Karl Marx / Friedrich Engels: Die Chimäre der Sozialpartnerschaft

Von Christian Frings

Seit Urzeiten beruhen Klassengesellschaften auf Ausbeutung. Aber erst der Kapitalismus hat es geschafft, sie uns als Freiheit zu verkaufen.

Obwohl im Buchhandel noch lieferbar, ist der Wälzer etwas in Vergessenheit geraten. Wegen der schmucken Goldprägung des Titels auf tiefem Blau ziert er zwar noch manchen Bücherschrank, aber seine Lektüre ist eine Zumutung. Sein veralteter Stil und die ausufernden Abschweifungen könnten dringend eine redaktionelle Überarbeitung vertragen. Zudem trägt er einen etwas sperrigen Titel, der nach einem verstaubten BWL-Lehrbuch für das Grundstudium klingt: „Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band, Buch I, Der Produktionsprozess des Kapitals“.

Sein Autor, ein gewisser Herr Marx, findet eigentlich nur noch in der Aufklärungsliteratur über Verschwörungstheorien Erwähnung. Seine bizarre Vorstellung, selbst bei einem tarifvertraglich geregelten und sozialversicherten Beschäftigungsverhältnis würde es sich um „Ausbeutung“ handeln, ist von der seriösen wirtschaftswissenschaftlichen Forschung längst widerlegt worden. Verdienstvollen Unternehmungen, die uns mit Lebensmitteln und all den anderen schönen Dingen des Lebens versorgen, pauschal zu unterstellen, sie würden ihre wertvollen Mitarbeiter:innen ausbeuten, grenzt an Rufmord.

Der gerechte Lohn

Sicherlich gibt es auch in unserer Gesellschaft noch Ausbeutung. Aber sie ist unmoralisch und gesetzeswidrig. Das stellt unser Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) in Paragraph 138 ganz eindeutig fest: „Ein Rechtsgeschäft, das gegen die guten Sitten verstösst, ist nichtig.“ Und im zweiten Absatz heisst es präzisierend: „Nichtig ist insbesondere ein Rechtsgeschäft, durch das jemand unter Ausbeutung der Zwangslage, der Unerfahrenheit, des Mangels an Urteilsvermögen oder der erheblichen Willensschwäche eines anderen sich oder einem Dritten für eine Leistung Vermögensvorteile versprechen oder gewähren lässt, die in einem auffälligen Missverhältnis zu der Leistung stehen.“

Es müssen also zwei Komponenten vorliegen, damit wir von Ausbeutung sprechen können: eine Zwangslage und ein Verstoss gegen das Äquivalenzprinzip des Tauschs, auf dem unsere Vorstellungen von Gerechtigkeit ganz wesentlich beruhen. Das formuliert schon das römische Recht: Do ut des, ich gebe damit du gibst, und zwar beide in gleichem Masse. Im Fall eines Beschäftigungsverhältnisses gebe ich Arbeit und du gibst mir dafür einen Lohn. Dass beides in keinem Missverhältnis steht, ist eine Frage der guten Sitten. Das Bundesarbeitsgericht hat dafür eine simple Faustformel festgelegt: Ein Lohn ist sittenwidrig, wenn er weniger als zwei Drittel des orts- und branchenüblichen Tariflohns beträgt. Das ist praktisch, aber zugleich das Eingeständnis, dass das Gericht keine Ahnung hat oder sich gar nicht dafür interessiert, was da eigentlich getauscht wird. Woran soll ich erkennen, dass Lohn und Leistung im richtigen Verhältnis zueinander stehen. Am Üblichen?

Schon die Kategorie des Lohns ist eine Mystifikation

Wenn sich gar nicht bestimmen lässt, wie Leistung und Lohn in ein Äquivalenzverhältnis gesetzt werden können, wie kann dann überhaupt die Rede von Lohngerechtigkeit sein? An dieser Frage setzt die Kritik von Marx an. Der Lohn sei nur eine „Erscheinungsform, die das wirkliche Verhältnis unsichtbar macht und grade sein Gegenteil zeigt“, schreibt er im hinteren Teil des Buchs; und spitzt die politische Bedeutung dieser Vernebelung der Verhältnisse noch zu: Auf dieser doch ganz harmlos wirkenden Kategorie des Lohns „beruhen alle Rechtsvorstellungen des Arbeiters wie des Kapitalisten, alle Mystifikationen der kapitalistischen Produktionsweise, alle ihre Freiheitsillusionen“ (S. 562). Wie schafft es die Kategorie des Lohns, uns Freiheit vorzugaukeln, obwohl seiner Ansicht nach doch alle Lohnarbeit ihrem Wesen nach Zwangsarbeit und Ausbeutung ist?

Ganz spontan und intuitiv denken wir bei „Lohn“ an die Bezahlung von Arbeit. Auch die ganze Art der Bezahlung spricht dafür. Entweder bekomme ich einen Stundenlohn oder einen Stücklohn, ich tausche also ein bestimmtes Arbeitsvolumen, gemessen durch die Zeit oder die hergestellte Stückzahl, gegen einen bestimmten Geldbetrag. Betuppt mich die Firma und zahlt mir für eine 40-Stunden-Woche nur 30 Stunden an Lohn, so werde ich das sofort reklamieren – und damit zugleich die Illusion bekräftigen, dass der Lohn die Bezahlung von Arbeit ist. Was bleibt mir sonst auch übrig?

Was ist überhaupt Kapital?

Aber was meint der Autor mit dem „wirklichen Verhältnis“, dass durch die Form des Lohns nicht nur unsichtbar gemacht, sondern auch noch in sein Gegenteil verkehrt wird? Im 4. Kapitel geht Marx von einer simplen Überlegung aus: Wir sprechen von Kapital, wenn eine Geldsumme investiert wird, um nach einer bestimmten Zeit mehr Geld zurückzubekommen. Dinge werden gekauft, aus ihnen wird etwas Neues gemacht, das dann wieder verkauft wird. Geld gegen Waren, Waren gegen mehr Geld.

Zum Leidwesen seines Freundes Friedrich Engels wollte Marx unbedingt modern erscheinen und packte seine Überlegungen in die auch in der Mathematik erst jüngst eingeführte Formelsprache: G–W–G‘. Auf viele Leser:innen dürfte diese Formelhuberei abschreckend wirken, aber vergessen wir sie einmal und kommen zum Problem zurück. Wo kommt das Mehr an Geld her? Geld ist Zeit, oder wie Benjamin Franklin schon 1784 geschrieben hatte: „Zeit ist Geld“ – gemeint war Arbeitszeit. Wenn mehr Geld zurückkommen soll, muss mehr gearbeitet worden sein, als die in dem vorgeschossenen Geld enthaltene Arbeit.

Gleichzeitig muss alles mit rechten Dingen zugehen, wenn so etwas wie Kapital einer ganzen Gesellschaft ihren Stempel aufdrücken soll. Bei dem Ein- und Verkauf von Waren müssen mehr oder weniger gleiche Volumen von Arbeit in Form von Waren und Geld getauscht worden sein. Das Mehr an Geld kann gesamtgesellschaftlich nicht aus ständiger Übervorteilung stammen, also nicht aus der Zirkulation, dem Kaufen und Verkaufen. Es sei denn – es gäbe eine Ware, deren Gebrauchswert darin besteht, mehr Arbeit zu liefern, als sie gekostet hat. Das kann aber nicht die Arbeit selbst sein.

Wenn Firmen Löhne bezahlen, dann kaufen sie keine Arbeit, schlussfolgert Marx, sondern sie finanzieren nur die Existenz von lebendigen Menschen, die arbeiten können oder könnten. Diese im Menschen angelegte pure Möglichkeit zu arbeiten, nennt er Arbeitskraft oder Arbeitsvermögen. Das ist es, was im Lohnvertrag zur Ware wird. Grob gesprochen, sie füttern uns durch, damit wir für sie arbeiten können. Es liegt nicht an einem „Mangel an Urteilsvermögen oder der erheblichen Willensschwäche“ (BGB), dass sich die Mehrheit der Menschen in einer kapitalistischen Gesellschaft auf diesen Deal einlässt, sondern weil ihnen schlicht die Mittel dazu fehlen, sich selbst zu ernähren. Wie es historisch dazu kommen konnte, beleuchtet der Autor in einer historischen Skizze am Ende des Buchs. Aber so wie die Dinge stehen, sind wir nun durch einen „stummen Zwang“ (S. 765) der Verhältnisse ganz ohne persönlichen Zwang wie in Sklaverei und Leibeigenschaft dazu verdammt, unsere Arbeitskraft freiwillig zu verkaufen – eben diese blöde „Zwangslage“, von der in Paragraph 138 BGB die Rede war.

Dass wir dann tatsächlich mehr arbeiten, als unser Unterhalt sie kostet, steht auf einem ganz anderen Blatt. Diesem Transformationsproblem, der Umwandlung von Arbeitskraft in wirkliche Arbeit, widmet Marx den grössten Teil seines Buchs. Dazu bedarf es einer ausgefeilten Arbeitsorganisation, einer Hierarchisierung der Arbeitskräfte entlang von sogenannten Qualifikationen, sexistischen, rassistischen und altersmässigen Spaltungslinien und einer übermächtig wirkenden Maschinerie, der wir untergeordnet werden.

Der eigentliche Clou dieser Art, Ausbeutung und damit die Möglichkeit von Kapital zu erklären, besteht in dem, was er als den „relativen Mehrwert“ bezeichnet. Das Mehr an Arbeit, das für das Mehr an Geld in dem Prozess G–W–G‘ erforderlich ist, kann nicht nur durch eine masslose Verlängerung des Arbeitstags erreicht werden. Wenn es im Grunde bloss um das Durchfüttern von Arbeitskraft geht, können durch immer mehr Maschinen und eine immer höhere Produktivität der Arbeit und zerstörerische Ausbeutung der Natur auch die Kosten des Durchfütterns gesenkt werden. Ich kann mehr für andere arbeiten, weil ich weniger für mich, für meine Lebenshaltungskosten, arbeiten muss. Und voilà, Ausbeutung ist kein Nullsummenspiel mehr. Zum Durchfüttern können sogar noch ein Kühlschrank, ein Smartphone und eine Urlaubsreise dazukommen und es bleibt immer noch ein Mehr an Arbeit übrig, das zum Profit meiner Firma wird. Eine typische Win-win-Situation.

Die Lohnform als Kern der Sozialpartnerschaft

Wenn dieses „wirkliche Verhältnis“ nun in die Form des Lohns, also der Bezahlung von Arbeit, statt von Arbeitskraft, gekleidet wird, ist klar, warum die Erscheinungsform eine Verkehrung darstellt. An die Stelle der Aneignung von fremder Mehrarbeit „tritt der falsche Schein eines Assoziationsverhältnisses, worin Arbeiter und Kapitalist das Produkt nach dem Verhältnis seiner verschiedenen Bildungsfaktoren teilen“ (S. 555).

Zur Zeit von Marx gab es weder Tarifverträge noch irgendeine sozialstaatliche Absicherung und daher auch noch nicht den Begriff der Sozialpartnerschaft, die für den DGB die grosse Errungenschaft des Stinnes-Legien-Abkommen vom November 1918 war, mit dem in dieser revolutionären Situation Schlimmeres für die Zukunft des Kapitalismus verhindert werden konnte. Aber es ist beeindruckend, wie vorausschauend Marx in seiner peniblen und rein logischen Dekonstruktion der simplen Kategorie des Lohns diese Selbstimmunisierung des Kapitalismus gegen eine radikale Kritik der Ausbeutung hat kommen sehen.

Eigentlich geht es im ganzen Buch nicht um „Ökonomie“, sondern um Religionskritik. Nicht die Religion irgendeiner Kirche, einen Glauben an Gott, sondern um unsere Alltagsreligion, was wir so alltäglich glauben, obwohl es wissenschaftlich betrachtet Unsinn ist. Natürlich bemüht sich der Autor zunächst um den Nachweis, dass es Unsinn ist, was wir da so alltäglich glauben. Aber die eigentliche Pointe seiner Argumentation ist eine andere. Nämlich warum wir mit einer gewissen Zwangsläufigkeit an all diese Mysterien und Gespenster glauben und ihnen gehorchen und aus dieser Geisterbahn der täglichen Vergeudung unseres Lebens im Arbeitstrott gar nicht so leicht ausbrechen können.

Es geht um die hartnäckigen „objektiven Gedankenformen“ (S. 90), die uns der Kapitalismus anbietet, damit wir uns die Verhältnisse mit gerechten Tariflöhnen und dem morgendlichen Fairtrade-Kaffee immer wieder schönreden können, statt auf die Barrikaden zu gehen. Vieles an dieser erstmals 1867 veröffentlichten Schrift ist veraltet und die Beispiele stammen aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Aber solange unser Alltag immer noch von solchen Konstrukten wie Ware, Geld, Kapital oder Lohn beherrscht wird, scheint sie uns noch einiges zu sagen zu haben.

 

 

 

 

 

 

Quelle: Karl Marx / Friedrich Engels: MEW Band 23. Das Kapital. Erster Band: Der Produktionsprozess des Kapitals. 24. Auflage. Karl Dietz Verlag, Berlin 2013. 955 Seiten. 
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