„Die rassistische Mord- und Anschlagsserie des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) markiert eine Zäsur in der Geschichte des bundesdeutschen Rechtsterrorismus und dessen Strafverfolgung.
Knapp 13 Jahre konnte das NSU-Kerntrio Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe in der Illegalität in Sachsen leben: mit Hilfe von mehr als drei Dutzend Unterstützerinnen und Unterstützern, die für die drei ab Januar 1998 von der Polizei gesuchten Neonazis aus Jena Geld, Ausweisdokumente, Wohnungen, Krankenkassenkarten, Waffen und Sprengstoff zur Verfügung stellten. Zehn Menschen ermordete das Netzwerk des NSU zwischen dem 9. September 2000 und dem 25. April 2006: Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut, İsmail Yaşar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubaşık, Halit Yozgat und Michèle Kiesewetter. Mehr als zwei Dutzend Menschen migrantischer Herkunft wurden bei den drei bislang bekannten Sprengstoffanschlägen des NSU-Netzwerks im 1999 in Nürnberg, im Januar 2001 in der Kölner Propsteigasse und im Juni 2004 in der Keupstraße in Köln zum Teil lebensgefährlich verletzt. Bei fünfzehn Raubüberfällen zwischen Dezember 1998 und November 2011, die dem NSU bislang zugerechnet werden, erbeutete das Netzwerk mehr als eine halbe Million Euro.
Zwölf parlamentarische Untersuchungsausschüsse haben sich seit der Selbstenttarnung des mutmaßlichen NSU-Kerntrios am 4. November 2011 mit dem NSU-Komplex befasst.
Im folgenden können Sie das Sondervotum der Fraktion DIE LINKE nach knapp 15 Monaten intensiver Arbeit im zweiten Bundestagsuntersuchungsausschuss nachlesen.
Schlussfolgerungen und Reformvorschläge der Fraktion DIE LINKE
Die Fraktion DIE LINKE unterstreicht, dass ihre Forderungen und Schlussfolgerungen in Bezug auf dringend notwendige Veränderungen im Bereich der Polizei, Justiz, des Verfassungsschutzes, der parlamentarischen Kontrolle von Geheimdiensten und der Förderungen zivilgesellschaftlicher Initiativen sowie der Integration von Geflüchteten und der Bekämpfung von Rassismus im Fraktionsvotum der 17. Wahlperiode nach wie vor Gültigkeit haben und angesichts der aktuellen Welle rassistischer Gewalt und Bedrohungen dringend umgesetzt werden sollten.19
Der NSU-Untersuchungsausschuss der 17. Wahlperiode hatte 47 gemeinsame Empfehlungen aller Fraktionen ausgesprochen, die als Schlussfolgerungen aus der Arbeit dieses Ausschusses gezogen wurden und die auf gemeinsam erkannte Fehler bei Polizei, Justiz und Verfassungsschutzbehörden sowie die Stärkung zivilgesellschaftlicher Initiativen Bezug nahmen.200 Der von allen Fraktionen der 17. und auch der 18. Wahlperiode zum Ausdruck gebrachten Dringlichkeit, diese Empfehlungen möglichst schnell auch umzusetzen, ist es zu verdanken, dass die Bundesregierung immer wieder mit diesem Thema konfrontiert wurde und dann teilweise auch aktiv geworden ist. Allerdings ist der dringend notwendige Paradigmenwechsel ausgeblieben.
Die Fraktion DIE LINKE hat den Prozess der Umsetzung der Empfehlungen mit zahlreichen mündlichen und schriftlichen Fragen, mit Kleinen Anfragen, einer Großen Anfrage zur Umsetzung aller 47 Empfehlungen, mit Anhörungen zu Gesetzesänderungen und durch Fachgesprächen mit Vertreterinnen und Vertretern der Zivilgesellschaft begleitet. Die parlamentarischen Aufklärung zum NSU, die beharrliche Thematisierung rechter und rassistischer Gewalt im Parlament und das große öffentliche Interesse haben nach Ansicht der Fraktion DIE LINKE allerdings bislang nur in Einzelfällen ein verändertes Handeln von Polizei und Justiz erzeugt.
So werden beispielsweise, veranlasst durch die regelmäßigen parlamentarischen Anfragen der Fraktion DIE LINKE, inzwischen durch das BKA die Zahlen der offenen Haftbefehle gegen Neonazis registriert, die sich ihrer Verhaftung entziehen: Mit Stichtag 30. März 2017 lagen 596 offene Haftbefehle im Bereich politische motivierter Kriminalität rechts vor, davon 104 Haftbefehle, denen eine Gewalttat zugrunde lag.201 Aufgrund der quartalsweise seit dem Jahr 2014 von der Fraktion DIE LINKE im Bundestag gestellten Kleinen Anfragen zu den Angriffen auf Geflüchtete und ihre Unterkünfte, werden seitens des BKA diese Zahlen inzwischen eigenständig erhoben und in einem seit 2014 erscheinendem quartalsweisen BKA-Clearingstellenbericht »Straftaten gegen Asylunterkünfte« aufgeführt. Seit 2016 werden auch die Straftaten gegen Asylsuchende außerhalb von Unterkünften erfasst, die von zivilgesellschaftlichen Organisationen immer wieder thematisiert werden und auch von der LINKEN schon mehrfach erfragt wurden.
Bereits zu Beginn der 18. Wahlperiode im Februar 2014 hat die Bundesregierung einen Bericht vorgelegt, in dem die Verwirklichung eines großen Teils der Empfehlungen behauptet wurde. Tatsächlich hat sich die Umsetzung zentraler Empfehlungen des Untersuchungsausschusses der 17. Wahlperiode über die gesamte Legislaturperiode hingezogen. Einzelne Empfehlungen wurden in einer Art und Weise umgesetzt, die das Problem entweder gar nicht beheben oder noch weiter verschärfen. In der Qualität der Umsetzung lässt sich anhand der Beantwortung der Großen Anfrage der Fraktion DIE LINKEN eine deutliche Differenz zwischen den Bereichen Polizei, Justiz und Verfassungsschutz feststellen.202 Während die Ausführungen zur Polizei detailliert und umfangreich sind, sind sie in den Bereichen Justiz und Verfassungsschutz sehr allgemein. Die Tatsache, dass je nachdem, ob man die Zahlen des BKA oder die der unabhängigen Opferberatungsstellen zugrunde legt, täglich zwischen vier und acht politisch rechts motivierte Gewalttaten in Ost- und WestDeutschland verübt werden, macht deutlich, dass das Ausmaß des Problems durch die bisherigen Maßnahmen der Bundesregierung nicht erfolgreich bekämpft wird.
Die Fraktion DIE LINKE hält angesichts der Erfolglosigkeit der bisherigen staatlichen Bekämpfungsmaßnahmen eine Neuausrichtung der gesellschaftlichen und staatlichen Auseinandersetzung mit gewalttätigen und organisierten Neonazistrukturen und Rechtsterrorismus für dringend notwendig.
Obwohl der NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestages und auch die Untersuchungsausschüsse der Landtage, beispielsweise des Landtags NordrheinWestfalen, die Arbeit von Strafverfolgungsbehörden, Justiz und Geheimdiensten umfangreich kritisieren, bleibt knapp sechs Jahre nach der Selbstenttarnung des NSU vor allem die bittere Feststellung, dass der Komplex schon vor Abschluss der parlamentarischen Untersuchungen durch Sofortmaßnahmen und Gesetzesänderungen diejenige Behörde gestärkt hat, die zu den Hauptverantwortlichen gehört: Das Bundesamt für Verfassungsschutz verfügt inzwischen über erheblich mehr Mittel, mehr Personalstellen und gesetzliche Befugnisse als vor der Selbstenttarnung des NSU.
Von Anfang an waren durch die Exekutive und die Koalitionsfraktionen CDU/CSU und SPD vor allem pauschal das Fehlen gesetzlicher und technisch-organisatorischer Voraussetzungen zum Informationsaustausch und zur Kooperation von Polizei und Geheimdiensten behauptet worden und weniger nach den Gründen für möglichen Missachtung, Umgehung, Fehlinterpretation vorhandener und geltender.
Die bislang umgesetzten »Reformen« bei BfV und BKA sowie die weiterführenden Überlegungen und Pläne des AK IV der Innenministerkonferenz und der BundLänder-Kommission folgen im Wesentlichen einem seit Jahrzehnten eingefahrenen sicherheitspolitischen Diskurs, der vor dem Hintergrund islamistisch motivierten Terrors zu immer weitgehenderen Überlegungen und gesetzlichen Maßnahmen führt, deren Wirksamkeit sowohl in Anbetracht der damit einhergehenden Freiheitsverluste als auch in Anbetracht der ohnehin schon zur Verfügung stehenden Möglichkeiten aus Straf- und Polizeirecht dringend in Frage gestellt werden muss. Exemplarisch dafür steht der Ausbau des Gemeinsamen Abwehrzentrum Extremismus/Terrorismus (GETZ), dessen Praxis nicht nur aufgrund von erheblichen Fehlern im Fall Anis Amri dringend einer unabhängigen Überprüfung bedarf. Dies gilt auch für das mutmaßliche rechtsterroristischen Netzwerk in der Bundeswehr um Franco A. und die länderübergreifenden Ermittlungen und Einschätzungen nach einer Reihe von schweren neonazistischen Gewalttaten, die beispielsweise am 11. Januar 2016 in Leipzig-Connewitz, am 1. Mai 2015 in Saalfeld sowie am 1. Mai 2017 in Halle/S. von länderübergreifend agierenden, extrem gut vernetzten und gewalttätigen Neonazi-Gruppen verübt wurden.
1) Nicht reformierbar: Die Geheimdienste
Die gemeinsamen Empfehlungen Nr. 32 bis 47 des Untersuchungsausschusses der 17. Wahlperiode bezogen sich zum größten Teil auf den Bereich des Verfassungsschutzes. Die Zusammenführung vorliegender Informationen von länderübergreifender Bedeutung wurde hier genauso gefordert wie die Übermittlung zentraler Informationen an die Strafverfolgungsbehörden. Eine Neuregelung und strengere Kriterien bei der V-Leute Auswahl, die Relativierung des Quellenschutzes und Neuregelungen für die V-Mann Führung finden sich in den Empfehlungen. Schließlich forderte der Ausschuss einen »umfassenden Mentalitätswechsel« und ein »neues Selbstverständnis der Offenheit«. Die Forderung der Fraktion DIE LINKE nach sofortiger Beendigung des V-Leute Systems und nach einer Abschaffung des Bundesamtes für Verfassungsschutz und seiner Ersetzung durch eine Koordinierungsstelle des Bundes zur Dokumentation neonazistischer, rassistischer und antisemitischer Einstellungen und Bestrebungen sowie sonstiger Erscheinungsformen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit fand keine Mehrheit.
Die Bundesregierung sieht in der Antwort auf die Große Anfrage der Linksfraktion alle Empfehlungen an den Verfassungsschutz als erfüllt an und verweist dazu auf die Veränderung des Verfassungsschutzgesetzes als zentrales Element. Faktisch ist das Bundesamt mit der Gesetzesänderung jedoch zum Profiteur der Entwicklung nach der Selbstenttarnung des NSU geworden – ohne Kurswechsel und ohne nennenswerte Veränderungen. Gesetzlich wurde die Zentralstellenfunktion des BfV gegenüber den Landesämtern festgeschrieben. Der Stellenaufwuchs des BfV seit dem Jahr 2011 ist mit mehreren Hundert Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zu beziffern. Finanziell hat das BfV seit 2011 einen Aufwuchs in Höhe von mehreren Hundert Millionen Euro erfahren. Zentrale Kritikpunkte im ersten NSU-Untersuchungsausschuss, die sich in den gemeinsamen Empfehlungen ausdrücken, waren das V-Leute-System des BfV, die fehlende Weitergabe von Informationen an die Ermittlungsbehörden und die faktische Unterstützung der Naziszene durch das V-Leute-System. Die gesetzliche Veränderung hat keines der angeführten Probleme grundsätzlich behoben. Nach wie vor werden in Strafverfahren – wie zuletzt im Prozess um einen Angriff auf eine Kirmesgesellschaft in Ballstädt (Thüringen) – Beweismittel wie G-10 Protokolle durch Verfassungsschutzämter zurückgehalten. Das BfV führt noch nicht einmal eine Statistik zu der Übermittlung von Informationen an Ermittlungsbehörden in Strafverfahren nach §20 BVerfschG. Die Zentralstellenfunktion nutzt das BfV auch, um die Aktenvorlage in den NSU-Untersuchungsausschüssen durch die Landesämter zu beeinflussen und zu kontrollieren.
Die getroffenen Einschränkungen bei der Werbung von V-Leuten (Verbot bei Totschlag oder mit lebenslänglicher Freiheitsstrafe bewährten Delikten) lassen auch weiterhin schwere Straftaten durch V-Leute zu, die dann durch eine Entscheidung der Amtsführung angeworben werden dürfen. Nebenklagevertreter*innen der Opferangehörigen des NSU haben deshalb deutlich kritisiert, dass nun auf dem Rücken der Angehörigen und Verletzten der NSU-Mord- und Anschlagsserie und mit dem Leid, was sie gerade auch durch staatliche Behörden über Jahre hinweg erfahren mussten, in gesetzlicher und finanzieller Hinsicht eine der größten Machterweiterungen des Bundesamtes für Verfassungsschutz begründet wurde.
Die in den Empfehlungen angemahnten Reformen in der Daten- und Aktenpflege im BfV sind nicht umgesetzt worden, wie die im Wochenrhythmus entdeckten Handys, SIM-Karten und DVDs des ehemaligen V-Mannes »Corelli« in den Panzerschränken des BfV gezeigt haben. Als Beleg für Transparenz und Offenheit des BfV werden die zahlreichen Medienauftritte des BfV-Präsidenten angeführt, die für die »Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter als Erkenntnisquelle für die aktuelle Positionierung des Hauses« dienen. Nachdem Präsident Maaßen in Interviews die Untersuchungsausschüsse des Bundestages als Hindernisse für die Arbeit des Amtes bezeichnet hatte – beispielsweise in einem Interview mit Zeit Online am 9. Juni 2016 – verwundert das Aussageverhalten von manchen BfV-Zeugen vor dem zweiten NSU-Untersuchungsausschuss überhaupt nicht.
In diesem Zusammenhang kann ein Zitat des BfV in der Antwort zur Großen Anfrage der Fraktion DIE LINKE fast schon als Satire gelesen werden: »Im Rahmen der Aus- und Fortbildung fördert die Akademie für Verfassungsschutz (AfV) als Bund-Länder-Einrichtung eine Kultur der Offenheit und des Austausches. Es entspricht ihrem Selbstverständnis, Austausch sowohl behördenübergreifend als auch intern zu fördern und Abschottung entgegenzuwirken.« Weiter heißt es, das Bundesinnenministerium vermittle dem BfV »Impulse, die innerhalb der neuen, an Transparenz orientierten Öffentlichkeitsarbeit Berücksichtigung finden.« Auch das kann nur als Parodie auf die Wirklichkeit verstanden werden.
Jetzt mehr denn je: Das bisherige Bundesamt für Verfassungsschutz abschaffen und eine Koordinierungsstelle des Bundes plus Bundesstiftung »gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit« aufbauen
Angesichts der Ergebnisse des zweiten NSU-Untersuchungsausschusses im Bundestag ist die Auflösung des nachrichtendienstlich arbeitenden Verfassungsschutzverbundes in der Bundesrepublik sowohl politisch als auch rechtlich geboten. Die von den Innenministerien des Bundes und der Länder bisher umgesetzten Maßnahmen und Gesetzesveränderungen tragen diesem grundlegenden Veränderungsbedarf nach Überzeugung der Fraktion DIE LINKE in keiner Weise Rechnung und verfestigen nach der schweren Legitimitätskrise der Geheimdienste stattdessen deren wesentliche Eckpfeiler. Aus diesem Grund schlägt die Fraktion DIE LINKE – wie auch schon nach dem Ende des ersten NSU-Untersuchungsausschusses im Bundestag – die Abschaffung des Bundesamtes für Verfassungsschutz in seiner jetzigen Form vor und fordert als radikale Alternative den Aufbau einer Koordinierungsstelle des Bundes zur Dokumentation neonazistischer, rassistischer und antisemitischer Einstellungen und Bestrebungen sowie sonstiger Erscheinungsformen »gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit«. Die durch Bundesgesetz zu errichtende »Koordinierungsstelle des Bundes zur Dokumentation neonazistischer, rassistischer und antisemitischer Einstellungen und Bestrebungen sowie sonstiger Erscheinungsformen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit« (kurz: »Koordinierungsstelle zur Dokumentation gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit«) ersetzt nach einer Aufbauphase das aufzulösende »Bundesamt für Verfassungsschutz« als Zentralstelle des Bundes für Zwecke des Verfassungsschutzes nach Art. 87 Abs. 1 Satz 2 GG. Die »Koordinierungsstelle« ist eine ministerialfreie Einrichtung des Bundes, d. h. sie untersteht lediglich der Rechts-, aber nicht der Fachaufsicht eines Bundesministeriums. Ihrer verfassungsmäßigen Aufgabenbegrenzung auf die »Sammlung von Unterlagen« (Art. 87 Abs. 1 Satz 2 GG) entsprechend sind ihre Befugnisse auf das koordinierende Entgegennehmen, die Weitergabe und die Vermittlung des Austauschs von Informationen und Erkenntnissen begrenzt, welche ihr von Stellen der Länder und des Bundes sowie zwischenstaatlichen und ausländischen Stellen übermittelt werden.
Die Bundesstiftung zur Beobachtung, Erforschung und Aufklärung über alle Erscheinungsformen »gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit«
Die »Koordinierungsstelle« betreibt selbst keine inhaltliche Auswertung und Aufbereitung entsprechend diesen Vorgaben entgegen genommener Informationen und Erkenntnisse. Diese obliegt einer neu zu errichtenden »Bundesstiftung zur Beobachtung, Erforschung und Aufklärung aller Erscheinungsformen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit« (kurz: »Bundesstiftung zur Beobachtung und Erforschung gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit«).
Die »Bundesstiftung« soll eine bundesunmittelbare, rechtsfähige Stiftung des öffentlichen Rechts sein, die rechtlich, organisatorisch und personell unabhängig ist von der Koordinierungsstelle. Sie entsteht durch ein formelles Errichtungsgesetz des Bundes. Ihr Zweck ist der Schutz der Menschenwürde sowie der Grundrechte des Grundgesetzes durch wissenschaftliche Untersuchung, Information, Dokumentation und Aufklärung über Ursachen und Erscheinungsformen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit. Sie arbeitet gemäß dem gesetzlichen Leitbild: »Der beste Schutz der Verfassung sind mündige Bürgerinnen und Bürger« auf der Grundlage des Prinzips »Verfassungsschutz durch Aufklärung«. Gesetzliche Aufgabe der Stiftung ist es, antipluralistische, insbesondere neonazistische, rassistische und antisemitische Einstellungen, Verhaltensweisen und Bestrebungen, sowie sonstige Erscheinungsformen individueller und organisierter gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit zu beobachten, zu dokumentieren und einschließlich ihrer individuellen und strukturellen Ursachen und Folgen zu erforschen. Sie berät und unterstützt private und öffentliche Einrichtungen und gesellschaftliche Initiativen dabei, einen pluralistischen Konsens sowie demokratische Teilhabe zu fördern und zu festigen.
Eckpfeiler zur Verbesserung der parlamentarischen Kontrolle der noch existierenden Geheimdienste
Die Fraktion DIE LINKE hält Geheimdienste, ganz besonders aber einen faktisch politisch motiviert handelnden und politischer Kontrolle dienenden Inlandsgeheimdienst, grundsätzlich für demokratiefremde und rechtsstaatswidrige Institutionen und plädiert seit Langem für ihre schrittweise Auflösung. Dies schließt Verbesserungen der parlamentarischen und öffentlichen Kontrolle der Nachrichtendienste allerdings nicht aus, solange eine parlamentarische Mehrheit die reale Existenz der Geheimdienste sichert. Umso notwendiger ist es aber, dass die Verbesserungen konkret und der Bedeutung der Aufgabe angemessen sind. Stärken sie erkennbar Transparenz und Kontrollmöglichkeiten der Parlamentarier*innen und der Öffentlichkeit? Schränken sie die Möglichkeiten der Regierungsmehrheiten ein, Informationsbedarf und Informationsrechte der Minderheit in den zuständigen Gremien und Ausschüssen zu übergehen? Antworten auf diese Fragen sollten über ein Mehr an Kontrolle entscheiden, nicht aber die institutionelle Stärkung und immanente Verbesserung der Arbeitsbedingungen des zur Geheimhaltung verpflichteten parlamentarischen Kontrollgremiums.
a) Grundsätzlich: Geheime Politikbereiche eingrenzen – öffentliche parlamentarische Kontrolle ausweiten
Eine Verbesserung parlamentarisch-demokratischer Kontrollinstrumente der Nachrichtendienste muss vor allem an zwei Punkten ansetzen: Benötigt wird eine weitestgehende Offenlegung bisher als Verschlusssachen ablaufender Prozesse, Aktivitäten und Entscheidungen. Ebenfalls notwendig ist die Übertragung der bislang exklusiven Kontrollrechte des Parlamentarischen Kontrollgremiums in Bezug auf die Geheim-/Nachrichtendienste auf die parlamentarischen Ausschüsse (Innenausschuss, Verteidigungsausschuss).
Auch der Kontrolle der Geheimdienste haftet ein strukturelles Problem an. Innerhalb der Geheimdienste des Bundes hat sich eine Eigendynamik bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben entwickelt, die eine allumfassende Kontrolle durch das Parlament de facto unmöglich macht. Befördert wird dieser Zustand dadurch, dass sich die Dienste auf weitreichende Geheimhaltungsbefugnisse teils auch unter Hinweis auf entsprechende Vereinbarungen mit Geheimdiensten anderer Staaten berufen dürfen. Dies führt zur grundsätzlichen Frage der Legitimität von Geheimdiensten in einer Demokratie. Als Übergangslösung auf dem Weg zur Abschaffung der Geheimdienste ist die gegenwärtige Ausgestaltung der parlamentarischen Kontrolle der geheimdienstlichen Tätigkeiten des Bundes dringend reformbedürftig. In diesem Zusammenhang muss das Gesetz über die parlamentarische Kontrolle geheimdienstlicher Tätigkeit des Bundes (Kontrollgremiumsgesetz – PKGrG) in verschiedener Hinsicht geändert werden. Erweitert werden müssen u.a. die Kontroll- und Informationsrechte der Mitglieder des Deutschen Bundestages sowie des Ausschusses für Verteidigung und des Innenausschusses, denen in der Regel Auskünfte von der Bundesregierung mit Verweis auf das Parlamentarische Kontrollgremium verweigert werden. Ein klar definierter rechtlicher Rahmen ist notwendig sowie die Möglichkeit, ausreichend Expertise aufzubauen und Transparenz herzustellen. Um das zu erreichen, müssen folgende Punkte umgesetzt werden:
• Auf Verlangen eines Mitgliedes ist Zutritt zu sämtlichen Dienststellen der Dienste sowie Herausgabe von Akten und auch ein direkter Zugang zu den Netzwerken der Informationstechnik zu gewähren. Es gibt keine Möglichkeit der Einsichtnahme der Kontrollgremiumsmitglieder in elektronische Daten und Netzwerke der Dienste (nach niederländischem Vorbild).
• Der von der Großen Koalition nach dem November 2011 installierte »Ständige Bevollmächtigte« für das PKGr führt im Ergebnis dazu, dass den Mitgliedern künftig noch weniger konkrete Informationen, sondern im Interesse der Bundesregierung und der Dienste dem PKGr mehr oder weniger gefilterte Berichte vorgelegt werden. Die Fraktion DIE LINKE hat das Konstrukt von Anfang an entschieden abgelehnt und immer befürchtet, dass der sogenannte »Ständige Bevollmächtigte« künftig als eine Art Filter zwischen Bundesregierung und Parlament fungiert. Er entscheidet, welche Informationen die gewählten Abgeordneten erhalten und welche nicht. Im Untersuchungsbericht zum Fall Amri hat sich das ganz deutlich gezeigt. Daher ergibt sich die Frage, wer in Zukunft die Geheimdienste wirklich kontrollieren soll? Die gewählten Abgeordneten oder ein von der Regierungskoalition eingesetzter Beamter als sogenannter »Ständiger Bevollmächtigter«? Als die Änderung des PKGr-Gesetzes gegen die Stimmen der Opposition beschlossen wurde, hieß es noch, der »Ständige Bevollmächtigte« würde mit seinen Mitarbeitern als Hilfsorgan dem Kontrollgremium zuarbeiten, das selbstverständlich weiterhin die Hoheit über die Kontrolle und sämtliche Bewertungen einzelner Vorgänge innehabe. Diese Aussagen wurden schon beim ersten Fall ad absurdum geführt. Es gibt keine vollständige Zuarbeit für die gewählten Abgeordneten, sondern einen eigenen Bericht des »Ständigen Bevollmächtigten«, der nicht nur eine Sachverhaltsdarstellung, sondern zu Hauf auch eigene und die tatsächlichen Abläufe teilweise völlig beschönigende Bewertungen hochbrisanter politischer Vorgänge enthält, die auch einem leitenden Beamten, der zuvor im Bundesinnenministerium tätig war, dem auch der Verfassungsschutz untersteht, schlichtweg nicht zustehen. Jetzt bewahrheitet sich leider all das, was die Fraktion DIE LINKE bei Beschlussfassung des neuen PKGr-Gesetzes befürchtet haben: Ein von der Koalition ausgewählter ehemaliger Ministerialbeamter bewertet in der Endkonsequenz die Arbeit seines früheren Chefs. Dass das auch nicht halbwegs objektiv erfolgen kann, liegt auf der Hand und hat sich nun auch bestätigt. Die Bewertung von Sachverhalten im Zusammenhang mit der Arbeit der Geheimdienste obliegt in erster Linie dem Parlament, also dem Plenum, dem Innen- und Rechtsausschuss, dem Kontrollgremium und – falls erforderlich – auch einem Untersuchungsausschuss, also in jedem Fall den gewählten Abgeordneten. Der »Ständige Bevollmächtigte« und seine Mitarbeiter*innen sind Dienstleister für das Kontrollgremium, nicht weniger, aber eben auch nicht mehr. Darauf ist der Aufgabenbereich des Ständigen Bevollmächtigten zu begrenzen.
• Die Kontrollrechte sind bisher völlig unzureichend. Auch die internationalen Tätigkeiten oder Kooperationen der Geheimdienste muss das Parlament kontrollieren können.
• Ende 2016 wurde zudem die Geschäftsordnung des Kontrollgremiums zu Ungunsten der Opposition geändert. Bisher gab es seit Bestehen des PKGr einen jährlichen Wechsel des Vorsitzes zwischen Opposition und Koalition, dieser wurde nunmehr abgeschafft und die die Regierung tragenden Fraktionen können mit ihrer Mehrheit immer den Vorsitzenden stellen. Hier muss die alte Regelung wieder in Kraft gesetzt werden.
• Es fehlt das Recht, offenkundige Rechtsbrüche öffentlich zu machen oder wenigstens von einem Gericht überprüfen zu lassen. Streitigkeiten zwischen dem PKGr und der Bundesregierung müssen künftig auf Antrag einer Fraktion durch das BVerfG geklärt werden können.
• Es fehlt nach wie vor eine Stärkung der Minderheitenrechte parallel zu sonstigen Regelungen im Bundestag. Dafür kommen u.a. in Betracht die Abgabe eines Sondervotums auf Verlangen von 1/3 der PKGrMitglieder, das Recht, die Fraktionsvorsitzenden über die Arbeit im PKGr zu informieren und die Entbindung von der Geheimhaltungspflicht, wenn ein tatsächlicher oder vermuteter Bruch des GG oder einer Landesverfassung dadurch abgewehrt werden kann.
• Es werden in den Sitzungen keine Tonbandmitschnitte der Fragerunden angefertigt, so dass Falschaussagen im Nachhinein nicht mehr nachgewiesen werden können. Deshalb müssen vollständige Tonbandmitschnitte angefertigt werden.
• Mindestens ein Viertel der Mitarbeiter*innen im Sekretariat des PKGr sollen durch Vertreter*innen der Opposition benannt werden, um eine Besetzung mit ehemaligen Mitarbeitern, die vorher für die Koalitionsfraktionen, die Geheimdienste bzw. die zuständigen Aufsichtsbehörden tätig waren, zu begrenzen.
• Neben dem ordentlichen Mitglied soll es künftig auch Stellvertreter*innen geben. Es gibt nach wie vor keine Stellvertreterregelung im PKGr, was die Kontrolle für kleine Fraktionen erschwert. Auch die Hinzuziehung von Mitarbeiter*innen der Fraktionen oder die im PKGr vertretenen Abgeordneten ist momentan nur sehr eingeschränkt möglich, selbst wenn sie die abgeforderte Sicherheitsüberprüfung erfolgreich durchlaufen haben. Ihnen sollte die Teilnahme an den PKGr-Sitzungen im Regelfall ermöglicht werden
• Vollständige Unterrichtung des PKGr über laufende und geplante Geheimdienst-Tätigkeiten. Es gibt nach wie vor keine klare Definition der Vorgänge von besonderer Bedeutung, über die das PKGr zwingend unterrichtet werden muss. Es ist nicht hinnehmbar, dass noch immer die Bundesregierung festlegt, worüber das Parlament zu unterrichten ist.
• Wichtige Ausschüsse wie der Innenausschuss, der Verteidigungsausschuss des Bundestages u.a. müssen in die Kontrolle eingebunden werden durch die Unterrichtung der Ausschüsse auf deren Verlangen, unabhängig davon, ob das PKGr bereits unterrichtet wurde.
• Zudem braucht es endlich einen tatsächlichen Whistleblower*innen-Schutz, wenn sich z.B. Mitarbeiter*innen der Dienste an das PKGr wenden. Eine Unterrichtung der unmittelbaren Vorgesetzten muss ebenso ausgeschlossen sein wie eine spätere Offenbarung des Namens gegenüber der Bundesregierung.
b) Datenschutz ausbauen und nicht weiter einschränken
Das »Bundesamt für die Sicherheit in der Informationstechnik« (BSI) muss aus dem Dunstkreis der deutschen Inlands- und Auslandgeheimdienste heraustreten. Hervorgegangen aus der geheimen Dienststelle »Zentralstelle für das Chiffrierwesen« des BND ist die Bundesbörde heute dem Geschäftsbereich des Bundesministeriums des Innern untergeordnet. Es ist geboten, die Behörde in eine tatsächlich unabhängige und neutrale Stelle für Fragen zur IT -Sicherheit in der Informationsgesellschaft zu überführen und sie dem Zugriff des Innenministeriums zu entziehen. Das Vertrauensproblem der für Cyberabwehr zuständigen Einrichtung kann nur gelöst werden, wenn die intensive Zusammenarbeit mit BfV, BND und MAD im nationalen Cyber-Abwehrzentrum oder international in der Kooperation mit der NSA durchbrochen wird. Als unabhängige Cybersicherheitsbehörde kann das BSI Servicedienstleister für digital souveräne Bürgerinnen und Bürger sein, dringend benötigtes Personal und Kompetenz anwerben und Schutzstandards für Unternehmen und öffentliche Infrastrukturen entwickeln und deren Einhaltung anmahnen.
Die Errichtung der »Zentralen Stelle für Informationstechnik im Sicherheitsbereich« (ZITiS) in München mit insgesamt 400 Mitarbeitern gefährdet die informationelle Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger. Dort sollen Überwachungstechniken entwickelt werden, mit denen unter anderem Verschlüsselungstechnologien gebrochen und Massendaten ausgewertet werden können. Offiziell auf die Sicherheitsbehörden im Geschäftsbereich des Bundesministeriums des Innern bezogen, somit parallele Überwachungsbemühungen von Bundespolizei, Bundeskriminalamt und BfV zusammenführend, bestehen zugleich personale Verbindungen zum BND. Mit ZITIS wird nicht nur das Digitale AgendaZiel der Bundesregierung konterkariert, Deutschland zum »Verschlüsselungs-Standort Nr. 1 auf der Welt« zu machen, sondern auch die Bemühungen von Bürgerinnen und Bürgern sowie Unternehmen werden unterlaufen, sich vor einer Ausspähung durch Dritte sowie vor Wirtschaftsspionage zu schützen. Verschlüsselung als aktiver Grundrechtsschutz darf nicht durch staatliche Behörden unterminiert und diese durch Ausspähung und Kompromittieren von IT-Systemen zudem zu Gefährdern von IT-Sicherheit werden.
Das am 21. Oktober 2016 mit den Stimmen der Fraktionen der CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen der Fraktionen DIE LINKE und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN verabschiedete Gesetz zur Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung des Bundesnachrichtendienstes gewährleistet die verfassungsrechtlich gebotene Datenschutzkontrolle nicht. Mit diesem wurde die Prüfkompetenz der »Bundesbeauftragten für den Datenschutz und die Informationsfreiheit« bei gemeinsamen Dateien mit ausländischen öffentlichen Stellen auf die Einrichtung der Datei durch den BND und die von diesem in die gemeinsame Datei eingegebenen Daten beschränkt. Ein Prüfrecht der BfDI für Daten der teilnehmenden ausländischen öffentlichen Stellen hingegen besteht nicht.
Stattdessen muss die BfDI alle Dateien vollumfänglich einsehen können, dies gilt insbesondere auch für internationale Kooperationen. Dies ist in den diesbezüglichen Vereinbarungen (MoU, MoA etc.) festzuhalten. Zudem ist die BfDI zur Durchsetzung eines effektiven Datenschutzes, zu dem auch die Einsichts- und Kontrollrecht gegenüber den Geheimdiensten des Bundes und der Länder zählen, personell und organisatorisch zu stärken
c) Effektiver Schutz für Whistleblower*innen
Bislang hat sich die Hoffnung auf Whistleblower*innen in den bundesdeutschen Geheimdiensten oder Polizeibehörden in Bezug auf geheimdienstliches Wissen über das Netzwerk des NSU und dessen Aktivitäten vor dem November 2011 nicht erfüllt. Whistleblowing kann in der vernetzten Gesellschaft das Informationsmonopol von Regierungen, staatlichen Institutionen und Unternehmen aufbrechen. Es kann Skandale aufdecken, Lügen und Unwahrheiten demaskieren und Transparenz fördern. Die Fraktion DIE LINKE spricht sich deshalb für einen besseren Schutz von Whisteblowern aus. Die Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes, vor einer Klage auf Schadensersatz oder sonstigen Repressalien wiegt oft so schwer, dass die Betroffenen ihr Wissen für sich behalten. Die Erfahrung hat zudem gezeigt, dass interne Kontrollsysteme nur unzureichend funktionieren. Es gibt einen handfesten Bedarf an mehr Zivilcourage unter Mitarbeitern von Geheimdiensten ebenso wie in Wirtschaft und Gesellschaft.
Die Fraktion DIE LINKE fordert ein Whistleblower-Gesetz, das einen Schutz vor strafrechtlicher Verfolgung ebenso beinhaltet wie einen medienrechtlichen Schutz. Journalist*innen muss erlaubt sein, solche Quellen geheim zu halten. Und nicht-staatliche Organisationen, die Whistleblower*innen unterstützen, indem sie ihnen Hilfe, Beratung und Infrastruktur zur Verfügung stellen, benötigen eine finanzielle Förderung. Zivilcourage ist ein hohes Gut. Eine partizipatorische, demokratische Gesellschaft braucht eine Kultur des Hinschauens und Sich-Einmischens. Für die Entwicklung und Unterstützung einer solchen Kultur steht die Fraktion DIE LINKE auf allen Politikfeldern gleichermaßen ein und hat zum Schutz von Whistleblower*innen bereits einen umfangreichen Antrag (BT-Drs. 18/5839) vorgelegt.
d) Zum Untersuchungsausschussgesetz
Es ist dringend geboten, die Gepflogenheit über die unterschiedlichen Fragezeiten nach dem Stärkeverhältnis der Fraktionen in Untersuchungsausschüssen abzuschaffen. So wird jede Untersuchung durch zerrissene Zeugenbefragungen belastet
Auch eine Verteilung von Vorsitzender und Stellvertreter*in sollten grundsätzlich zwischen Regierungsfraktion und Opposition aufgeteilt sein, um die Ausgewogenheit zu fördern.
Schließlich darf es künftig keine Verweigerung von Aktenvorlage und Zeugenaussagen mit Verweis auf Vereinbarungen von deutschen mit ausländischen Geheimdiensten mehr geben. Mit Verweis auf die Belange ausländischer Partnerdienste wurden beispielsweise die Informationen zur Erfüllung der Beweisbeschlüsse zu Kenntnissen der europäischen Partnerdienste über rechtsterroristische Aktivitäten in Deutschland in weiten Teilen geschwärzt, entnommen oder gar nicht erst übermittelt. Das Parlament darf aber seine Kontrollkompetenz nicht aufgeben. Auch andere Versuche, die Beweiserhebung durch gesetzlich nicht vorgesehene Sonderverfahren für die Obleute der Fraktionen oder Ausschussvorsitzende oder sogenannte Vertrauenspersonen zu erschweren, müssen durch die Parlamentarier*innen konsequent abgelehnt werden. Nur ein ordnungsgemäßes Verfahren von Beweisaufnahme, Kontrolle und Aufklärung wird den Aufgaben des Parlamentes gerecht.
2) Reformen bei Polizei und Justiz vorantreiben
Um strukturell rassistische Ermittlungen wie bei der Česká-Mordserie in Zukunft zu verhindern, hatte die gemeinsame Empfehlung Nr. 1 des ersten Untersuchungsausschusses der 17. Wahlperiode einen zentralen Stellenwert. Mit ihr sollte sichergestellt werden, dass Rassismus als Motiv bei Gewaltkriminalität immer im Blick der Ermittler sein muss und die Überprüfung dieses Motivs selbst auch überprüfbar ist.
Im Wortlaut heißt es in der Empfehlung Nr. 1: »In allen Fällen von Gewaltkriminalität, die wegen der Person des Opfers einen rassistisch oder anderweitig politisch motivierten Hintergrund haben könnten, muss dieser eingehend geprüft und diese Prüfung an geeigneter Stelle nachvollziehbar dokumentiert werden, wenn sich nicht aus Zeugenaussagen, Tatortspuren und ersten Ermittlungen ein hinreichend konkreter Tatverdacht in eine andere Richtung ergibt. Ein vom Opfer oder Zeugen angegebenes Motiv für die Tat muss von der Polizei beziehungsweise der Staatsanwaltschaft verpflichtend aufgenommen und angemessen berücksichtigt werden. Es sollte beispielsweise auch immer geprüft werden, ob es sinnvoll ist, den polizeilichen Staatsschutz zu beteiligen und Informationen bei Verfassungsschutzbehörden anzufragen. Dies sollte in die Richtlinien für das Straf- und das Bußgeldverfahren (RiStBV) sowie in die einschlägigen polizeilichen Dienstvorschriften aufgenommen werden.« 203
Mehr als zwei Jahre hat es gedauert, bis diese Empfehlung formal umgesetzt wurde. Unter Nr. 15 der RiStBV (Richtlinien für das Straf- und Bußgeldverfahren) ist seit 2015 geregelt, dass bei der Aufklärung einer Tat auf rassistische, fremdenfeindliche oder sonstige menschenverachtende Beweggründe zu achten sei. Darüber hinaus wurde in der bundesweit verbindlichen Polizeivorschrift PDV 100 folgender Passus eingefügt: »Grundsätzlich sind in allen Fällen von Gewaltkriminalität rassistische und anderweitig politisch motivierte Hintergründe zu prüfen. Die Ergebnisse sind zu dokumentieren.
Die Erfahrungen aus der Praxis zeigen jedoch, dass es eine erhebliche Diskrepanz zwischen der formalen Umsetzung der Empfehlung und ihrer Anwendung gibt.
Ein besonders eklatantes Beispiel ist der tragische Tod einer ägyptischen Austauschstudentin, die im April 2017 in Cottbus (Brandenburg) bei einem Verkehrsunfall ums Leben kam und die nach dem Unfall von den Beifahrern des verursachenden Fahrzeuges rassistisch beschimpft worden war. Der Sachverhalt war offensichtlich nicht von der Polizei ermittelt worden, sondern wurde erst durch eine Zeugin öffentlich bekannt. Hochrangige Polizeibeamte des Landes Brandenburg haben in diesem Zusammenhang Versäumnisse eingeräumt. Aber auch die nach wie vor erheblichen Diskrepanzen zwischen den Statistiken der Opferberatungsstellen und dem BKA zum Aufkommen von PMK Rechts Gewalttaten zeigen, dass die Regelung noch nicht erfolgreich umgesetzt wird.
Transparenz und unabhängige Überprüfung
Noch immer existiert gegenüber der Öffentlichkeit zum Definitionssystem der politisch motivierten Kriminalität keine Transparenz. Die geforderte Veröffentlichung des 2017 beschlossenen und reformierten Definitionssystems der politisch motivierten Kriminalität inkl. aller Anlagen wie dem so genannten Themenfeldkatalog wurde bislang von der Innenministerkonferenz und dem Bundesinnenministerium abgelehnt.
Auch die von Beratungsstellen, Menschenrechtsgruppen und der Fraktion DIE LINKE angemahnte unabhängige Überprüfung der Diskrepanz zwischen den 63 von der Bundesregierung seit 1990 anerkannten Todesopfern rechter Gewalt und den mindestens 164 Tötungsdelikten mit rechtsextremen Hintergrund, die durch Journalist*innen und Nichtregierungsorganisationen dokumentiert wurden, ist bislang nicht umgesetzt worden. Dabei hat das Bundesland Brandenburg gezeigt, dass eine unabhängige Überprüfung der PMKRechts Tötungsdelikte durch das »Moses Mendelssohn Zentrum« der Universität Potsdam eine größtmögliche Transparenz bieten und alle Akteur*innen mit einbeziehen konnte.
Diese Überprüfung ist nach Ansicht der Fraktion DIE LINKE auch deshalb notwendig, weil beispielsweise im Fall des im April 2012 in Berlin-Neukölln ermordeten Auszubildenden Burak Bektas der dringende Verdacht besteht, dass es sich hier um einen rassistisch bzw. rechtsterroristisch motivierten Mord handelt, dessen Aufklärung durch die Berliner Polizei- und Justizbehörden jedoch in Bezug auf ein PMK-Rechts Motiv nur unzureichend vorgenommen wurde. Dass eine Überprüfung von so genannten Altfällen auch zum erfolgreichen Abschluss von offenen Ermittlungsverfahren bei schwersten Gewalttaten führen kann, zeigen die Ermittlungen zum Sprengstoffanschlag in DüsseldorfWehrhahn im Jahr 2000. Hier wurden 17 Jahre nach der Tat – angestoßen durch die Selbstenttarnung des NSU – Spuren neu bewertet und Zeug*innen erneut vernommen. Im Verlauf des zweiten NSU-Untersuchungsausschusses wurde dann im Frühjahr 2017 ein tatverdächtiger Neonazi in Untersuchungshaft genommen.
Auch die Empfehlung 15 der ersten NSU-Untersuchungsausschusses wird in vielen Bundesländern nach wie vor nicht umgesetzt: »Opfer mutmaßlich rassistisch oder anderweitig politisch motivierter Gewalt müssen, wenn sie Anzeige erstatten, Strafantrag stellen oder als Zeuge vernommen werden, auf die spezialisierten Beratungsangebote auch in freier Trägerschaft und auf Entschädigungsansprüche für Betroffene solcher Straftaten hingewiesen werden und deren Kontaktdaten ausgehändigt werden. Auch diese Hinweise müssen dokumentiert werden.« Diese Empfehlung wird in vielen Bundesländern bislang ebenso wenig umgesetzt wie die Empfehlung »Opferzeugen müssen, wenn sie bei Ermittlungen befragt werden oder selbst Anzeige erstatten verpflichtend und wenn erforderlich in ihrer Muttersprache auf ihr Recht hingewiesen werden, dass neben einem Anwalt auch eine Person ihres Vertrauens an der Vernehmung teilnehmen kann. Dieser Hinweis muss dokumentiert werden.« Auch diese Empfehlung wird nicht in allen Bundesländern umgesetzt.
Eklatanten weiteren Reformbedarf sieht die Fraktion DIE LINKE im Bereich der Justiz. Dies gilt sowohl für die Aus- und Fortbildung für Richter, Staatsanwälte und Justizvollzugsbedienstete, um Rechtsextremismus und Rassismus zu erkennen und richtig einschätzen zu können. Hier plant das Deutsche Institut für Menschenrechte erst ab 2018 unterstützt vom Bundesjustizministerium eine Fortbildungsreihe.
Anhand der Ermittlungen gegen die so genannte »Gruppe Freital«, die in 2015 über ein halbes Jahr mit Sprengstoffanschlägen und gewaltsamen Angriffen Geflüchtete und deren Helfer*innen in der sächsischen Kleinstadt terrorisierten, wird aber auch deutlich, dass es in Teilen der Justiz – wie schon vor dem November 2011 – eine anhaltende Weigerung gibt, organisierte, bewaffnete Neonazistrukturen als solche zu erkennen und zu verfolgen. Erst auf Druck der Nebenklagevertreter*innen kam es zu einer Übernahme der Ermittlungen durch den Generalbundesanwalt, der nunmehr mehrere mutmaßliche Mitglieder der Gruppe wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung nach §129a StGB angeklagt hat. Hier zeigt sich, dass die Empfehlung des ersten Untersuchungsausschusses zur Ausweitung der Verfahrensübernahme durch den Generalbundesanwalt § 120 Abs. 2 GVG und ihre Umsetzung durch das Bundesministerium der Justiz in Einzelfällen erfolgreich Wirkung zeigt.204
Allerdings scheint dies auch durchaus willkürlich gehandhabt zu werden. Im Fall eines organisierten schweren Angriffs der Gruppe »Angry Aryans« am 1. Mai 2017 in Halle/S. auf Gegendemonstrant*innen hat der Generalbundesanwalt jedenfalls die Übernahme der Ermittlungen abgelehnt.
Auch im Fall der Umsetzung der Änderung von § 46 Absatz 2 Satz 2 StGB, wonach bei der Strafzumessung nunmehr rassistische Motive berücksichtigt werden sollen wäre eine unabhängige Evaluation notwendig. Denn die Berücksichtigung von rassistischen Tatmotiven beispielsweise in Fällen von Brandstiftungen auf Unterkünfte von Geflüchteten ist nach wie vor sehr unterschiedlich, wie die mündlichen Urteilsbegründungen u.a. im Fall eines Brandanschlags in Salzhemmendorf (Niedersachsen) und in Altena (NRW) deutlich machen.
Das »Deutsche Institut für Menschenrechte« hat die Expertise für eine solche Evaluation. Diese sollte vom Bundestag der 19. Wahlperiode in Auftrag gegeben und entsprechen finanziell ausgestattet werden.
3) Zivilgesellschaft stärken und kontinuierlich unterstützen
Die Zivilgesellschaft muss sich sowohl mit Demonstrationen, Propaganda und Raumergreifungsstrategien von Neonazis auseinandersetzen wie auch mit einem gesellschaftlichen Klima, das zusehends verroht. Rechtspopulistische Stimmungsmache gegen »die da oben« und »die Anderen« polarisiert die Debatten und hat Auswirkungen auf das Zusammenleben der Menschen vor Ort.
Die unabhängigen »Beratungsstellen für Opfer rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt« sowie die »Mobilen Beratungsteams« unterstützen in manchen Bundesländern seit einem Vierteljahrhundert all diejenigen, die direkt oder indirekt von rechter Gewalt betroffen sind, sich für eine demokratische Kultur einsetzen und sich mit Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus auseinandersetzen müssen oder wollen – mit Beratung in Krisenfällen, langfristiger strategischer Begleitung und bedarfsorientierter Qualifizierung. Die Beratungsprojekte sind damit zu verlässlichen Partner*innen der Aktiven und Zuständigen in den Städten und Dörfern geworden.
Mit Hilfe zur Selbsthilfe, unabhängigen Monitoring zum Ausmaß rechter Gewalt, Menschenrechten und Demokratischer Kultur als positiven Bezugspunkten arbeiten die Beratungseinrichtungen anlass-, bedarfs- und ressourcenorientiert.
Im Koalitionsvertrag aus dem Jahr 2013 hatte sich die Regierungskoalition die Empfehlungen des ersten NSU-Untersuchungsausschusses des Bundestages zu eigen gemacht. Darin heißt es, dass die »Opferberatungsstellen und Mobilen Beratungsteams gegen Rechtsextremismus [sich] als hoch wirksam erwiesen« haben und dass der Ausschuss »sich mit Nachdruck für eine Neuordnung der Förderung« ausspricht, die »für Verlässlichkeit sorgt und Planungssicherheit bietet«. In der nun endenden Legislaturperiode ist diese »Neuordnung« in Form eines Demokratiefördergesetzes allerdings nicht umgesetzt worden. Zwar wurden die Mittel im Bundesprogramm »Demokratie leben!« massiv aufgestockt. Nur ein Bruchteil der Mittel flossen jedoch tatsächlich in die etablierten unabhängigen Beratungsstrukturen von »Opferberatungsstellen« und »Mobilen Beratungsteams«. Nach wie vor hangeln sich die Mitarbeiter*innen der Beratungsprojekte von Befristung zu Befristung, die Förderung erfolgt trotz längerer Programmlaufzeiten noch immer jährlich. Daher ist eine Neuordnung der Förderung dringend geboten.
Eine neue Ausrichtung der Förderung kann sich nicht nur an Haushaltstiteln oder Verwaltungsvorschriften festmachen. Es braucht ein »Demokratiefördergesetz« des Bundes, das Rahmen und grundlegende Strukturen festlegt, das Engagement des Bundes verstetigt und Probleme in der föderalen Zusammenarbeit löst. Die konkrete Arbeit in den Regionen darf nicht länger von politischen Konjunkturen und dem jährlichen Rhythmus von Mittelbeantragung, -abruf und -verwendungsnachweis geprägt werden. Die konkreten Probleme müssen dabei benannt werden: es geht um Rechtsextremismus, Rassismus, Antisemitismus und andere Ungleichwertigkeitsvorstellungen. Schon jetzt beschäftigen sich die Bundesprogramme auch mit anderen Phänomenen. Die langjährige Beratungspraxis und die wissenschaftliche Auseinandersetzung zeigen jedoch, dass unterschiedliche Herausforderungen auch unterschiedliche Konzepte und Strukturen der Bearbeitung benötigen. Diese Differenzierung von Konzepten und Strukturen sowie die Benennung der konkreten Problemfelder ist bei der Erarbeitung eines Bundesgesetzes zu beachten.
Die Mobilen Beratungsteams, die Beratungsstellen für Betroffene rechter Gewalt und die Beratungsprojekte zu den Ausstiegs- und Distanzierungsberatungen stellen bundesweit die zentrale unabhängige Struktur für die Unterstützung zivilgesellschaftlicher, aber auch anderer Akteur*innen vor Ort. Als solche müssen die Beratungseinrichtungen konkret benannter Teil eines Bundesgesetzes werden. Damit einhergehen muss eine langfristige und strukturelle Förderung der jeweiligen Beratungsprojekte unabhängig von den jeweiligen parteipolitischen Konstellationen in den Ländern. Die teils prekär ausgestatteten Beratungsprojekte in den westdeutschen Bundesländern müssen endlich adäquat ausgestattet werden. Die Beratungsprojekte müssen zudem bundesweit in die Lage versetzt werden, die erarbeiteten Standards zu halten und auf neue Herausforderungen angemessen reagieren zu können.
Die Fraktion DIE LINKE würdigt ausdrücklich das Engagement tausender Ehrenamtlicher, die seit Jahren Geflüchtete vor Ort unterstützen und dadurch zunehmend – so wie antifaschistisch engagierte Jugendliche, junge Erwachsene und ältere Menschen – in den Fokus von Neonazis geraten. Die Engagierten brauchen die Unterstützung durch alle politisch Verantwortlichen und dürfen nicht als Nestbeschmutzer*innen diffamiert werden.
4) Geflüchtete integrieren statt rassistischer Hetzkampagnen
Zu den zentralen Schlussfolgerungen gehört, dass es nicht ausreicht, die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit Ideologien der Ungleichwertigkeit – wie Neonazismus, Rassismus und Antisemitismus, aber auch Antiziganismus und Homophobie – auf Neonazis und die extreme Rechte zu beschränken. Ebenso wichtig sind gesetzliche Regelungen, die dazu beitragen, dass alle in Deutschland lebenden Menschen – unabhängig von ihrer Herkunft, ihrer sexuellen Orientierung, ihrem sozialen Status, ihrer Hautfarbe, ihrer körperlichen oder geistigen Beeinträchtigung und ihrem Aufenthaltsstatus – gleiche Rechte und gleichen Schutz genießen.
Tatsächlich ist statistisch ein Anstieg rassistisch motivierter Gewalttaten gegen Schwarze Deutsche, Asylsuchende und Migrantinnen und Migranten immer dann nachweisbar, wenn in medialen und politischen Diskursen Flüchtlinge und Migranten rassistisch diffamiert und ausgegrenzt werden.
Um rassistischen Stammtischdiskursen und Schlägern gleichermaßen den Nährboden zu entziehen, sind mehrere Sofortmaßnahmen zwingend notwendig:
d) Opfer rassistischer Gewalt ohne Aufenthaltsstatus bzw. mit einer Duldung sollten durch eine neue Regelung in § 25 des Aufenthaltsgesetzes ein humanitäres Bleiberecht erhalten. Mit einer solchen Regelung im Aufenthaltsgesetz wäre ein klares Signal an die Täterinnen und Täter derartiger Angriffe sowie deren Umfeld verbunden: dass ihrer politischen Zielsetzung »Ausländer raus« explizit entgegen getreten und ihr Ziel der Vertreibung vereitelt wird, indem Vertreter*innen des Staates auch materiell für die Angegriffenen Partei ergreifen. In den vergangenen Jahren haben die Innenminister von Brandenburg, Thüringen und Berlin unterschiedliche Bleiberechts-Verordnungen angekündigt und teilweise auch umgesetzt. Es bedarf jedoch einer bundesweit gültigen klaren und verlässlichen gesetzlichen Regelung. Denn nach der bisherigen Praxis wäre auch Mehmet Turgut, wenn er die Schüsse des NSU überlebt hätte, so wie sein Bruder Yunus kurz nach der Tat aus Deutschland abgeschoben worden. Mehmet und Yunus Turgut waren wegen ihrer kurdischen Herkunft in den 1990er Jahren in der Türkei verfolgt und nach Deutschland geflohen, erhielten hier aber kein Asyl und lebten bis zu Mehmet Turguts Ermordung am 25. Februar 2004 in Rostock – wie viele tausende andere Menschen – ohne einen Aufenthaltstitel in Deutschland.
e) Die von den Betroffenen und zahlreichen Menschen- und Bürgerrechtsorganisationen wie »Pro Asyl«, der »Humanistische Union« und dem »Republikanischer Anwältinnen- und Anwälteverein« (RAV) schon lange geforderte sofortige Abschaffung der Residenzpflicht muss sofort umgesetzt werden – und damit einhergehend das Recht auf Bewegungsfreiheit und freie Wahl des Wohnorts für Asylsuchende und so genannte »Geduldete«, die nicht abgeschoben werden können und dürfen. Damit würde ein universelles Menschenrecht auf Bewegungsfreiheit für Asylbewerberinnen und -bewerber in Deutschland endlich wieder hergestellt, das den Betroffenen von der SPD/FDP-Koalition 1982 zu »Abschreckungszwecken« entzogen wurde und seitdem allein aus diesem Grund verwehrt wird. Zudem ist die Kontrolle und Durchsetzung der Residenzpflicht in der Praxis mit rassistischen Polizeikontrollen verbunden. Asylsuchende werden in Regionalzügen und auf Bahnhöfen besonders häufig kontrolliert und bei Verstößen gegen die Residenzpflicht auch abgeführt – und damit in aller Öffentlichkeit als vermeintliche »Straftäter« markiert. Verstöße gegen die Residenzpflicht werden in der polizeilichen Kriminalstatistik erfasst und lassen damit die »Kriminalität« von Nicht-Deutschen als erhöht erscheinen205. Dies befestigt das Vorurteil vermeintlich besonders »krimineller Ausländer«.
f) Ein Ende der zwangsweisen Unterbringung von Asylsuchenden und Geduldeten in so genannten »Gemeinschaftsunterkünften«, die vor allem einen Effekt haben: Aus einer kleinen Gruppe und Minderheit eine vermeintlich große Masse zu machen, die dadurch vor allem in kleineren Orten und Gemeinden als »Bedrohung« wahrgenommen und als »die Anderen« kenntlich gemacht und stigmatisiert wird.
g) Eine ähnlich negative Wirkung wie die Residenzpflicht hat das so genannte Sachleistungsprinzip des Asylbewerberleistungsgesetzes: Wenn Asylsuchende nur in bestimmten Geschäften und / oder nur mit Wertgutscheinen einkaufen dürfen, werden sie als Menschen mit minderen Rechten stigmatisiert. Längere Warteschlangen beim Einkauf infolge der komplizierten Abrechnung von Wertgutscheinen provozieren Ärger und Wut gegen die vermeintlichen »Störenfriede«.
h) Ein Ende des neunmonatigen Arbeits- und Ausbildungsverbots für Asylbewerberinnen und Asylbewerber und die Abschaffung der so genannten Vorrangprüfung beim Arbeitsmarktzugang ist ebenfalls geboten.
Eine Umsetzung dieser Sofortmaßnahmen ist notwendig, um Asylsuchenden und so genannten Geduldeten eine gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen und populistisch-rassistischen Kampagnen den Nährboden zu entziehen.
5) Rechte von Migrant*innen stärken – Ausgrenzung beenden
Auch die politischen Teilhaberechte von in Deutschland lebenden Migrantinnen und Migranten müssen gestärkt werden.
Studien zufolge stimmen zwei Drittel der deutschen Bevölkerung der Aussage »Die Ausländer kommen nur hierher, um unseren Sozialstaat auszunutzen« ganz oder teilweise zu. Diese erschreckend hohen Werte sind auch Folge offizieller Regierungspolitik, die sich in der Migrationspolitik immer wieder auf das Motto einer »Verhinderung der Zuwanderung in die deutschen Sozialsysteme« bezieht und Gesetzesverschärfungen damit begründet. Die grundlegenden Rechte von Menschen dürfen aber nicht unter Kostenaspekten beurteilt werden. Solche Politikansätze befördern Konzepte und Vorstellungen der Ungleichheit, an die extreme Rechte nahtlos anknüpfen können. Ähnliches gilt für vorurteilsschürende Kampagnen gegen eine vermeintlich verbreitete »Integrationsverweigerung«, für die es keinerlei empirische Belege gibt.206
Als Sofortmaßnahmen zur Stärkung der Rechte von Migrantinnen und Migranten sind erforderlich
i) Erleichterte Einbürgerungen bei genereller Akzeptanz der doppelten Staatsangehörigkeit (Abschaffung der Optionspflicht, die zum Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit von hier als Deutsche geborenen und aufgewachsenen Jugendlichen führen kann), Absenkung der Anforderungen an nachzuweisende Aufenthaltszeiten, Einkommens- und Sprachnachweise und Gebühren, Verzicht auf Gesinnungs- und Einbürgerungstests, die Einbürgerungswillige unter einen Generalverdacht stellen, deutsche Staatsangehörigkeit per Geburt für alle hier geborenen Kinder dauerhaft hier lebender ausländischer Eltern.
j) Wahlrecht für Nicht-Deutsche auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene, was eine Grundgesetzänderung mit Zwei-Drittel-Mehrheit in Bundestag und Bundesrat erfordert, aber verfassungsrechtlich keinesfalls unmöglich ist.“
Am 20. September hat die Linksfraktion im Bundestag das Sondervotum der Fraktion DIE LINKE im NSU-Untersuchungsausschuss als Broschüre veröffentlicht. Das Sondervotum zeigt, wie notwendig eine hartnäckige parlamentarische Aufklärung im NSU-Komplex ist und kann als PDF heruntergeladen werden. Bild: amnesty international