich oft um eher personalisierte Auseinandersetzungen. Inzwischen gibt es Anwaltskanzleien, die Kurse anbieten, in denen man gezielt darin geschult wird, wie man Betriebsratsgründungen verhindert. Die großen Konzerne lassen sich darüber beraten, wie sie eine Initiative unschädlich machen können. Das ist schon ein anderes, sehr viel systematischeres Vorgehen, als wenn der Chef einfach sein Unternehmen, das ihm gehört, für sich behalten will.

Aber auch andersrum habe ich gehört, dass Kanzleien anbieten, Betriebsräte durchzusetzen, und zwar unabhängig von Gewerkschaften.

Es gibt durchaus Betriebsräte, die dauerhaft ohne die Gewerkschaften arbeiten. Gerade in den neueren hochqualifizierten Branchen wollen etwa Softwareentwickler einen Betriebsrat, aber nicht unbedingt die Gewerkschaft im Unternehmen.

Das ist möglich durch dieses duale System industrieller Beziehungen. Es liegt schon nahe, dass die beiden Institutionen kooperieren. Aber es gibt keine rechtliche Vorschrift darüber.

Wie kommt es in einem Betrieb denn gewöhnlich zur Gründung eines Betriebsrats und wie geht man denn seitens der Gewerkschaft mit Strategien der Verhinderung eines Betriebsrats um?

Also zuerst müssen sich die Initiatoren und Initiatorinnen im Unternehmen untereinander finden. Es muss zu einem Austausch kommen, wo dann das Ziel abgesteckt wird. Dann müssen sie rausbekommen, welche formalen Vorschriften es für die Wahl eines Betriebsrats gibt.

Wir haben das in unserem Forschungsprojekt die Latenzphase genannt. Die anderen Beschäftigten wissen noch nichts von dem Vorhaben, der Chef oder die Chefin weiß auch noch nichts. In dieser Phase sind diese Betriebsratsinitiativen am gefährdetsten. Es gibt keinerlei rechtlichen Schutz. Diesen Schutz gibt es erst, sobald eine Wahlversammlung einberufen wird, wenn also die ersten formalen Schritte ergriffen werden, um einen Betriebsrat zu gründen.

Daher ist es wichtig, dass die Initiative in dieser Phase auch latent bleibt. Eine Möglichkeit, um in der Gründungsphase gegen die Gründung eines Betriebsrats vorzugehen, ist natürlich, dass man »die Köpfe abschlägt«, wenn noch kein Kündigungsschutz besteht. Eine Betriebsratsgründung ist natürlich kein Kündigungsargument. Man kommt dann oft mit fachlichen Vorwürfen – die findet man dann schon.

Darüber hinaus kann der Chef oder die Chefin, sobald er oder sie davon Wind bekommt, auch Gegenpropaganda machen. Meistens wollen zu Anfang nicht alle in der Belegschaft einen Betriebsrat. Sie wissen vielleicht gar nicht, was das ist, aber wissen, dass der Schritt heikel ist. Meistens ist es so, dass man Teile der Belegschaft erst überzeugen muss. Das Management hat viel umfangreichere Möglichkeiten der Beeinflussung und vor allem Sanktionsmöglichkeiten.

Als Gründungsinitiative sollte man einen gefestigten Entschluss haben und die eigenen Rechte kennen. Deshalb sollte man sich unbedingt von einer Gewerkschaft beraten lassen. Die Gewerkschaften schützen die Initiatoren und Initiatorinnen inzwischen wesentlich besser als früher. Sie sind sich der Tatsache bewusst, dass die Phase heikel ist.

Das war nicht immer so?

Früher waren manche Gewerkschafter oder Gewerkschafterinnen da oft ein wenig naiv. Die Gewerkschaft rief manchmal viel zu früh beim Chef an und sagte: Übrigens, wir wollen da einen Betriebsrat gründen. Die Wahlversammlung kann entweder von den Beschäftigten oder der Gewerkschaft einberufen werden. In dem Moment, wo Personen das in ihrem Namen machen, kann man sie nicht mehr so leicht kündigen, aber durchaus unter Druck setzen. Insofern ist es sinnvoll, dass die Gewerkschaft die Wahlversammlung einberuft. Und auf der Wahlversammlung wird dann der Wahlvorstand gewählt, der das Ganze organisiert und wiederum einen klaren Kündigungsschutz hat.

»Union Busting ist verboten, es gibt im Strafgesetzbuch eine Regelung, die die Behinderung von Betriebsratsarbeit strafrechtlich sanktioniert. Das passiert aber so gut wie nie.«

Wenn es wirklich Union Busting gibt, kann die Gewerkschaft auch bei der Propagandaschlacht helfen und moralischen Rückhalt geben. Die Zeit zwischen der Aufstellung des Wahlvorstandes und der Wahl selbst ist manchmal hart. Es kann einen Kampf um die betriebliche Öffentlichkeit geben, zum Teil werden die Protagonisten der Betriebsratswahlen verunglimpft. Man sagt: Die sind doch nur faul. Die wollen sich selbst schützen. Die treiben das Unternehmen in den Ruin. Die sind schuld daran, wenn ihr eure Arbeitsplätze verliert. Wenn ihr einen Betriebsrat wollt, dann können wir euch leider kein Weihnachtsgeld mehr zahlen. Die Initiatoren und Initiatorinnen stehen dann oft mit dem Rücken zur Wand und müssen ihr Vorhaben offensiv verteidigen und begründen. Die Unterstützung der Gewerkschaft ist in dieser Situation sehr wichtig.

Ich kann verstehen, dass Menschen, die unter Druck gesetzt werden oder Angst haben, gegen einen Betriebsrat sind. Aber Sie sagten gerade, dass es fast immer einen Teil der Belegschaft gibt, der einfach keinen Betriebsrat will. Was können die Gründe hierfür sein?

In manchen Betrieben gibt es zum Beispiel schon funktionierende Strukturen der Verständigung. Dann sagt der Chef: Warum braucht ihr jetzt so ein bürokratisches Organ, das Geld kostet und nur für Unfrieden sorgt? Die bringen noch die Gewerkschaft hier rein, dann gibt es Konflikte, das schadet dem Unternehmen. Und da ist ja auch was dran. Die Emanzipation der Beschäftigten von der Alleinherrschaft des Managements geht in der Regel nicht ohne Konflikte. Die Belegschaft sollte also selbstständig abwägen: Brauchen wir wirklich so ein Organ? Nutzt es uns mehr, als es uns schadet? Setzten wir das Wohlwollen des Chefs und damit auch die Rechte, die er uns ohnehin gewährt, aufs Spiel? In kleinen Betrieben mit einem Vertrauensverhältnis zwischen Chef und Beschäftigten liegt die Idee eines Betriebsrats nicht so nahe. Aber wenn es Misstrauen und relativ autoritäre Anordnungsstrukturen gibt, ist ein Betriebsrat wichtig.

Ist es den Gewerkschaften in der Fläche möglich, in die Betriebe zu gehen, um Betriebsratswahlen zu initiieren oder zu unterstützen?

Die Gewerkschaften sind ohnehin so beschäftigt im Alltag, dass sie meistens nur agieren, wenn Konflikte an sie herangetragen werden. Es gibt so ein paar Pilotprojekte bei der IG Metall. Da gehen sie in die Betriebe und versuchen, Betriebsräte zu gründen. Aber das ist eher die Ausnahme. Die Gewerkschaften sind eher die Feuerlöscher in besonders zugespitzten Situationen. Wobei man sagen muss, es gibt natürlich auch ein paar Konzerne, von denen man weiß, dass die Situation dort besonders schwierig ist.

Von welchen Konzernen sprechen wir?

Aldi Süd zum Beispiel. Da gibt es kaum Betriebsräte. Es gibt vielleicht einen oder zwei, für ich weiß nicht wie viele Standorte. McDonalds war auch lange so ein Fall, auch Lidl und UPS.

Eine weitere Gegenstrategie gegen einen interessenbewussten Betriebsrat ist übrigens auch, dass die Geschäftsleitungsseite eine eigene Liste zur Wahl aufstellt, auf der mittlere und hohe Führungspersonen kandidieren.

Sollte die Einrichtung von Betriebsräten verpflichtend werden?

Ich wäre nicht völlig dagegen. In Frankreich ist das so. Das hat seine Vorteile, wenn so ein Gremium gewählt werden muss. Dann muss die Arbeitgeberseite oder die Gewerkschaft Menschen im Unternehmen finden, die Mitbestimmung zu ihrem Job machen. Wenn sich dann politisch bewusste Menschen finden, können die da einfach reingehen und müssen das Gremium nicht erst aufwändig und eventuell unter riskanten Umständen gründen. Umgekehrt werden dadurch aber natürlich auch viele Institutionen geschaffen, an denen eigentlich niemand ein großes Interesse hat. Der Betriebsrat wird zum bürokratischen Überbau, der vielleicht die Weihnachtsfeier organisiert, aber nicht viel mehr. Aber auch das ist ja nicht wirklich schädlich.

Welche rechtlichen Reformen könnten die Gründung von Betriebsräten erleichtern?

Den Schutz von Initiatoren und Initiatorinnen von Betriebsratsgründungen könnte man deutlich ausweiten. Im Grunde bräuchten diejenigen einen Schutz vor außerordentlichen Kündigungen. Die kann man nämlich auch noch aussprechen, nachdem die Personen im Wahlvorstand sitzen. Die sind zwar rechtlich unwirksam, führen aber letztlich dazu, dass die Menschen aus den Unternehmen ausgeschlossen werden und in der Wahlkampfphase nicht vor Ort sind. Ein Thema ist natürlich auch die befristete Beschäftigung. Wenn mein Arbeitsvertrag ausläuft, nützt es mir gar nichts, wenn ich besonderen Kündigungsschutz habe.

»Das Betriebsverfassungs­gesetz gilt bei kirchlichen Arbeitgebern nicht. Millionen von Beschäftigten sind von dieser Regelung betroffen: in Krankenhäusern, Pflege­einrichtungen, Altersheimen, Kindergärten.«

Union Busting ist bei uns natürlich verboten, es gibt im Strafgesetzbuch eine Regelung, die die Behinderung von Betriebsratsarbeit und -gründung strafrechtlich sanktioniert. Das passiert aber so gut wie nie, weil es kaum zu Anzeigen kommt und nur lächerliche Strafen verhängt werden.

Warum wird gegen die Behinderung von Betriebsräten nicht geklagt?

Das ergibt nur in ganz zugespitzten Situationen Sinn. Es ist ein riesiger bürokratischer Aufwand, mit dem kaum eine abschreckende Wirkung erzielt wird. Die Arbeitgeberseite weiß: Im schlimmsten Fall muss sie eine Geldstrafe von 10.000 Euro oder dergleichen bezahlen. Für die meisten Betriebe sind solche Beträge nicht wirklich erheblich.

Die Strafverfolgung ist auch unzureichend. Die Arbeitsgerichte wissen teils nicht, wie mit den Fällen zu verfahren ist, weil es so selten zu Klagen kommt. Es gibt den Vorschlag Union Busting oder Betriebsratsbehinderung zum Offizialdelikt zu machen. Es bräuchte dann keine Anzeige, sondern würde von staatlicher Seite verfolgt, mitsamt Schwerpunktstaatsanwaltschaften. Dadurch würden alle Fälle bei einer Staatsanwaltschaft der Bundesrepublik verhandelt, die dann auch wirklich Ahnung davon hat.

In Frankreich werden auch schon ab und zu Haftstrafen wegen Behinderung von Interessenvertretungen verhängt. Ich sage jetzt nicht, die müssten alle in Knast, aber es hat natürlich symbolisch eine große Wirkung, wenn zum Beispiel bei McDonalds ein Filialleiter in Handschellen abgeführt wird, weil er das comité d‘entreprise schikaniert hat.

Was man sinnvollerweise einführen könnte, wäre eine jährlich verpflichtende Informationsveranstaltung, wo das Management gemeinsam mit der Gewerkschaft über die Möglichkeit eines Betriebsrats informiert, also eine verbindliche Aufklärungsveranstaltungen und eine geheime Abstimmung darüber, ob ein Betriebsrat im Unternehmen gewünscht wird. Viele Beschäftigte wissen gar nicht, dass sie das Recht haben, einen Betriebsrat zu gründen. Da müsste man eigentlich sehr viel tun. Man müsste übrigens auch in den Berufsschulen viel mehr aufklären über Gewerkschaften und Betriebsräte.

Könnten das die Gewerkschaften proaktiv organisieren?

Die Gewerkschaften können das aktuell nicht machen. Sie haben ja überhaupt kein Zugangsrecht. Nein, das liefe auf eine juristische Reform raus.

Ein chronisches Ärgernis ist, dass das Betriebsverfassungsgesetz im Bereich von Tendenzbetrieben und auch von kirchlichen Arbeitgebern nicht gilt. Die haben Mitarbeitervertretungsstrukturen, die von den Kirchen selbst definiert werden. Millionen von Beschäftigten sind von dieser Regelung betroffen: in der Inneren Mission, der Diakonie, in Krankenhäusern, Pflegeeinrichtungen, Altersheimen, Kindergärten. Ihnen allen wird das Recht verwehrt, einen Betriebsrat zu wählen. Sie haben daher viel schwächere Rechte der Mitwirkung. Das ist nicht zeitgemäß.

 

 

 

 

 

 

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