Wessen Morgen ist der Morgen – Arbeiterlied und Arbeiterkämpfe in Deutschland

Von Kai Degenhardt

Wessen Morgen ist der Morgen? Wessen Welt ist die Welt? Die Klassenkämpfe, durch alle Jahrhunderte hinweg, handeln von der Beantwortung dieser beiden kurzen Fragen. Sie stehen im Schlussrefrain des »Solidaritätslieds«, eines der am häufigsten gesungenen Arbeiterlieder, geschrieben von Bertolt Brecht und vertont von Hanns Eisler.

Die Geschichte des deutschen Arbeiterlieds, von seiner Entstehung im Zuge der Industriellen Revolution bis in die Gegenwart, ist das Thema dieses Buchs. Die vielen Kämpfe und Niederlagen, Erfolge und Fehlschläge der Arbeiterbewegung werden nachgezeichnet, und ich will aufzeigen, wie sich diese wechselvolle Geschichte in den Arbeiterliedern widerspiegelt. Dabei sind die Lieder mitunter selbst Quellenmaterial, wenn sie ihrerseits Auskunft geben über die ideologischen Kämpfe und die Lage in- und außerhalb der Bewegung.

Ich habe den Gegenstand auf den deutschsprachigen Raum beschränkt und zugleich auf das Gebiet innerhalb der Grenzen Deutschlands – zunächst von 1871 (Reichsgründung), später dann von 1919 (Versailler Vertrag) und danach denen von 1945 (Potsdamer Abkommen) bzw. 1990 (Anschluss der DDR). Das von den Nazis angemaßte und herbeihalluzinierte »großgermanische« Reich von 1933 bis 45 habe ich, hinsichtlich seiner Grenzen jedenfalls, ignoriert.

Über das Hören und Sichten des umfangreichen Lied- und Textmaterials hinaus habe ich keine eigene empirische Forschung betrieben. Ich habe also nicht selbst in Archiven gestöbert, sondern mich vor allem auf die gute, gründliche und grundlegende Arbeit anderer diesbezüglich verlassen und mich daraus bedient. Wenn die Lieder der deutschen Arbeiterbewegung auch im Mittelpunkt dieses Buchs stehen, ist es dennoch kein Liederbuch: Keines ist vollständig abgedruckt, geschweige denn mit Noten, Tabulatur oder Akkorden versehen, zum Nachspielen oder -singen aufbereitet. Und die Lieder erheben natürlich auch keinesfalls den Anspruch auf auch nur ansatzweise Vollständigkeit. Es geht vor allem darum, anhand der mir besonders bedeutsam und charakteristisch erscheinenden Stücke, das Genre Arbeiterlied in seiner Komplexität und in seinem Wesen zu erfassen sowie in seiner historischen Entwicklung über fast zwei Jahrhunderte hinweg abzubilden.

Die hier im Buch nur auszugsweise zitierten Lieder sind zumeist mit Literaturnachweisen versehen, wo sie vollständig abgedruckt sind. Viele davon lassen sich aber auch sehr bequem online auffinden und nachlesen, und zwar in dem, äußerst verdienstvoll, von Michael Zachcial betriebenen und akribisch betreuten digitalen Volksliederarchiv (www.volksliederarchiv.de). Zum Nachhören der Stücke sind, sofern verfügbar, in den Fußnoten die Tonträger angegeben, auf denen sie veröffentlicht wurden. Die diversen Streamingdienste – von Youtube bis Spotify – vereinfachen das heute, auch ohne eigene umfangreiche Vinyl- oder CD-Sammlung.

Sollte beim Lesen dennoch bei dem einen oder der anderen das mir sehr verständliche, einfache Bedürfnis entstehen, die behandelten Lieder selbst zu spielen und zu singen, dann ist das durchaus intendiert. Ich leiste mit diesem Buch sehr gerne auch meinen Beitrag zur Bewahrung und Wiederentdeckung des Singens und Spielens der bekannten – aber auch der durch die wechselvollen Zeiten mitunter verschüttgegangenen – Arbeiterlieder. Wenn es also auch keine direkte Anleitung dazu bietet, soll und darf das Buch gerne zum Fortschreiben dieser Kulturtechniken anregen; also dem Texten, Komponieren, Spielen und Singen alter und neuer Arbeiterinnenlieder – für die anstehenden und die so notwendigen, kommenden Kämpfe.

Das wäre im Grunde das Beste, was aus der Lektüre des Buches und seinem Gebrauch folgen könnte.

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Kai Degenhardt

Wessen Morgen ist der Morgen
Arbeiterlied und Arbeiterkämpfe in Deutschland

Neue Kleine Bibliothek 332, 215 Seiten

Erschienen im September 2023

ISBN 978-3-89438-816-4

Im Jahr 2014 wurde das »Singen der Lieder der deutschen Arbeiterbewegung« in das Bundesweite Verzeichnis des Immateriellen Kulturerbes im Sinne der UNESCO aufgenommen. Das Liedgut sei »Ausdruck von Benachteiligung und Unterdrückung lohnabhängiger Beschäftigter, aber auch von Gegenwehr, Kampfeswillen und Zukunftsgewissheit.« Doch sollte, was vom Aussterben bedroht scheint, nicht wiederbelebt werden? Im Spiegel des Arbeiterliedes blättert Kai Degenhardt die vielen Kämpfe und Niederlagen, Erfolge und Fehlschläge in der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung auf. Dabei stellt er auch das triumphalistische Pathos und die, speziell deutsche, Verwurzelung des Arbeiterlieds in den Hinterzimmern von Männergesangsvereinen in ihren historischen Kontext. Von der älteren Linie der proletarischen Balladen bis hin zu jüngeren Traditionen zeichnet der Band das kulturelle Erbe von fast zwei Jahrhunderten nach. So will er dazu beitragen, den Weg freizuräumen für eine Renaissance des Arbeiterliedes jenseits einer Aufführungspraxis, die heute bisweilen überkommen anmutet. Damit das Arbeiterlied auch künftigen Kämpfen möglichst wieder zur Seite steht.

Kai Degenhardt, *1964, schloss 1991 sein Jurastudium ab, arbeitet seitdem als Musiker und freier Autor in Hamburg. Er hat als Liedermacher mehr als ein halbes Dutzend Alben veröffentlicht; schreibt regelmäßig über Populärmusik und Kulturindustrie. Seinen Vater Franz Josef Degenhardt begleitete er über 20 Jahre lang als Gitarrist und Arrangeur auf Tourneen und im Studio.

Inhaltsverzeichnis
Vorbemerkung des Autors
Namens- und Liederregister

 

 

 

 

 

Quelle und Bild: PapyRossa Verlag