Wir sind es, die expandierenden Arbeitslosen, Unterbeschäftigten und prekär Beschäftigten von Basta! Der Erwerbsloseninitiative aus Berlin. Dieses Mal treibt uns die Sorge um, dass schon lange nicht alle Leute jeden Tag zu essen haben. Grund genug, sich die „Reformvorhaben“ der Bundesregierung im Bereich Grundsicherung genauer anzuschauen.
Zwei Veränderungen wurden hier großspurig angekündigt: Ein Bürgergeld soll Hartz IV ersetzen und eine Kindergrundsicherung eingeführt werden. Das Bürgergeld wird kommen, wie auch immer. In der Kabinettsvorlage für den Haushalt 2023 sind für das ALG II und die Kosten der Unterkunft/Heizung insgesamt 31,3 Mrd. Euro angesetzt.[1] Doch die Kindergrundsicherung zur Bekämpfung von Kinderarmut kostet die Regierung offensichtlich zu viel. So deutet Familienministerin Lisa Paus bereits an: „Mein Zeitplan ist ehrgeizig, sieht eine Auszahlung aber frühestens 2025 vor.“ (taz, 16. Juni 2022).
Es sind die Parteien der Agenda 2010 ‒ SPD und Grüne ‒, die nun aus Hartz IV, dem Unerträglichen, das Bürgergeld, die Schweinerei, machen werden. Beide Parteien haben ein Interesse, Hartz IV „offiziell“ zu beenden. Denn es wird von sehr vielen Leuten gleichgesetzt mit sozialem Abstieg, Demütigung, Armut und Zwang. Die Agenda 2010 war ein Paradigmenwechsel für die SPD, ein Weg hin zum schlanken Staat und zum Ausbau des europaweit größten Niedriglohnsektors. Diesen Niedriglohnsektor weiter auszubauen ist wohl gemeinsames Bestreben von SPD, FDP und Grünen.
Denn sowohl für die Berliner Regierung als auch in der Zielvereinbarung von Bundesministerium für Arbeit und Soziales und Bundesagentur für Arbeit 2022 steht fest, dass gesellschaftliche Teilhabe nur durch Lohnarbeit erreicht werden kann. Teil der Gesellschaft zu sein und Teilnehmen an Gesellschaft setze Eigenverantwortung (in der ‚alten‘ Sozialhilfe: „Hilfe zur Selbsthilfe“) voraus, die aber wiederum nur eine Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt kennt. Dazu werden weiterhin Maßnahmen wie 1-Euro-Jobs[2], Coaching und das Ehrenamt angeboten. Ein individuelles Recht, Arbeitsangebote und Maßnahmen abzulehnen, besteht auch künftig nicht. Erreicht werden soll, wie es etwa der „Qualifizierungsplan 2022 der Berliner Agentur für Arbeit“ exemplarisch formuliert, dass „der Arbeitskräftebedarf der Unternehmen bedient“ wird ‒ unter anderem des Flughafens Berlin-Brandenburg, der Produktionsstätte von Tesla in Grünheide und „im unteren Qualifikationsbereich der Betreuungsassistenz und der Pflegehilfe“[3].
Im Koalitionsvertrag „Mehr Fortschritt wagen“ klingen folgende Aussagen zunächst nach Verbesserung: „Wir gewähren in den ersten beiden Jahren des Bürgergeldbezuges die Leistung ohne Anrechnung des Vermögens und anerkennen die Angemessenheit der Wohnung.“ (Koalitionsvertrag, S. 75) Das Vermögen muss erst ab 60.000 Euro aufgebraucht werden, die reale Miete soll übernommen werden und für die Arbeitsvermittlung soll eine sechsmonatige Vertrauensphase gelten. Man will sich an die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts zu Sanktionen halten (das Gericht hatte Ende 2019 geurteilt, dass Sanktionen höchstens zu einer Kürzung des ‚Existenzminimums‘ um 30 Prozent und nicht mehr zu einer 60-prozentigen oder vollständigen Kürzung führen dürfen), unter 25-Jährige verlieren durch Sanktionen nicht mehr ihre Wohnung und den Krankenversicherungsschutz.
Für die FDP geht es dabei vor allem um Entbürokratisierung, die sie durch eine Pauschalierung von Wohnkosten und eine Anhebung und Vereinfachung der Einkommensanrechnung erreichen will. Auf diese Weise könnte die Antragsbearbeitung beschleunigt werden.
Die Grünen legen besonderen Wert auf die Anerkennung von Sorgearbeit, also den Ausbau und die Verbreiterung des Ehrenamts – ohne finanziellen Ausgleich. Sie würden eventuell auf Sanktionen verzichten und stattdessen mehr auf materielle Anreize bei Weiterbildungen setzen.
Unterbrochene Erwerbs- und Sozialversicherungsbiografien sind für viele der Regelfall. Prekäre und irreguläre Arbeitsformen sowie unterbeschäftigtes Elend bei gleichzeitiger Überausbeutung bleiben uns auch mit dem Bürgergeld erhalten. Die bekannte Zielsetzung von Hartz IV, Vermittlung in Arbeit um fast jeden Preis, und die Form, eine Verkopplung von Lohn und Sozialleistung, wird mit dem Bürgergeld weiter verfolgt – auch wenn das Ziel im Koalitionsvertrag die Vermittlung in sozialversicherungspflichtige Beschäftigung ist. Und ob das anrechenbare Einkommen tatsächlich gesenkt wird und damit mehr Leute aus den nächst höheren Lohngruppen des Niedriglohnsektors Bürgergeld-berechtigt wären, ist noch nicht spruchreif und bleibt kompliziert.
Aber gerade Hartz IV-Berechtigte ohne Job, also ohne ein aufzustockendes Gehalt, können mit dem Regelsatz schon lange nicht mehr die realen Lebenshaltungskosten decken.[4] Die Mieten steigen seit Jahren, so dass schon heute viele einen Mietanteil aus dem Regelsatz bestreiten müssen. Die Nahrungsmittelpreise stiegen im Vergleich zum Vorjahresmonat in Berlin im Juni 2022 um 14,7 Prozent.[5] Die Ausgaben für Essen und Trinken stellen mit 155,80 Euro (5,19 Euro pro Tag) den größten Posten des aktuellen Regelsatzes von 449 Euro dar, nämlich etwa 35 Prozent. Ob eine Regelsatzerhöhung oder gar Neukonzeption der Berechnungsgrundlagen kommen wird, ist derzeit Streitgegenstand in der Koalition – die FDP lehnt entsprechende Vorschläge des Arbeitsministers Hubertus Heil vehement ab.
Arbeitsuchende sollen nach der Wahrscheinlichkeit ihrer Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt in unterschiedliche Behandlungsgruppen eingeteilt werden. Dabei sind arbeitsmarktpolitische Instrumente nach §§16 bis 16h SGB II besonders miese Instrumente[6]und werden von vielen Betroffenen als „Daumenschrauben“ wahrgenommen. Das Budget für verpflichtende Maßnahmen, die für die Teilnehmer:innen oft nur Abstumpfungseffekte haben, ist allerdings von 9,6 Milliarden Euro im Jahr 2005 auf 4,9 Milliarden Euro im Jahr 2020 gesunken. Das erscheint auf den ersten Blick nicht schlüssig, dennoch versetzt allein die Möglichkeit einer Zuweisung viele Hartz-IV-Berechtigte in Angst und Schrecken. Für die von staatlichen Zwangsmaßnahmen Betroffenen bedeutet diese Art von Maßnahmen eine Aufhebung von Lohnarbeit, denn der Lohn besteht in der Sozialleistung, aber ohne arbeits- und sozialrechtlichen Schutz.
Wofür man das Geld stattdessen nutzen könnte und was es bräuchte, dazu die Sicht der LAG der Jobcenter in NRW von 2019 auf Langzeitarbeitslose: „Die gesundheitlichen Problemlagen und persönlichen Voraussetzungen der Kundinnen und Kunden sind sehr unterschiedlich. Die individuellen Handlungsfelder liegen in den Bereichen der Arbeits-, Lebens- und Gesundheitssituation und müssen Berücksichtigung finden, um eine Verbesserung der Situation in den genannten Bereichen zu erzielen. Hierzu bedarf es primär passender, gesundheitsfördernder Ansätze, die keinen direkten Bezug zum Arbeitsmarkt haben, sondern die die frühzeitige Stabilisierung des Gesundheitszustandes zum Ziel haben, um Krankheiten nicht chronisch werden zu lassen bzw. einer Verschlimmerung vorzubeugen.
Besonders Menschen mit psychischen und physischen Einschränkungen benötigen ganz- heitliche und bedarfsgerechte Angebote zum Thema
- – Lebensbewältigung,
- – Gesundheitscoaching,
- – Familienbegleitende Hilfen,
- – therapeutische Unterstützung oder
- – psychologische Kurzintervention bei Krisen, Konflikten, Umgang mit Krankheiten etc.,
damit die Chancen auf eine Wiedereingliederung in das Arbeitsleben erhöht werden.“ (JC LAG NRW, S. 4f.)
Die Gruppen derer, die besonders drangsaliert werden, wie Langzeitarbeitslose, Alleinerziehende und Migrant:innen, bleiben weiterhin im Auge der Behörden. So werden Anträge von EU-Bürger*innen derzeit mit dem Verweis auf „Bekämpfung von bandenmäßigem Leistungsmissbrauch im spezifischen Umgang mit der EU-Freizügigkeit“ besonders streng geprüft bzw. Anträge abgelehnt. Auch mit dem geplanten Bürgergeld werden EU-Bürger:innen ohne deutschen Pass in Deutschland weitgehend von sozialen Rechten ausgeschlossen. In Notlagen haben sie oft keinen Anspruch auf existenzsichernde Leistungen.
Dadurch, dass bei gleichzeitigem Transferbezug die Lohnstückkosten niedrig gehalten werden, z.B. durch das Kurzarbeitergeld während der Pandemie, wird nur das kapitalistische System gestützt. Das Kurzarbeitergeld hatte neben der Vermeidung von Entlassungen auch die Funktion, den Profitausfall zu verringern. So ergänzt die Grundsicherung den Arbeitslohn, oder eine Lohnarbeit setzt die Grundsicherung voraus, wie u.a. beim Kindergeldzuschlag oder dem Wohngeld, die auch an Einkommen gekoppelt sind.
Zu den bislang gängigen Praktiken gehören auch die Kontrolluntersuchungen von Funktionsärzten der BA, die als Mitwirkungspflicht unter Androhung der kompletten Leistungseinstellung wohl unangetastet bleiben sollen. Jeder Vorladung zum medizinischen Dienst gehen schlaflose Nächte voraus, weil man weiß, dass man der Willkür der Kontrollärzte ausgesetzt ist. Ziel dieser Praxis ist es, ‚strategische‘ Krankschreibungen und Entscheidungen Hartz-IV-Berechtigter, um Termine und Maßnahmen zu umgehen, geahndet. Mit diesem Kontrollinstrument werden Leute für arbeitsfähig erklärt. Und die Bürokratie geht inzwischen soweit, in der entsprechenden Zeit die Arbeitslosen zu Hause aufzusuchen oder per Telefonanruf zu kontrollieren.
Jobcenter bleiben also Orte, in denen minimale demokratische Gepflogenheiten und Regeln nicht gültig sind. Hartz IV muss weg.
Anmerkungen:
1 Siehe Kabinettsvorlage Bundeshaushalt unter: https://www.bundesfinanzministerium.de/Content/DE/Downloads/Oeffentliche-Finanzen/Bundeshaushalt/kabinettvorlage-regierungsentwurf-2023.pdf?__blob=publicationFile&v=6, S. 17
2 Die entsprechende fachliche Weisung zum § 16D SGB II zu Arbeitsgelegenheiten wurde zum 1. Januar 2022 erneuert.
3 Online unter: https://www.arbeitsagentur.de/vor-ort/berlin-mitte/content/1533719039594
4 Siehe die Erfahrungsberichte unter http://www.krach-statt-kohldampf.de/sites/index.html
5 Verbraucherpreisindex im Land Berlin und im Land Brandenburg, online unter: https://www.statistik-berlin-brandenburg.de/m-i-2-m
6 Es geht hier um das Erlernen einer Tagesstruktur im Rahmen der Arbeitsgelegenheiten (§ 16d SGB II), pädagogische Betreuung im Rahmen der Teilhabe am Arbeitsmarkt (§ 16i SGB II) und Sucht- oder Schuldnerberatung im Rahmen kommunaler Eingliederungsmaßnahmen (§ 16a SGB II)
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* BASTA! wird gemacht von Erwerbslosen, Beschäftigten mit geringem Einkommen und Studierenden mit wenig Geld. An drei Orten in Berlin bietet sie eine solidarische und mehrsprachige Beratung zu ALG II an.
Quelle und weitere Infos: www.bastaberlin.de/ Bild: der paritätische