Er war vieles in seinem langen Leben. Und immer vieles zugleich: Komponist von über tausend Werken – von Symphonien, Opern, Balletten, Kammermusiken, Kantaten, Oratorien, Hymnen, Liederzyklen, bis zu Theater- und Filmmusiken, aber dabei immer auch Widerstandskämpfer, Kommunist, Anarchist, Parlamentarier und sogar Minister. Ein Wunder an Schöpferkraft!
Doch die Griechen verehren Mikis Theodorakis vor allem als jemanden, der nicht nur Politik machte, sondern diese als Künstler auch immer wieder hart kritisierte. Ein Musiker, der die Sehnsüchte des Volkes verstand und ihnen einen – überparteilichen – Ausdruck zu geben vermochte! Dieser unbequeme Einzelgänger war gewiss einer der wenigen Intellektuellen der Gegenwart, der diesen Namen verdiente: das Gewissen der Nation im Sinne Èmile Zolas und seines »J’accuse!« Ich klage an!
Theodorakis wurde nicht nur geachtet, sondern geliebt: Seine legendäre Filmmusik zu Michael Cacoyannis’ »Alexis Sorbas« (mit Anthony Quinn) von 1964 nach dem Roman von Nikos Kazantzakis avancierte zur heimlichen Nationalhymne Griechenlands während der Militärdiktatur. Welch angewandte Ästhetik des Widerstandes! Aber eben aus der Folklore heraus, diese in den Horizont einer Befreiungsmusik führend, die er als »Alltagslied« komponierte. Martin Walser schrieb, diese Musik lebe aus der Folklore, ohne in ihr unterzugehen.
Hört man diese urgriechische Melodie aus »Alexis Sorbas« heute wieder, dann überrascht das sich permanent steigernde Tempo. Ein Tanzlied der anderen Art. Es bekommt schließlich etwas rasant Umstürzlerisches, etwas visionär über sich Hinausweisendes. Man hört und weiß: Da kommt noch etwas, das war noch nicht alles. Schicksal? Nein, das Resultat unseres eigenen Träumens, Denkens und Handelns!
Das Leben des 1925 auf der Insel Chios geborenen Mikis Theodorakis scheint aus lauter Aktion zu bestehen, die die Kontemplation herbeiruft. Aber um das widerständige Handeln wollte er nicht betrügen, auch wenn er sich gerade zwischen zwei Sätzen einer seiner insgesamt sieben Symphonien befand, was für ein Lebenswerk ausgereicht hätte.
Das Bekenntnis überrascht: »Meine musikalische Heimat ist Deutschland«, sagte er einmal im Interview. Aber auch der Film als Inspirationsquelle, muss man hinzufügen. Denn es war ein Beethoven-Film, den er als Kind sah, der ihn zur Musik brachte. Er studierte am Konservatorium in Athen, da kam der Zweite Weltkrieg und Theodorakis schloss sich dem kommunistischen Widerstand an, kämpfte auch nach dem Krieg im Bürgerkrieg weiter, wurde gefangen, gefoltert und schließlich verbannt. Diese Erfahrung von Widerstand und Leid, getragen von einem starken Freiheitswillen, ist es, die seine Musik durchzieht. So auch die Filmmusik, die er 1969 zu Costa-Gavras »Z – Anatomie eines politischen Mordes« schrieb: ein modernes Griechenlanddrama als Politthriller erzählt.
Schließlich durfte er nach internationalen Protesten ins Exil nach Paris gehen, wo der spätere sozialistische Präsident Francois Mitterrand ihn erlebte und im Vorwort zu einem Buch über Theodorakis schrieb: »Die Emotionen, die uns gepackt hatten, verwandelten unsere kleine Gruppe in einen einzigen Körper, belebt von der Seele des Augenblicks. Wir waren die Sonne und der Fluss und das verlorene Tal, die Stufen der hohen Stadt, von Blumen und Blut gesäumt.« Er erkennt in ihm den legitimen Erben der griechischen Tragödienschreiber. Denn da ist immer auch Dionysos mit im Spiel, der Gott des Rausches, der verwandelt.
Auch in seinen Oratorien bleibt dieser ursprüngliche Geist der Tragödie gegenwärtig. Sehnsucht nach Heimat und Wut über Vertreibung, diese Exilerfahrung teilte er mit dem großen spanischen Dichter Pablo Neruda, der vom Franco-Regime ebenfalls ins Exil getrieben wurde. Nerudas »Canto General«, der »Große Gesang«, in der Vertonung von Theodorakis, ist so etwas wie Beethovens Schlusssatz der 9. Symphonie, wiedergeboren aus den Tragödien des 20. Jahrhunderts. Pathos, ohne pathetisch zu sein, weil der darin mitschwingende Schmerz nicht ausgestellt, sondern musikalisch ausgedrückt wird. Schönheit und Freude sind wichtig, gerade in einer hässlichen und freudlosen Welt, so die Botschaft.
1974 kehrt Theodorakis nach Griechenland zurück, will die neu entstehende Demokratie mitgestalten. Er wird für die Kommunistische Partei ins Parlament gewählt. Aber das Feld der Politik erweist sich als steinig, und oft sind es die eigenen Genossen, die ihm die Steine in den Weg legen. Darf Moskau den griechischen Kommunisten sagen, was sie zu tun haben? Theodorakis findet, dass sie das nicht dürfen und kehrt den Kommunisten den Rücken. Schließlich lässt er sich für die Konservativen ins Parlament wählen und wird sogar Minister, aber natürlich ohne Geschäftsbereich, mit allen Freiheiten, den politisch Handelnden zu sagen, was sie nicht hören wollen.
Natürlich ließ er die Konservativen dann auch wieder zurück und schloss sich den Sozialisten an. Die Parteien wechselten in seinem Leben, aber der kritische Geist blieb. Sein Ziel war auch hier ein über das bloß Politische, immer krisenhaft, Hinausgehendes: Der versuchte Zusammenschluss aller Erneuerungskräfte im Lande, die das von der EU zum Objekt degradierte Griechenland retten wollten. Er stritt gegen den Kosovo- und den Irakkrieg und vermittelte im scheinbar ewigen Konflikt zwischen Griechenland und der Türkei. Und wenn man am Tag nach seinem Tod am 2. September mit 96 Jahren in Athen auf seine Website geht, dann findet man einen übervollen, mit Einträgen und Verweisen gefüllten Monat August, unter anderem einen Verweis auf den Dichter Jannis Ritsos, dessen Gedichte er im Liederzyklus »Epitaphios« vertont hatte.
Übervoll, überreich. Aber eben nie bloß geschäftig, sondern dem geistigen Anspruch seiner Kunst verpflichtet – so hat Mikis Theodorakis gelebt. Bis zum Schluss. Sein Protest gegen die Corona-Politik der griechischen Regierung, die viele Künstler arbeitslos machte, war seine letzte Einmischung in die eigenen öffentlichen Angelegenheiten. Seine Musik wird bleiben.
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/ Bildbearbeitung: griechenland.net/L.N.