Armut und Ausgrenzung sind für Millionen der Normalzustand in Deutschland.
Mit der Beitragsreihe von „Sackgasse Hartz IV“ auf dem Portal links bewegt soll den Betroffenen eine Stimme gegeben und Einblick gewährt werden in eine Welt, die die deutsche Öffentlichkeit weitgehend verdrängt hat.
Im Folgenden werden die bisherigen Kolumnen aus dem Jahr 2021 von Inge Hannemann, der bekannten Kritikerin des Hartz-IV-Systems, vorgestellt.
07.09.2021
Zwang mit Hartz IV: Essen was auf den Tisch kommt
Es war Anfang August. Ein Urteil des Bundessozialgerichts Kassel (B 4 AS 83/20 R) führte zu einer großen Empörungswelle in den sozialen Netzwerken.
Was war geschehen? Ein Kellner, der zugleich mit Hartz IV aufstockte, hatte dagegen geklagt, dass ihm von seinem Arbeitgeber bereitgestelltes Essen vom Hartz-IV-Regelsatz abgezogen wird. Die Klage blieb erfolglos. Das Jobcenter berücksichtigte das Essen als monatliches Einkommen von durchschnittlichen 30,18 Euro. Der Kläger hatte von 2008 bis 2018 in Berlin in Vollzeit als Kellner im Schichtdienst gearbeitet. Vom Arbeitgeber erhielt er kostenfrei Getränke und Verpflegung. Parallel bezog er für sich und seine Frau und den drei Kindern aufstockendes Arbeitslosengeld II. Ein zuvor eingereichter Widerspruch und eine Klage vor dem Berliner Sozialgericht blieben ebenfalls erfolglos. Der Vater argumentierte, dass er die Verpflegung nicht in Anspruch nehme, da er lieber zuhause esse, um bei seiner Familie und seiner behinderten Tochter zu sein. Laut Urteil wolle er so viel Zeit wie möglich mit ihr verbringen. Dem Gericht war es egal, ob der Vater die Leistung in Anspruch nimmt oder nicht und nennt es „unbeachtlich“. Nach dem Sozialgesetzbuch II (Hartz IV) sei es als Einkommen zu bewerten.
Selbstbestimmung passé
Dieser Fall und ähnlich gelagerte Fälle beschäftigen immer wieder die Sozialgerichte. Verlierer sind die Leistungsberechtigten. Ich möchte hier nicht auf die komplexe Rechtsgrundlage eingehen, die leider für die Jobcenter spricht. Die Empörungswelle in den sozialen Netzwerken war berechtigt. Und in jedem neuen Fall ist sie weiterhin berechtigt. Mir geht es um die Selbstbestimmung und die bestehende Abhängigkeit, trotz eines Vollzeitjobs, zum Jobcenter. Da arbeitet jemand in Vollzeit und dazu noch im Schichtdienst und muss gleichzeitig parallel mit Hartz IV aufstocken. Da stellt sich die Frage: War der Lohn zu mickrig? Die Antwort kann nur lauten: Ja. Die Fans des Wirtschaftsneoliberalismus klingeln schon in meinen Ohren: „Die Familie kann dankbar sein für die staatliche Aufstockung. Auch die Gastronomie muss überleben“.
Das Jobcenter steht nun als Bindeglied zwischen dem Arbeitgeber und der Familie und stockt den Lohn auf. Der Vater tut aber alles, um irgendwie den Lebensunterhalt seiner Familie zu bestreiten: Er nimmt den mickrigen Lohn und den Schichtdienst in Kauf. Nicht einfach bei drei Kindern. Nur wirklich selbstbestimmen, ob er das ihm zur Verfügung gestellte Essen in Anspruch nimmt oder nicht, darf er nicht. Darf er soweit zumindest nicht, was seinen Hartz-IV-Anspruch betrifft. Abzüge hat er immer. Dass er lieber die Zeit mit seiner Familie verbringt: Egal. Seine Familie mutiert in diesem Moment zu einem „Geldeswert“. Das sagt zumindest das Gericht. Gefühle und Familienzeit werden zu einem Geldfaktor. Gesetzlich festgelegt. Staatlich verordnet.
Gesetze stehen über Menschlichkeit
Natürlich können Gesetze keine Menschlichkeit oder Empathie ersetzen. Aber Gesetze und Menschen, die in Institutionen sitzen, bevor es zu Gerichten geht, können Menschlichkeit und Empathie walten lassen. Hier hätte das Berliner Jobcenter dem Vater einen Wink geben können, dass der Arbeitgeber den Arbeitsvertrag entsprechend ändert, damit das Essen nicht erscheint. Einen Satz zum „Kunden“ und die Familie hätte 360 Euro jährlich mehr gehabt und auch das „Fördern“ des Sozialgesetzbuch II wäre umgesetzt worden. Der Kellner rutscht mit dieser Abhängigkeit in eine Als-Ob-Arbeitnehmer Position. Seine Unabhängigkeit vom Jobcenter kann er damit niemals überwinden. Die Entscheidung des Gerichts verstärkt diese Chancenlosigkeit erneut. Eine Arbeitsaufnahme erfolgt auch, um auf die eigenen Lebensumstände aktiv Einfluss zu nehmen. Mit der Macht, die selbst die Nahrungsaufnahme von außen bestimmt, wird diese Selbstermächtigung immens gestört. Es ist ein Teil des Gesamtbildes von Hartz IV: Eine Erziehungsgewalt, die durch eine Gesetzgebung durch Dritte bestimmt wurde und noch immer wird. Durchbrochen wird sie nur, wenn Hartz IV überwunden wird. Durch eine sanktionsfreie Mindestsicherung und der Abschaffung des Kleinklein der Verordnungen, die sich hinter dem Sozialgesetzbuch II verstecken.
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24.06.2021
Zu arm für die Reha
Letztens ist mir in der Sozialberatung folgender Fall begegnet: Ein Jobcenter, irgendwo in Deutschland, verpflichtete den Erwerbslosen per Eingliederungsvereinbarung, einen Antrag auf eine medizinische Reha-Leistung beim zuständigen Rententräger zu stellen. Ziel war natürlich die Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt. Die Leser:innen mögen nun geneigt sein zu denken: Das ist doch ein fürsorglicher Gedanke. Oder gar ganzheitlich gedacht. So weit, so gut. Die Angst vor einer 30-prozentigen Sanktion, weil er bei einer Verweigerung gegen die Eingliederungsvereinbarung (EGV) verstoßen würde, führte zu einer Unterschrift und damit zu einer Zustimmung zu diesem Reha-Antrag.
Zu Hause angekommen, kamen die Zweifel: Wie soll ich die Sportbekleidung finanzieren? Die Hoffnung und das Wissen, dass sowieso mehr als die Hälfte der medizinischen Reha-Anträge durch den Rententräger im ersten Anlauf erstmal abgelehnt werden, verpuffte schnell. Die Angst, dass das Jobcenter möglicherweise auf einen Widerspruch gegen die Ablehnung pochen wird, war stärker. Somit blieb die Angst der Finanzierung bestehen. Sie fraß sich subtil in die Gedankenströme über den Tag und in die Träume der Nächte hinein.
Keine Reha ohne Sportkleidung
Auch wenn Arbeitslosengeld-II- und Grundsicherungsleistungsberechtigte nach dem SGB XII von den täglichen zehn Euro Zuzahlungen befreit sind, ist es damit nicht getan. Grundsätzlich werden die Fahrt- und Gepäckkosten zum Reha-Ort für alle übernommen. Eine Reha besteht immer aus Physiotherapie, die ordentliche Bekleidung voraussetzt: Sporthose, T-Shirt, Sportschuhe für Innen und Außen, Jacke für Outdoor-Übungen sowie Badebekleidung für die Schwimmtherapie. Eine einmalige Ausstattung ist nicht ausreichend, da am Tag oftmals mehrere Anwendungen stattfinden. Kurz gesagt: Zwei bis drei Hosen und T-Shirts müssen es mindestens sein. Und das ist schon knapp bemessen. „Na, T-Shirts hat doch jeder zu Hause“, mag manche Leser:in jetzt denken. Sicher. Ich empfehle hier einen Perspektivwechsel.
Eine Normalität, die keine ist
Im Juni 2019 waren rund 5,5 Millionen Menschen in Hartz IV gemeldet. Von ihnen waren 42 Prozent bereits vier Jahre oder länger hilfebedürftig (Quelle: Bundesagentur für Arbeit). Für Bekleidung – inkl. Schuhe – stehen einer alleinstehenden Person aktuell 37,01 Euro in Hartz IV oder in der Grundsicherung zu. Von einer neuen Sporthose brauche ich hier gar nicht zu reden. Wie viele Gebrauchte ich in einem Sozialkaufhaus erhalte, sofern es überhaupt eines in der Nähe gibt, brauche ich auch nicht groß erwähnen. Hinzu kommen noch T-Shirts, mögliche Badebekleidung und Turnschuhe. Alles Einzelteile, die sich jedoch, gerade für Betroffene, die sich sehr lange in Armut befinden, zu einer Summe addieren, die nicht zu wuppen ist. Und die zu Gedanken führen, die sich erst in Sorgen verwandeln und dann in Ängsten enden können.
Wer jahrelang in Armut lebt, hat nicht unbedingt „Reha-Bekleidung“ im Schrank. Von dieser Normalität dürfen wir nicht ausgehen. Genauso wenig bei Menschen, die nicht von Armut betroffen sind. Hüten wir uns also hier vor Generalisierungen. Aber einen Aspekt möchte ich dennoch erwähnen. Wünsche und Fragen, die mir sehr begegnen: „Mit denen da Draußen mithalten zu können. Halte ich diesem stand? Kann ich mich behaupten?“ Auch immer vor dem Hintergrund, dass die Armut die ganze Person das eigene „Ich“ untergraben hat. Und da ist der Wunsch, sich etwas Modernes, sich etwas Neues zu leisten durchaus legitim.
Isoliert durch jahrelange Armut
Mit monatlich 37 Euro ist das aber nicht umzusetzen. Jahrelange Armut isoliert – sozial und finanziell. Ein plötzliches Ereignis, wie eine Reha, kann gedanklich und finanziell ein Karussell in Gang setzen, was sich immer schneller dreht. Im Fall des Ratsuchenden löste sich der Fall so auf, dass der Rententräger überraschenderweise die Reha innerhalb kurzer Zeit positiv entschied und der Leistungsberechtigte über Privatspenden zum Teil neue und sehr gut erhaltene moderne Sportbekleidung kaufen konnten. Das funktionierte aber nur, weil sich das Karussell stoppen ließ. Für viele von Armut Betroffene gibt es ähnliche Beispiele. Es kann eine Waschmaschine sein. Ein außergewöhnlicher Schulbedarf. Medikamente. Kaputtes Fahrrad.
Rechtshinweis: Die Jobcenter dürfen über die Dauer der Reha die Hartz-IV-Leistungen nicht kürzen.
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21.05.2021
Pokerface im Jobcenter
Hand aufs Herz: Das Wort „Eingliederungsvereinbarung (EGV)“ im Jobcenter klingt zumindest nach den Scrabble-Regeln famos. Ohne Prämienzählung ergibt das Wort nach den Scrabble-Regeln alleine 37 Punkte. Meine fortgesetzte Suche nach Synonymen ergab Begriffe wie: Einbeziehung, Integration, Zusammenführung und Verzahnung. Klingt alles sehr verbindend und doch ist die Eingliederungsvereinbarung bis heute eine Art Fremdkörper in einem bürokratischen Konstrukt wie es die Jobcenter sind. Insbesondere für Erwerbslose, die zum ersten Mal die Luft eines Jobcenters einatmen. 2005 wurde die Eingliederungsvereinbarung übrigens mit dem Ziel eingeführt einen „partnerschaftlichen Umgang zwischen Agentur für Arbeit und erwerbsfähigen Hilfebedürftigen“ zu gewährleisten.
Nun ja, ob man eine Partnerschaft mit einem Jobcenter eingehen möchte, bleibt jedem selbst überlassen. Ich glaube allerdings, dass die Partnerschaft mit einer Laterne partnerschaftlicher wäre. Aber zum Thema zurück. Inzwischen ist die Eingliederungsvereinbarung eines der wichtigsten Instrumente, um Druck auf Erwerbslose auszuüben. Das A-B-C der „Frischlinge“ im Jobcenter auf der anderen Seite des Schreibtischs ist die Schulung der „Rechtssicherheit“ einer EGV vor Gericht. Nichts ist peinlicher, als dass die EGV vor Gericht nicht standhält. Schließlich ist sie der Dreh- und Angelpunkt des „Fordern und Fördern“ von Arbeitslosengeld-II-Berechtigten.
Die Vereinbarung muss ausgewogen sein
“Alte Hasen“ kennen das Spiel mit der EGV und das Einlullen. Sie wissen, dass ein Vertrag gleichwertig austangiert sein muss. Und nichts anderes ist die EGV. Ein beidseitiger Vertrag, der die Rechte und Pflichten gleichmäßig auf das Jobcenter und die Erwerbslosen verteilt. Wenn ich eine Waschmaschine kaufe, kaufe ich ja auch nicht nur die Trommel. Das versucht aber immer wieder das Jobcenter. Sie erhalten nur die Trommel, in dem zum Beispiel das Jobcenter versucht, die Pflicht aufzuzwingen sich zu bewerben, am besten täglich, ohne die Kosten dafür übernehmen zu wollen. Also Pokerface aufsetzen und die Übernahme von Bewerbungskosten durch das Jobcenter verbindlich regeln.
Ich bleibe beim Pokerface. Das sollte bis zum Perfektionismus einstudiert werden. Lachen Sie ruhig darüber. Die Jobcenter können das nämlich ziemlich gut. Gerade dann, wenn sie mit der Sanktionskeule kommen, weil Sie die EGV nicht unterschreiben wollen. Fallen Sie nicht auf die Fürsorgeschiene rein. Und noch weniger auf die Zeitschiene. Jedes Jobcenter muss nämlich erst eine sogenannte Potenzialanalyse durchführen. Also, zunächst in einem persönlichen! Gespräch erfahren, wo Ihre beruflichen Stärken, Fähigkeiten und Eignungen liegen. Beharren Sie darauf. Und wenn dafür ein zweiter oder ein dritter Termin notwendig ist. Und nehmen Sie die EGV mit nach Hause. Überlegen Sie sich eigene Eingliederungsangebote, die in der EGV Platz einnehmen sollen. Eine Woche muss mindestens drin sein, um das zu überschlafen bzw. Rat einzuholen.
Sanktion abgewendet
Nun denken Sie vielleicht, die Frau hat gut reden. Wenn ich nicht sofort unterschreibe, bekomme ich womöglich kein Geld. Das Jobcenter ist nicht Gott – auch, wenn sie sich ab und an mit ihm verwechseln – und die EGV muss verhandelbar sein. Sie müssen also Gelegenheit haben, realistische eigene Vorschläge zu unterbreiten oder einen Alternativentwurf als Verhandlungsgrundlage vorzulegen. Rechtswidrige oder unzumutbare Eingliederungsvereinbarungen müssen nicht unterzeichnet werden und dürfen deswegen auch nicht sanktioniert werden. Sollte sich im Nachhinein herausstellen, dass z.B. die Anforderungen an Bewerbungen unerfüllbar sind, sollten Sie eine Änderung der EGV verlangen, um Sanktionen zu vermeiden. Das natürlich am besten schriftlich als Antrag.
Wenn Sie sich gar nicht einigen können, haben Sie auch die Möglichkeit, eine EGV per Verwaltungsakt abzuschließen. Und hier werde ich persönlich: Mein heimlicher Favorit. Hier unterschreibt nur das Jobcenter. Auch in diesem Fall müssen der Umfang und die Eigenbemühungen konkret an Ihren Fähigkeiten benannt werden. Alles andere wäre individueller Jobcenter Unfug.
Die Eingliederungsvereinbarung ist ein großes Thema. Der Ausschnitt in dieser Kolumne konnte jetzt nur einen kleinen Teil wiedergeben. Natürlich reicht ein Pokerface nicht aus. Deswegen bei Unklarheiten: Hilfe und Rat holen. Vor Ort bei „LINKE hilft“, bei Erwerbsloseninitiativen, Sozialverbänden oder Anwälten. Und zu zweit macht Scrabble spielen immer mehr Spaß!
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08.04.2021
Beschäftigung als soziale Kontrolle
„Wer zumutbare Arbeit ablehnt und wir werden die Zumutbarkeitskriterien verändern, der wird mit Sanktionen rechnen müssen“, das sagte niemand anderes als Gerhard Schröder (SPD), bevor 2003 die Agenda 2010 in Kraft trat. Inzwischen ist diese sogenannte „Aktivierungspolitik“ in aller Munde und besser bekannt als Hartz IV. Heute bleibe ich bei der Aktivierungspolitik. Was steckt dahinter? Wer hat’s erfunden?
Wer nun denkt, das ist auf dem Mist von Schröder gewachsen, irrt. Schröder hat nur fortgesetzt, was 1999 im „Schröder-Blair-Papier“ als sozialdemokratischer Aufbruch klingen sollte: Was tun mit den erwerbsfähigen Erwerbslosen? Und wie bringen wir diese möglichst schnell wieder in den ersten Arbeitsmarkt? Zwar verschwand das Papier schnell wieder in der Schublade, fand aber in der Hartz-IV-Gesetzgebung unter „Fördern und Fordern“ eine Wiederbelebung.
Hauptsache beschäftigt und betreut
Und bis heute ist man der Ansicht, dass Erwerbslose aktiviert werden müssen. Dann müssen die Betroffenen halt mal acht Stunden lang puzzeln, Autos zählen, herumsitzen, häkeln oder Plastikobst verkaufen. Koste es, was es wolle. Dass diese Kosten möglicherweise im Verhältnis zum Nutzen das nicht rechtfertigen, spielt dabei keine Rolle. Hauptsache beschäftigt und nicht zu vergessen: betreut. Wo kämen wir denn hin, wenn wir den Erwerbslosen ihre persönliche Freiheit lassen? Dass wir dabei Milliarden an Steuergeldern verprassen: egal. Hauptsache beschäftigt und betreut.
Überhaupt scheint es, dass Programme oder Arbeiten, die gefunden und durchaus kreativ kreiert werden, etwas Beliebiges haben. Ich möchte jetzt nicht sagen: schon fast überflüssig wirken. Schließlich möchte ich niemand auf die Füße treten. Die Programme sind auch nicht ganz überflüssig, da sie immerhin viele Arbeitsplätze für die Programmentwickler:innen schaffen. Nun mag ein/e Leser:in geneigt sein zu denken: sehr zynisch. Die Programme sind doch dafür da, um Erwerbslosen eine Chance auf dem Arbeitsmarkt zu schaffen. Richtig. Aber hat jemand schon mal die Erwerbslosen gefragt, ob diese Beschäftigungsmaßnahmen ernst genommen werden (können)? Ob sie nachhaltig in eine Tätigkeit geführt haben? Ob man eine Betreuung benötigt, möchte oder überhaupt verträgt?
Kein Verlust der sozialen Kontrolle
Natürlich kann eine Beschäftigung soziale Kontakte geben oder die Teilhabe stärken und damit die Selbstachtung – ja sogar einen Lebenssinn geben. Damit dies aber geschieht, muss auch die Tätigkeit selbst einen Sinn geben. Zumindest muss sie einem wichtig vorkommen. Man bricht nicht unbedingt eine Maßnahme ab, weil man sie nicht schafft, sondern weil man den Sinn nicht darin sieht. Selbiges bei einem Job. Ein häufiger Jobwechsel passiert eher, weil einem der Job nicht viel bedeutet. Für die Jobcenter ist es natürlich einfacher, wenn jemand in einer Maßnahme oder in einem Ein-Euro-Job ist. Dann ist er gut „verpackt“. Ich muss mich erstmal nicht um ihn kümmern. Aus den Augen, aus dem Sinn.
Damit ist der „Kunde“ gut lenkbar und kontrollierbar. Ein Aspekt, der wichtig ist, um die soziale Kontrolle nicht zu verlieren. Und bevor die Jobcenter die Kontrolle verlieren, halte ich es wie Schröder in seiner Regierungserklärung 2003: „der wird mit Sanktionen rechnen müssen“. Die Ursachen, nämliche mangelnde sinnstiftende Arbeitsplätze, Zeit für die Menschen und passgenaue Qualifizierungen werden mit Sanktionen bekämpft. Das ist die falsche Antwort auf die instabilen sozialen Verhältnisse. Wofür die Jobcenter gesellschaftlich und politisch nun aber auch nicht wirklich etwas können. Die unterwerfen und untergeben sich den Richtlinien, die ihnen vom Bundesarbeitsministerium hingeworfen werden.
Dass die Bundesagentur für Arbeit seit Jahren politisch neoliberal und hierarchisch geführt wird, macht es natürlich auch nicht einfacher. Allerdings funktionieren die Scheuklappen sehr gut, wenn es um Ideen oder Konzepte geht, das System „Hartz IV“ menschlicher zu gestalten. Gerade die Corona-Pandemie hätte die Chance geboten, hier guten Willen zu zeigen. Der war nicht da. Die richtige Antwort wäre eine sanktionsfreie und existenzsichernde Mindestsicherung in Höhe von 658 Euro und die Übernahme der tatsächlichen Wohnkosten.
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02.03.2021
Solidarität ist kein Schnäppchen vom Grabbeltisch!
Die Regierung beschloss Mitte Januar, dass in öffentlichen Verkehrsmitteln und im Einzelhandel verpflichtend FFP2-Masken – alternativ OP Masken – zu tragen sind. Das führte erneut zu Diskussionen, wie Leistungsberechtigte in den Grundsicherungen (Hartz IV, Grundsicherung SGB XII, Asylbewerberleistungsgesetz) diese bezahlen sollen. Bis dato, auch nach über einem Jahr Corona-Pandemie, wurden diese Gruppen schlichtweg ignoriert. Anträge für Corona-Zuschüsse oder einen zumindest zeitweiligen erhöhten Regelsatz durch DIE LINKE für diese Menschen wurden im Bundestag von der Großen Koalition in den Debatten mit fadenscheinigen Begründungen weggewischt. Plötzlich klingt es jedoch fürsorglich anders.
„Der Schutz vor Corona darf aber keine Frage des Geldbeutels sein, deshalb ist es richtig und notwendig, jetzt zügig einen Zuschuss für coronabedingte Belastung für Empfängerinnen und Empfänger von Grundsicherung in den verschiedenen Grundsicherungssystemen zur Verfügung zu stellen. Auch die Versorgung von Grundsicherung-Empfänger mit medizinischen Masken muss gesichert sein. Hierfür tragen Bund und Länder Verantwortung“, Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) am 22. Januar
Zehn Masken pro Person sollen reichen
Geschenkt: Einen Coupon für einmalig zehn Masken bekam nun jede:r, der sich in einer Art Grundsicherung befand. Dieser Coupon konnte dann ohne Zuzahlung in einer Apotheke eingelöst werden. Diese Hilfe ist schon so rar und einmalig, dass sich die Große Koalition dafür feierte, als hätte sie einen Olympiasieg errungen. Ganz anders sah es jedoch das Sozialgericht Karlsruhe in seinem neuesten Urteil (Az. S12 AS 213/21 ER) vom 12. Februar. Es entschied, dass das hiesige Jobcenter bis zum Sommeranfang „zusätzlich zum Hartz-IV-Regelsatz entweder als Sachleistung wöchentlich 20 FFP2-Masken verschicken oder als Geldleistung monatlich weitere 129 Euro“ zu zahlen habe.
Brisantes Urteil setzt Bundesregierung unter Druck
Die Begründung hat es in sich. Ohne Mund-Nasen-Bedeckung sei das Grundrecht auf soziale Teilhabe unverhältnismäßig beschränkt. Auf einfache OP-Masken müssten man sich nicht verweisen lassen, da sie für den Infektionsschutz vor Corona – auch angesichts der Virusvarianten – nicht genug geeignet seien. „Wer bei der Verrichtung alltäglicher Erledigungen trotzdem lediglich eine OP-Maske gebrauche und einen Mitmenschen mit dem lebensgefährlichen Virus anstecke, schädige eine andere Person an der Gesundheit und verstoße gegen das gesetzliche Verbot gefährlicher Körperverletzung“, so das Argument des Gerichts. Das sitzt. Auch wenn dieses Urteil nur für den Kläger rechtskräftig ist, hat es eine Signalwirkung und ist mit der Pressemitteilung des Sozialgerichts auch so gewollt.
Von Armut Betroffene im Ranking ganz hinten
Die Bundesregierung sollte nun das Urteil zum Anlass nehmen, um allen Leistungsberechtigten in den Grundsicherungen und nach dem Asylbewerberleistungsgesetz eine adäquate Summe für eine ausreichende Anzahl von Masken monatlich zur Verfügung zu stellen. Seit nun mehr als 15 Jahren müssen sich bundesweit Sozialgerichte bis hin zum Bundessozialgericht bemühen, Leistungsberechtigten zu ihrem Recht zu verhelfen. Die derzeitige Corona-Pandemie und das Bundessozialministerium, unter der Leitung von Hubertus Heil (SPD), offenbaren schonungslos, dass von Armut Betroffene im Ranking nicht nur ganz hinten stehen, sondern offen ignoriert werden. Da reichen auch die Trostpflästerchen von zehn FFP2-Masken und die 150 Euro Einmalzahlung nicht aus.
Solidarität und regierungspolitische Verantwortung ist keine Einbahnstraße oder ein Schlussverkauf, in dem einmalig Schnäppchen auf dem Grabbeltisch verteilt werden. Schließlich ist unser Sozialstaatsprinzip absolut und dauerhaft im Grundgesetz verankert. Das gilt und sollte auch gerade dann in Pandemiezeiten gelten. Im Sinne von Willy Brandt: „Wir wollen mehr Demokratie wagen“, würde es dem Bundesminister für Arbeit und Soziales gut zu Gesicht stehen, wenn er „mehr Soziales“ wagte.
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Inge Hannemann
ist eine bekannte Kritikerin des Hartz-IV-Systems. In ihrer Kolumne für „Links bewegt“ schreibt sie regelmäßig zu sozialpolitischen Themen.. Die ausgebildete Speditionskauffrau, Netzwerkadministratorin und Arbeitsvermittlerin war Mitglied der Jusos und saß für DIE LINKE im Hamburger Bürgerschaft.
Quelle: https://www.links-bewegt.de/ Bildbearbeitung: L.N.