Am 1. Mai wurden in Paris eingekesselte Demonstrierende von der Polizei aufgefordert, vor dem Verlassen des Platzes ihreabzugeben. Der Zwischenfall am Gare du Nord ist exemplarisch für die Art, wie die Macron-Regierung die soziale Krise behandelt, die Frankreich seit dem vergangenen Herbst aufwühlt: Weste weg, Problem gelöst!
Neben derart skurriler Symptombekämpfung gibt es schwere Repressionen. Die vorläufige Bilanz: eine getötete Frau, 24 ausgeschlagene Augen, fünf abgerissene Hände, 286 schwere Kopfverletzungen, Hunderte weitere Verletzte, darunter Minderjährige, Sanitäter und Journalisten, 8.700 Menschen in Polizeigewahrsam, 2.000 Gerichtsurteile, davon 40 Prozent mit Gefängnisstrafen. Gelbwesten werden im Vorfeld von Demonstrationen präventiv festgenommen und am Abend unbeschuldigt auf freien Fuß gesetzt. Ein neues Gesetz macht sämtliche Teilnehmenden einer Demonstration für einzelne Gewaltakte mitverantwortlich, die dort verübt werden. Hinzu kommt der systematische Einsatz von Tränengas in den Stadtzentren, mit ungeklärten gesundheitlichen Folgen für die, die ihm ausgesetzt werden. Doch trotz einer Beschwerde der UNO-Menschenrechtskommission bleibt Innenminister Christophe Castaner bei der Behauptung, es finde keine Polizeigewalt statt.
Gelbwesten demonstrieren weiter
Unter diesen Umständen nimmt es nicht Wunder, dass die Zahl der Protestierenden merklich abgenommen hat. Erstaunlich ist eher, dass Zehntausende der Gefahr weiterhin trotzen und Samstag für Samstag ihr Demonstrationsrecht ausüben. Zumal die Aussicht gering ist, diese Regierung noch zu Zugeständnissen bewegen zu können. Präsident Emmanuel Macron hat erklärt, weitere werde es nicht geben, eine Fortführung der Proteste sei nunmehr zwecklos. Dennoch kann von einem Scheitern der Bewegung keine Rede sein. Seit sich der Protest an einer Erhöhung der Kraftstoffsteuer entzündete, hat er die Lage im Land bereits gründlich verändert. Zunächst einmal ist die Regierung von ihrem knallhart neoliberalen Kurs etwas abgerückt. Selbst wenn den zentralen Forderungen der Gelbwesten eine Abfuhr erteilt wurde: Immerhin wurde die angekündigte Streichung von 120.000 Stellen im öffentlichen Dienst aufgegeben. Auf Druck der Straße wurden staatlich finanzierte Lohnzuschläge in Höhe von 10 Milliarden Euro bewilligt, die Mindestrente wurde erhöht. Mit dem Effekt, dass die Binnennachfrage leicht anzog. „Retten die Gelbwesten die französische Wirtschaft?“, fragte sich die Zeitung Libération. Generell dreht sich seit einem halben Jahr Frankreichs Innenpolitik darum, die Protestbewegung einzudämmen.
Vielfältige Bewegung
Außerordentlich an den Gelbwesten ist ihre Breite und Vielfalt. Die Gilets jaunes mischen sich in allen möglichen Bereichen ein. Sie sind bei Aktionen gegen die Privatisierung der Pariser Flughäfen dabei, sie protestieren mit Umweltverbänden vor Bayer-Monsanto, sie schließen sich dem Pflegepersonal in Krankenhäusern an, sie blockieren wegen der Steuerhinterziehung des Konzerns Amazon-Lagerhallen, sie organisieren Kundgebungen vor Fernsehsendern oder Waffenlieferanten der Polizei. Gelbwesten-Frauen solidarisieren sich mit Bewohnerinnen verwahrloster Sozialeinrichtungen. Mitte Mai störten Leute in Gelb in Paris die nationale Theaterpreisverleihung, um gegen Streichungen im Kulturetat zu protestieren. Schließlich haben die Gelbwesten ganz verschiedene berufliche Hintergründe. Sie haben sich außerhalb der Arbeit zusammengetan, engagieren sich also nicht für Belange einzelner Gruppen. Ihnen geht es um Gerechtigkeit – bei Steuern, Sozialem und der Klimapolitik. Die Sorge um das Allgemeinwohl hat ihnen Solidaritätsbekundungen anderer Bevölkerungsteile eingebracht. Im März erklärten sich 350 Akademiker*innen in einer Erklärung zu „Komplizen bei allen kommenden Zusammenkünften der Gelbwesten, ob diese genehmigt sind oder nicht“.
Im Mai folgten 1.500 Kulturschaffende mit einem Aufruf: „Auch wir Künstler, Techniker, Autoren sind Gelbwesten.“ Außer ihrem erstaunlichen Durchhalte-vermögen und der Tatsache, dass sie die politische Agenda maßgeblich prägen, haben diese Männer und Frauen einen weiteren Erfolg zu verbuchen: Sie mobilisieren sich ohne Befehle von oben, bleiben Organisationen fern und sind dennoch sehr effektiv. Die meisten von ihnen haben niemals zuvor demonstriert oder gestreikt.
Die Gewerkschaften
Das ist eine Herausforderung für die Gewerkschaften, allen voran für die CGT. Zum ersten Mal ist nicht sie die treibende Kraft in einem großen sozialen Konflikt. Bei ihrem Nationalkongress im Mai waren die Gelbwesten ständig Thema. Erstens, weil diese zumeist prekär Beschäftigte, Arbeitnehmer*innen in Kleinbetrieben oder Selbstständige sind, Beschäftigtengruppen, die in Frankreich in der Mehrheit noch gewerkschaftlich unerschlossen sind. Der CGT-Vorstand musste deshalb jetzt den Vorwurf einstecken, der Gewerkschaftsbund sei nicht in der Lage, den Beschäftigungswandel zu begleiten. Die CGT vertrete stattdessen Nischen, was einen dramatischen Mitgliederschwund zur Folge habe.
Zweitens gerät die Sozialpartnerschaft in die Kritik, wie sie die CGT anstrebt und dabei Verlust macht. Zum ersten Mal in ihrer Geschichte unterliegt sie bei der Zahl der Personalräte der anpassungsfreundlichen CFDT. Viele Gewerkschaftsmitglieder, die auf der Straße zusammen mit Gelbwesten agieren, betonen nun, dass ihre Militanz in kürzester Zeit mehr erreicht hat als Jahre der Verhandlungen. Es ist also zu erwarten, dass die Klassenkampf-Rhetorik wieder Aufschwung nimmt, ganz gleich unter welcher Westenfarbe.
Andererseits stößt die Spontanität der Gelbwesten an ihre Grenzen. Der Überraschungseffekt ist vorbei. Die Verkehrskreisel, auf denen sie sich versammelten, sind geräumt worden. Nun müssen sie sich für eine langfristige Kraftprobe wappnen und entsprechend organisieren. Im April trafen sich in Saint-Nazaire Vertreter*innen von 200 Ortsgruppen aus ganz Frankreich zu einer „Versammlung der Versammlungen“. Erneut forderten sie „eine allgemeine Anhebung der Löhne, Renten und sozialen Mindestsicherungen“, „öffentliche Dienstleistungen für alle“ sowie konkrete Maßnahmen gegen den ökologischen Notstand. Angestrebt werden auch „neue Formen der Direktdemokratie“ und die Aktionseinheit mit anderen sozialen Kräften. Ein weiteres Treffen ist für Ende Juni geplant.
Gescheitert ist die Regierung mit ihrem Plan, wirtschaftsliberale Reformen mit freundlichem Antlitz durchzusetzen. Ihre Umfragewerte liegen im Keller. Auf die Mehrheit wirken Autoritarismus und Polizeigewalt abstoßend. Der von Macron inszenierte „große nationale Dialog“ vermochte nicht zu überzeugen. Selbst seine Förderer glauben nicht mehr an Macrons Fähigkeit, die soziale Lage zu befrieden. Nur steht keine politische Ablösung zur Verfügung, um denselben Kurs zu halten.
Als einzige Rechtfertigung des Status Quo dient wieder einmal die Abwehr von Marine Le Pens rechtspopulistischer Partei. Doch selbst wenn diese von der Anti-Macron-Stimmung profitieren könnte: Auf die Gelbwesten kann sie sich nicht verlassen. Migrantenfeindliche Positionen lehnen diese stets ab, und ihre Forderungen sind mit rechtem Gedankengut zunehmend unvereinbar. Allem Anschein nach wird die soziale Bewegung nicht so bald aufhören, Frankreich zu bewegen.
Gelbwesten demonstrieren weiter
Unter diesen Umständen nimmt es nicht Wunder, dass die Zahl der Protestierenden merklich abgenommen hat. Erstaunlich ist eher, dass Zehntausende der Gefahr weiterhin trotzen und Samstag für Samstag ihr Demonstrationsrecht ausüben. Zumal die Aussicht gering ist, diese Regierung noch zu Zugeständnissen bewegen zu können. Präsident Emmanuel Macron hat erklärt, weitere werde es nicht geben, eine Fortführung der Proteste sei nunmehr zwecklos. Dennoch kann von einem Scheitern der Bewegung keine Rede sein. Seit sich der Protest an einer Erhöhung der Kraftstoffsteuer entzündete, hat er die Lage im Land bereits gründlich verändert. Zunächst einmal ist die Regierung von ihrem knallhart neoliberalen Kurs etwas abgerückt. Selbst wenn den zentralen Forderungen der Gelbwesten eine Abfuhr erteilt wurde: Immerhin wurde die angekündigte Streichung von 120.000 Stellen im öffentlichen Dienst aufgegeben. Auf Druck der Straße wurden staatlich finanzierte Lohnzuschläge in Höhe von 10 Milliarden Euro bewilligt, die Mindestrente wurde erhöht. Mit dem Effekt, dass die Binnennachfrage leicht anzog. „Retten die Gelbwesten die französische Wirtschaft?“, fragte sich die Zeitung Libération. Generell dreht sich seit einem halben Jahr Frankreichs Innenpolitik darum, die Protestbewegung einzudämmen.
Vielfältige Bewegung
Außerordentlich an den Gelbwesten ist ihre Breite und Vielfalt. Die Gilets jaunes mischen sich in allen möglichen Bereichen ein. Sie sind bei Aktionen gegen die Privatisierung der Pariser Flughäfen dabei, sie protestieren mit Umweltverbänden vor Bayer-Monsanto, sie schließen sich dem Pflegepersonal in Krankenhäusern an, sie blockieren wegen der Steuerhinterziehung des Konzerns Amazon-Lagerhallen, sie organisieren Kundgebungen vor Fernsehsendern oder Waffenlieferanten der Polizei. Gelbwesten-Frauen solidarisieren sich mit Bewohnerinnen verwahrloster Sozialeinrichtungen. Mitte Mai störten Leute in Gelb in Paris die nationale Theaterpreisverleihung, um gegen Streichungen im Kulturetat zu protestieren. Schließlich haben die Gelbwesten ganz verschiedene berufliche Hintergründe. Sie haben sich außerhalb der Arbeit zusammengetan, engagieren sich also nicht für Belange einzelner Gruppen. Ihnen geht es um Gerechtigkeit – bei Steuern, Sozialem und der Klimapolitik. Die Sorge um das Allgemeinwohl hat ihnen Solidaritätsbekundungen anderer Bevölkerungsteile eingebracht. Im März erklärten sich 350 Akademiker*innen in einer Erklärung zu „Komplizen bei allen kommenden Zusammenkünften der Gelbwesten, ob diese genehmigt sind oder nicht“.
Im Mai folgten 1.500 Kulturschaffende mit einem Aufruf: „Auch wir Künstler, Techniker, Autoren sind Gelbwesten.“ Außer ihrem erstaunlichen Durchhalte-vermögen und der Tatsache, dass sie die politische Agenda maßgeblich prägen, haben diese Männer und Frauen einen weiteren Erfolg zu verbuchen: Sie mobilisieren sich ohne Befehle von oben, bleiben Organisationen fern und sind dennoch sehr effektiv. Die meisten von ihnen haben niemals zuvor demonstriert oder gestreikt.
Die Gewerkschaften
Das ist eine Herausforderung für die Gewerkschaften, allen voran für die CGT. Zum ersten Mal ist nicht sie die treibende Kraft in einem großen sozialen Konflikt. Bei ihrem Nationalkongress im Mai waren die Gelbwesten ständig Thema. Erstens, weil diese zumeist prekär Beschäftigte, Arbeitnehmer*innen in Kleinbetrieben oder Selbstständige sind, Beschäftigtengruppen, die in Frankreich in der Mehrheit noch gewerkschaftlich unerschlossen sind. Der CGT-Vorstand musste deshalb jetzt den Vorwurf einstecken, der Gewerkschaftsbund sei nicht in der Lage, den Beschäftigungswandel zu begleiten. Die CGT vertrete stattdessen Nischen, was einen dramatischen Mitgliederschwund zur Folge habe.
Zweitens gerät die Sozialpartnerschaft in die Kritik, wie sie die CGT anstrebt und dabei Verlust macht. Zum ersten Mal in ihrer Geschichte unterliegt sie bei der Zahl der Personalräte der anpassungsfreundlichen CFDT. Viele Gewerkschaftsmitglieder, die auf der Straße zusammen mit Gelbwesten agieren, betonen nun, dass ihre Militanz in kürzester Zeit mehr erreicht hat als Jahre der Verhandlungen. Es ist also zu erwarten, dass die Klassenkampf-Rhetorik wieder Aufschwung nimmt, ganz gleich unter welcher Westenfarbe.
Andererseits stößt die Spontanität der Gelbwesten an ihre Grenzen. Der Überraschungseffekt ist vorbei. Die Verkehrskreisel, auf denen sie sich versammelten, sind geräumt worden. Nun müssen sie sich für eine langfristige Kraftprobe wappnen und entsprechend organisieren. Im April trafen sich in Saint-Nazaire Vertreter*innen von 200 Ortsgruppen aus ganz Frankreich zu einer „Versammlung der Versammlungen“. Erneut forderten sie „eine allgemeine Anhebung der Löhne, Renten und sozialen Mindestsicherungen“, „öffentliche Dienstleistungen für alle“ sowie konkrete Maßnahmen gegen den ökologischen Notstand. Angestrebt werden auch „neue Formen der Direktdemokratie“ und die Aktionseinheit mit anderen sozialen Kräften. Ein weiteres Treffen ist für Ende Juni geplant.
Gescheitert ist die Regierung mit ihrem Plan, wirtschaftsliberale Reformen mit freundlichem Antlitz durchzusetzen. Ihre Umfragewerte liegen im Keller. Auf die Mehrheit wirken Autoritarismus und Polizeigewalt abstoßend. Der von Macron inszenierte „große nationale Dialog“ vermochte nicht zu überzeugen. Selbst seine Förderer glauben nicht mehr an Macrons Fähigkeit, die soziale Lage zu befrieden. Nur steht keine politische Ablösung zur Verfügung, um denselben Kurs zu halten.
Als einzige Rechtfertigung des Status Quo dient wieder einmal die Abwehr von Marine Le Pens rechtspopulistischer Partei. Doch selbst wenn diese von der Anti-Macron-Stimmung profitieren könnte: Auf die Gelbwesten kann sie sich nicht verlassen. Migrantenfeindliche Positionen lehnen diese stets ab, und ihre Forderungen sind mit rechtem Gedankengut zunehmend unvereinbar. Allem Anschein nach wird die soziale Bewegung nicht so bald aufhören, Frankreich zu bewegen.
Der Artikel erschien in ver.di publik 4/2019 https://www.verdi.de/themen/internationales/++co++e96b6fcc-91b0-11e9-836f-525400940f89 Bild: Von KRIS AUS67 - gilets jaune drapeau bbr sur les champs elysees nov 2018, CC BY 2.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=74826433
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