Die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di will ihre Struktur drastisch ändern (II)

Seit einiger Zeit ist in den Bezirksgeschäftsstellen von ver.di bei den haupt- und ehrenamtlichen Beschäftigten nicht mehr viel von der „geruhsamen Hektik“ der Vergangenheit zu spüren. Der Bundesvorstand hat vor dem Hintergrund von Einsparungen eine Riesenbaustelle eröffnet, auf der daran gewerkelt werden soll, z.B. die Zahl der Fachbereiche von derzeit 13 auf nur noch vier zu reduzieren.

Angedacht ist, ein Fachbereich A, der aus den bisherigen Fachbereichen Finanzdienstleistungen, Ver- und Entsorgung, Bildung, Medien und Telekommunikation bestehen soll. Ein Fachbereich B soll die bisherigen Bereiche Sozialversicherung, Bund und Länder, Gemeinden, Verkehr und Besondere Dienstleistungen umfassen. Der Fachbereich C würde die bisherigen Bereichen Postdienste, Speditionen, Logistik und Handel bündeln. Nur der Fachbereich 3 (Gesundheit, soziale Dienste, Wohlfahrt und Kirchen) würde künftig als Fachbereich D in der jetzigen Form weiter existieren, auch deshalb, weil er von der Mitgliederanzahl gleich stark ist, wie die drei neu geplanten Fachbereiche jeweils.

Der Bundesvorstand verspricht sich neben den Einsparungen, dass eine „sinnvolle Flächenpräsenz erreicht wird, die in Betreuungsregionen für die jeweiligen Fachbereichssekretär/-innen, mit angemessenen Wegezeiten zu bewältigen sind. Diese Gliederung schafft die Möglichkeit von regionalen Teamstrukturen und bringt eine bessere Vernetzung, eine bessere Aufteilung der Zuständigkeiten sowie Wachstums- und Erschließungsimpulse mit sich.“

Die hauptamtlichen Beschäftigten sollen sich künftig stärker spezialisieren und sich auf Innendienst – also Mitgliederbetreuung in den Büros – oder Außendienst – also Betreuung von Betrieben – konzentrieren.

Vielen älteren ver.dianern kommt dies bekannt vor, haben sie doch ähnliches zuletzt bei der Entstehung von ver.di im Jahr 2001 gehört. Der Entstehungsprozess nahm unglaublich viel Nerven, Kraft und Ressourcen bei den Beteiligten in Anspruch.

10 Jahre nach der ver.di-Gründung zogen die ver.di Betriebsräte Ortwin Bickhove-Swiderski  und  Hannelore Wittenberg im Jahr 2011 eine kritische Bilanz, die für die weitere Entwicklung der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di heute von besonderer Bedeutung ist.

Von Ortwin Bickhove-Swiderski  und  Hannelore Wittenberg

Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen,

am 19. März 2001 wurde die Gründung der Gewerkschaft ver.di gefeiert. Die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft ist damals als weltweit größte Einzelgewerkschaft angetreten. Es sollten die Kräfte der Gründungsgewerkschaften gebündelt werden, man wollte „weiße“ Flecken bearbeiten. Die neue Organisation erhielt eine Matrixstruktur und damit eine der kompliziertesten Organisationsformen, die es gibt. Auch das sei erwähnt: Bei ihrer Gründung hatte ver.di immerhin 2.923.556 Mitglieder (zum Vergleich: am 31.12.2010 sind es noch knapp 2,1 Millionen).

Die anspruchsvolle Matrix scheint zumindest einen komplexen Überbau zu erfordern: Der Bundesvorstand von ver.di besteht aus einem Vorsitzenden, vier stellvertretenden Vorsitzenden und weiteren neun Vorstandsmitgliedern. Also immerhin 14 Vorstandsmitglieder. Zum Vergleich: die IG Metall hat zurzeit sieben geschäftsführende Vorstandsmitglieder, wobei auf dem Gewerkschaftstag im Herbst 2011 zur Entscheidung ansteht, die Anzahl auf fünf zu reduzieren.

In den letzten 10 Jahren wurde zwar auch der Bundesvorstand um gut ein Viertel verkleinert, dagegen wurde die Anzahl der Mitglieder in Landesbezirksleitungen um 40% reduziert und in den Bezirksgeschäftsführungen um 60%. In der Matrixorganisation ist der Überbau gedoppelt: so kommen in den Landesbezirken je 13 Fachbereichsleitungen hinzu und auf Bundesebene die Bundesfachgruppenleitungen. Hier steht eine Reduktion nicht zur Debatte. Fast jede/r Gewerkschaftssekretär/in untersteht mindestens zwei Führungskräften. Je weiter vom Mitglied entfernt, desto mehr Führungsfunktionen werden offenkundig benötigt.

ver.di NRW ist mit 31 Bezirken gestartet. Zu diesem Zeitpunkt hatte der Landesbezirk ca. 980 Beschäftigte. 10 Jahre später gibt es nicht nur ein Drittel Bezirke weniger, sondern auch die Beschäftigtenzahl wurde um gut 30% reduziert. Außerdem hat ver.di dabei bundesweit ein Drittel ihrer Mitglieder verloren. Mit welchem Kraftakt es vor diesem Hintergrund für jeden einzelnen Beschäftigten verbunden war – ob bundesweit oder in NRW – gleichzeitig 1,1 Millionen neue Mitglieder hinzu zu gewinnen, weiß jede/r selbst am besten.

10 Jahre ver.di — (K)ein Grund zum Feiern?!

Jeder kleine Handwerksbetrieb feiert sein Jubiläum. Da gibt es in der örtlichen Tageszeitung eine Anzeige, die Beschäftigten erhalten einen Scheck oder einen freien Tag, der Chef lädt zum Essen ein, oder es gibt einen Präsentkorb. Bei ver.di hat der GBR mehrfach im „Durchblick“ durchblicken lassen, dass die Beschäftigten gespannt auf die Überraschung zum Jubelfest am 19. März 2011 warten. Wenn man im Vorfeld so gar nichts mitbekommt, könnte was Großes in Vorbereitung sein. Aber es kam nichts. Sollte dieser Tag von den Verantwortlichen totgeschwiegen werden?

Schließlich wurden alle ver.di-Beschäftigten – mit einer halben Woche Verspätung – am 23. März in einer bundesweiten Mail über einen Link im Intranet informiert, wo sie sich zu einem „Schreiben von Frank Bsirske an alle Beschäftigten von ver.di anlässlich des 10-jährigen Bestehens von ver.di“ durchklicken könnten.

Wer die Zeit und Muße hatte, sich dieses Schreiben zu besorgen, wird sich beim Lesen — wie viele andere auch — nochmals vergewissert haben, ob er oder sie tatsächlich auf dem richtigen Link für das Dankesschreiben an die Beschäftigten gelandet war. Nicht nur bei erster Lektüre ähnelt dieses Schreiben eher einer Jubelrede, die an die Öffentlichkeit gerichtet ist, als dass man sich als ver.di-Beschäftigte/r angesprochen fühlt.

Bilanz aus Beschäftigtensicht

Es müsste jetzt eine Bilanz gezogen werden, die aus Beschäftigtensicht Folgendes mit einbezieht: In NRW sind immerhin ca. 350 Stellen abgebaut worden, und da hat kein Beschäftigter in einem Zimmer gesessen und Bleistifte abgedreht. Bezirke mussten fusionieren. Versetzungen wurden durchgeführt. Da gab es große Gewinner – aber noch mehr Verlierer. Rund 1.500 Beschäftigte, nahezu ein Drittel der ver.di Beschäftigten, haben bundesweit seit 2004 die Organisation verlassen. Rund zwei Drittel der Beschäftigten sind älter als 55 Jahre. Dennoch wurde die Vereinbarung zur Altersteilzeit aufgekündigt.

ver.di hat viele Häuptlinge, aber die Indianer werden immer weniger. Statt sich auf wichtige Aufgabenfelder zu fokussieren, kommen immer neue Aufgaben dazu.

Der Betriebsrat konnte feststellen, dass unter den Beschäftigten „ein weit verbreitetes Gefühl von Überlastung und Überforderungen“ dominiert. Die Ergebnisse aus der AIDA Il-Befragung sprechen für sich: „stressbedingte Erkrankungen von Muskel und Skelett“, „die von uns geleisteten Arbeit wird von den Vorgesetzten zu wenig wertgeschätzt“, das „Wir-Gefühl“ wird immer weniger.

Offene Fragen

Beim Neuen Entgeltsystem (NES) sollte das sog. „Sonnensystem“ – also die Nähe zum Vorstand – abgeschafft werden. Das haben die Betriebsräte begrüßt. Bleibt die Frage, warum die EG 10 nur in der Bundesvorstandsverwaltung vergeben wird.

Warum wird die Personalverantwortung für ca. 4.000 Beschäftigte nur mit einem halben Stellenanteil bedacht? Welche Wertschätzung erfährt das hauptamtliche Personal dieser zweitgrößten Gewerkschaft der Welt, wenn die Personalarbeit mit so knappen Ressourcen abgespeist wird, dass das Personal nur verwaltet, aber nicht geplant oder entwickelt werden kann?

Während landauf, landab in 10 Jahren der Rotstift Regie geführt hat, hat sich die Bundesverwaltung zum personalstärksten Betrieb entwickelt. Das mag den hohen Kommunikationsanforderungen und den komplizierten Verständigungsprozessen in der Matrixorganisation geschuldet sein. Warum aber wird darauf in den Landesbezirken und erst recht in den Bezirken in personeller Hinsicht keine Rücksicht genommen?

Zum Vergleich: Bei der IG Metall werden 125 von 550 Stellen von der Vorstandsverwaltung in die 163 Verwaltungsstellen verlagert. Damit soll die Dezentralität gestärkt werden: „ .. starke Führung ist der Vorstand und ist nicht die Vorstandsverwaltung“, sagt dazu IG Metall-Vize Detlef Wetzel (2/2011).

Es liegt dem Betriebsrat fern, die Ebenen gegeneinander auszuspielen, aber die Fragen bleiben. Wo ist die Aufgabenkritik für die örtliche Ebene, wenn die notwendigen personellen Ressourcen angesichts der Aufgabenfülle vorenthalten werden?

Wir, der Betriebsrat ver.di NRW, wollen mit diesem offenen Brief eine Debatte zur wirklichen Veränderung unserer Organisationskultur „lostreten“, statt mit Schönwetter-Reden abgespeist zu werden.

Wir benötigen:

  • ein schlüssiges Personalkonzept für NRW und bundesweit,
  • eine vorausschauende Nachwuchsgewinnung und ein finanziell abgesichertes Nachfolgemanagement,
  • eine permanente Qualifizierung für Führungskräfte,
  • Angebote zur Personalentwicklung für jede/n Beschäftigten,
  • weitere Aufstiegsmöglichkeiten,
  • einen wertschätzenden Umgang,
  • einen systematischen Arbeits- und Gesundheitsschutz, vor allem auch zum Abbau der psychischen Arbeitsbelastungen,
  • Maßnahmen zum Erhalt der Arbeitsfähigkeit einer älter werdenden Belegschaft.

Wir fordern die Landesleitung NRW auf, jetzt tätig zu werden: ihr habt die Verantwortung für die Zukunft. Aber ebenso muss auch der Bundesvorstand jetzt tätig werden.  Wir fordern alle Beschäftigten zu einer entsprechenden Debatte auf – jede große Reise beginnt mit einem kleinen Schritt – wir, der Betriebsrat von ver.di NRW, sind dazu bereit.

 

Mit kollegialen Grüßen

Ortwin Bickhove-Swiderski               Hannelore Wittenberg

Betriebsratsvorsitzender                  stellv. Betriebsratsvorsitzende

 

Bild: ver.di